„Die Frau des Verlierers“

Am Sonntagmorgen

Esto es lo verdadero, Goya

„Die Frau des Verlierers“
Eine Erinnerung an Ottilie Müntzer
30.10.2016 - 08:35
04.07.2016
Pfarrerin Angelika Obert

Über die Sendung

Mutig muss die Nonne Ottilie von Gersen gewesen sein, als sie 1523 ihr Kloster verließ, denn das galt auch in den Jahren der Reformation als schändlich. Noch mutiger war es von ihr, sich ausgerechnet mit Thomas Müntzer zu verbinden, dem Radikalsten der Reformatoren. Kurz war die Zeit, in der sie gemeinsam für eine gerechte Welt stritten. Nach Müntzers Hinrichtung im Jahr 1525 blieb Ottilie zurück als eine Ausgestoßene, deren Spuren sich im Elend verloren. Wie hat eine wie sie den refomatorischen Aufbruch erlebt?

 

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Martin Luther war nicht der Einzige, der sich im Jahr 1517 empörte, als der Dominikaner Johann Tetzel Ablassbriefe unter die Leute brachte, die gegen Geld Freispruch gewährten, nicht nur von Sünden, sondern auch von regelrechten Straftaten, nicht nur für die Lebenden, sondern auch für bereits Verstorbene. An vielen Orten ärgerten sich die Leute über die Geldschneiderei der Kirche. Überhaupt glaubte man nicht mehr daran, dass das eigene Seelenheil bei den Geistlichen in guten Händen war. Sie galten als korrupt und verkommen. So sah das auch der junge Priester Thomas Müntzer. Er hatte die deutschen Mystiker gelesen, von ihnen gelernt: Im Herzen muss der Glaube wurzeln und den ganzen Menschen verändern. In Braunschweig hatte er eine Gruppe von Bürgern und Handwerkern um sich versammelt, gemeinsam dachte man über eine Erneuerung des Christentums nach. Auch in Braunschweig kritisierte man die Ablasspraxis. Und dann gaben Luthers 95 Thesen das Signal zum Aufbruch. Bald machte sich Müntzer auf den Weg nach Wittenberg, um sich der Reformbewegung anzuschließen. Als belesener, sprachgewandter Weggefährte war er Luther höchst willkommen. Man schickte ihn nach Zwickau, wo er als Prediger bald großen Zulauf fand. Allerdings war es Müntzer mit der Erneuerung der Herzen sehr ernst. Er legte sich in Zwickau nicht nur mit den sogenannten Altgläubigen an, sondern auch mit seinem lutherischen Kollegen, den er untauglich fand: zu faul, zu schriftgelehrt, zu menschenfern. Streit unter Kollegen – das ist schlecht für die Refombewegung, befand man in Wittenberg und ließ es zu, dass Müntzer in Zwickau entlassen wurde. Der verstand: Die Wittenberger sind Diplomaten, sie meinen es nicht so ernst wie ich. Jetzt begann er, eine eigene Theologie zu entwickeln, in der der Heilige Geist eine größere Rolle spielte als die Heilige Schrift. Für ihn gab es nicht wie für Luther eine „Zwei-Reiche-Lehre“ – für ihn war die Erneuerung des Glaubens verbunden mit einer Erneuerung der Gesellschaft, mit Befreiung aus Knechtschaft und Armut.

 

Luther und Müntzer wurden erbitterte Feinde. Müntzer titulierte Luther als „Bruder Mastschwein“, Luther reagierte noch schärfer und erkannte in Müntzer den „Satan“, der das Werk der Reformation zerstören will. Schließlich empfahl er den zuständigen Fürsten, diesen Satan auszurotten, was dann 1525 nach der Schlacht von Frankenhausen auch geschah. Luther hatte gesiegt. Thomas Müntzer wurde zu einer unerfreulichen Nebenfigur in Luthers Reformationswerk. Man sah ihn mit den Augen der Wittenberger als verantwortungslosen Ketzer.

 

Aber wo immer sich revolutionärer Geist regte, erinnerte man sich auch wieder an Thomas Müntzer. Schließlich wurde er als ein früher Vorläufer sozialistischer Ideen auch in der DDR gefeiert. Dort erinnerte man sich dann auch der Frau, die zwei kurze Jahre lang an Müntzers Seite gestanden hatte: „Ottilie Müntzer“ – so hieß der Roman von Juliane Bobrowski, den ich kurz vor dem Fall der Mauer im Buchladen am Bahnhof Friedrichstraße entdeckte. Er war nicht leicht zu lesen – aber für mich eine Offenbarung: Was wusste ich als Westdeutsche schon vom Wirken des Seelsorgers Thomas Müntzer! Nichts wusste ich von der mutigen Frau an seiner Seite, die im Roman als Prototyp der emanzipierten Frau geschildert wird. Natürlich, das ist nicht historisch verbürgt. Aber das Wenige, was verbürgt ist, zeugt davon, dass sie eine tatkräftige Mitstreiterin an der Seite ihres Mannes war, eine von Vielen, die den reformatorischen Aufbruch mitgetragen haben.

 

Es hat etwas für sich, abends in ein sauberes Bett zu steigen, statt in einen Haufen fauliges Stroh sich zu wühlen. (...) Die Nonne lernte schreiben und lesen – ein Mädchen draußen nicht, ganz zu schweigen von Latein und Theologie und Literatur und Musik und Malerei und überhaupt. Hatten die Männer ihre Universitäten, so hatten wir wenigstens die Klöster. (S. 12f)

 

So spricht die Ottilie im Roman von Juliane Bobrowski. In der Tat – im frühen 16. Jahrhundert hatte der Eintritt in ein Kloster für ein aufgewecktes Mädchen viel für sich. Das Ordensgelübde versprach Bildung und Sicherheit. Durchaus möglich, dass Ottilie von Gersen, eine Tochter aus verarmtem Landadel, gern im Kloster gelebt hat. Bei ihrem Eintritt war sie vermutlich erst 14 Jahre alt. Aber warum ist sie dann fünf Jahre später weggelaufen? Es kann sein, dass sie da Thomas Müntzer bereits begegnet war. Der wirkte im Zisterstienserinnenkloster in Glaucha bei Halle eine Zeitlang als Kaplan und wird auch mit den Nonnen die Schriften der deutschen Mystiker gelesen und von einem erneuerten Christentum gepredigt haben. Aber auch in anderen Klöstern hatte es sich ja herumgesprochen, dass jenseits der Mauern ein großer Aufbruch stattfand, eine neue Frömmigkeit sich Bahn brach, die das Volk als gleich berechtigt ernst nahm. Eine junge Frau mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn konnte da leicht zu der Erkenntnis kommen: Ich bin hier im Kloster, wo ich von den Abgaben der Bauern lebe, auf der falschen Seite. Ich will mitmachen im Kampf für die neue Zeit. Ich will mich dem Leben da draußen aussetzen. Im Roman weiß Ottilie:

 

Wer sich nicht fragt nach sich selber, den fragt niemand. Wer sich nicht selbst öffnet, bleibt verschlossen und von den anderen vergessen. Wir sind nur dann nicht allein, wenn wir die Augen der anderen suchen. Wir müssen suchen gehen, sie kommen nicht zu uns. (S. 239)

 

So viel war klar: Einmal dem Kloster entlaufen, stand sie allein in der Welt. Ein Schandfleck für ihre Familie, verachtet von allen, die an der alten Ordnung festhielten. Ohne Geld und Besitz konnte sie nur darauf setzen, irgendwo als Dienstmagd unterzukommen – alles Weitere lag im Ungewissen. Sicher ist sie nicht mit Heiratsplänen nach Allstedt gekommen.

 

Die kleine Ackerbürgerstadt im Südharz war den neuen Ideen gegenüber aufgeschlossen. Gerade hatte man hier ohne Einwilligung des Kurfürsten Thomas Müntzer zum Seelsorger berufen. Es war seine erste feste Stelle nach unruhigen Jahren, in denen er nirgends hatte Fuß fassen können. Endlich hatte er einen Ort, wo er die Menschen in seinem Sinn zum Glauben führen konnte. Er sah sich als „Botenläufer Gottes“, war erfüllt von seiner Mission – an Familie dachte er zuallerletzt. Zwar hatte er nichts gegen die Priesterehe, fand sie aber sehr nebensächlich in dieser Zeit, in der es für ihn doch um nicht weniger ging als den Anbruch des Reiches Gottes.

 

Es spricht viel dafür, dass ihm die junge Ottilie sehr gefallen hat, sonst hätte er sich zum Heiraten kaum bewegen lassen. Sie muss genau die Frau gewesen sein, die er sich als Gefährtin vorstellen konnte – und er war der Mann, dessen Unbedingtheit sie teilte.

 

Sie heiraten kurz nach Ostern 1523 und haben in Allstedt ein einziges glückliches Jahr. Ein Jahr, in dem Müntzer an Aufruhr nicht denkt, sondern eher davor warnt. Ihm geht es jetzt um die Reform des Gottesdienstes. Er führt eine deutsche Liturgie ein, die er auch drucken lässt zum Missfallen Luthers, der die Gottesdienstreform gern allein in der Hand behalten hätte. Müntzers Gottesdienste werden schnell in der ganzen Region berühmt. Von weither machen sich Leute auf den Weg nach Allstedt. Die Gemeinde, die sich um ihn sammelt, versteht sich als „Gemeinde der Auserwählten“ – dazu auserwählt, für eine neue Ordnung einzutreten, in der auch die Fürsten sich dem Evangelium fügen müssen. Zunächst geht es darum ,den verarmten Bauern und Tagelöhnern mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Gut möglich, dass Ottilie an Müntzers Seite die Armenfürsorge und Frauenarbeit übernimmt, jedenfalls ist sie mittendrin im Geschehen. Im Frühjahr 1524 bekommt Müntzer dann Ärger, als seine Anhänger eine Wallfahrtskapelle abbrennen und sich der Allstedter Rat weigert, die Täter zu bestrafen. Müntzer will vermitteln, indem er seine berühmte „Fürstenpredigt“ hält, in der er versucht, den Landesherrn für seine Reformation zu gewinnen. Das ruft wiederum Luther auf den Plan. Er schreibt seinerseits an die Fürsten, um vor Müntzer zu warnen. Die Allstedter werden unter Druck gesetzt, Müntzer muss fliehen. Zurück lässt er Ottilie mit dem Säugling, der gerade 5 Monate alt ist. Und sie macht offenbar auch ohne ihn weiter – zusammen mit anderen Frauen und da geht es keineswegs nur ums Suppe kochen.

 

Frauen – ja, es waren auch Frauen unterwegs. (..) Junge Frauen gingen und fuhren sicher und selbstbewusst neben ihren Männern, und ich dachte daran, wie wir in Allstedt beieinander gestanden hatten. (...) Die Zeit selbst ist für uns, dachte ich, es geht durch die Leute wie ein Wind, wie die Luft, die sie atmen. Und ich war wie benommen von der Kraft dieser Bewegung, die, das spürte ich immer mehr, um uns zu kreisen begann. (S. 170)

 

Irgendwann muss sich Ottilie Müntzer auf die Reise gemacht haben – ihrem Mann entgegen nach Mühlhausen, wo endlich wieder eine Pfarrstelle auf ihn wartete. Unterwegs traf sie aufrührerische Frauen und Männer, an deren Aktionen sie teilnahm. Einmal war sie ein paar Tage in Haft, weil sie zusammen mit anderen Frauen den Gottesdienst eines altgläubigen Priors gestört hatte.

 

Inzwischen hatten sich in Süddeutschland die Bauern bereits zum Aufstand erhoben, Thomas Müntzer war ihnen auf seiner Flucht begegnet. So kam er nach Mühlhausen in der Überzeugung, jetzt sei die Zeit des bewaffneten Kampfes da – es sei Gottes Wille, die alte Ordnung abzuberufen.

 

Anfangs schien es, als erwarte die Familie Müntzer in Mühlhausen eine große Zukunft. Man stellte ihr ein prächtiges Haus zur Verfügung, Thomas Müntzer galt als das geistliche Oberhaupt im innerstädtischen Aufstand, der gerade in vollem Gange war. Den Mühlhausenern ging es um Unabhängigkeit und Mitspracherecht in ihrer Stadt, Müntzer um den Anbruch der neuen Ordnung Gottes. Als sich der Bauernaufstand Ende April bis nach Thüringen ausweitete, rief er seine Anhänger auf, sich an der Erhebung zu beteiligen. Und als ihn die Aufständischen um Hilfe baten, eilte er selbst nach Frankenhausen. Von ihrer Menge her hätten die Bauern eine Schlacht wohl gewinnen können, aber sie waren untereinander nicht einig. Am Morgen des 15. Mai versuchte Müntzer, sie in einem Gottesdienst auf das gemeinsame Ziel einzuschwören. Diese Gelegenheit nutzten die fürstlichen Truppen, um über die Bauern herzufallen. 6000 Aufständische wurden getötet, auf der Gegenseite gab es nur 6 Opfer.

 

Müntzer wurde gefangen genommen, gefoltert und enthauptet. In seinem letzten Bekenntnis verstand er seinen Tod als 'Sühnopfer“ und bat darum, seine Hinterlassenschaft, vor allem die Schriften und Bücher, seiner Frau auszuhändigen. Offenbar wusste er seinen geistigen Nachlass bei ihr in guten Händen. Aber sie bekam ihn nicht. Die Landsknechte fielen auch über sie her, die wieder schwanger war: Sie wurde vergewaltigt. Darüber empörte sich Luther dann doch, wie ihn Müntzers Ende überhaupt aufs Gewissen drückte. Aber gekümmert hat er sich nicht um Ottilies Weiterleben. Nur wenige Tage nach der Schlacht von Frankenhausen hat er dann ja selbst geheiratet – Katharina von Bora. Da war Ottilie schon Witwe.

 

Verloren hatte sie mit dem Mann auch ihre Hoffnung und ihre Ehre – und keinen Ort mehr, wo sie sicher leben konnte. Sie wurde unter Beobachtung gestellt, zog mit ihren beiden Kindern von Ort zu Ort, kam vielleicht bei Verwandten unter, vielleicht bei Gleichgesinnten. Ihre Spur verliert sich in Erfurt. Ob es wohl stimmt, was die Ottilie Müntzer im Roman von Juliane Bobrowsi sagt?

 

Meine Wahlmöglichkeiten hießen: Beichtstuhl oder Gebärstuhl, (..) Klosterbett oder Ehebett. Ja, Ottilie, und was wolltest du nun wirklich von den beiden?

Vielleicht was ganz anderes: Leben.

(...) Und ich habe doch gelebt, in den zwei Jahren mehr gesehen als Andere in fünzig sehen. Ich musste gehen, deshalb hab ich Glück gehabt. (S.28)

04.07.2016
Pfarrerin Angelika Obert