Die Mentalität der Anderen

Vögel im Sonnenuntergang

Gemeinfrei via unsplash.com (Barth Bailey)

Die Mentalität der Anderen
„Des Teufels General“ in einer pluralen Welt
22.04.2018 - 08:35
25.01.2018
Peter Oldenbruch
Über die Sendung:

Der Koblenzer Regierungspräsident Wilhelm Boden war Ende 1945 besorgt. Er hatte Angst vor der Durchsetzung der rheinischen Bevölkerung mit Bevölkerungsmassen aus dem Osten“, vor der „andersgearteten Mentalität“ der oft protestantischen Flüchtlinge. Der Rhein jedoch ist seit alters her eine große Völkermühle, die Kelter Europas! Viele verschiedene Menschen haben sich hier vermischt. Und genau das „ist natürlicher Adel. Das ist Rasse.“ Meint jedenfalls des Teufels General im gleichnamigen Theaterstück von Carl Zuckmayer. Die „Durchmischung“ tat Deutschland gut.

"Am Sonntagmorgen" um 08.35 Uhr im Deutschlandfunk

 
Sendung nachhören

 

Sendung nachlesen:

Er warnt vor einer Durchsetzung der Bevölkerung durch Massen von Flüchtlingen. Der Charakter des Landes würde durch den Zuzug stark verwässert. Die politischen Gefahren einer derartigen Durchsetzung lägen in der andersgearteten Mentalität der Flüchtlinge.

Ich habe das jetzt im Präsens formuliert. Aber diese Warnungen sind über 70 Jahre alt. Sie stammen aus einem Brief von Dezember 1945. Geschrieben hat diesen Brief Dr. Wilhelm Boden, damals Regierungspräsident in Koblenz. Wilhelm Boden wurde später der erste Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz.

Im Dezember 1945 waren Millionen Deutsche nach Westdeutschland geflohen. Oder sie wurden vertrieben. Diese Flüchtlinge mussten im Westen auf die Regionen verteilt werden. Mit offenen Armen wurden die Habenichtse aus Schlesien oder Ostpreußen nirgendwo empfangen. Als zuständiger deutscher Politiker schreibt Wilhelm Boden an Oberstleutnant Balade, den Kommandanten der französischen Militärregierung.

 

 „Da mit einem größeren und ungeregelten Andrang solcher Flüchtlinge zu rechnen ist, möchte ich nicht verfehlen, auf die ernsten Gefahren hinzuweisen, die die Durchsetzung der rheinischen Bevölkerung mit Bevölkerungsmassen aus dem Osten mit sich bringt. Abgesehen von den wirtschaftlichen und ernährungspolitischen Schwierigkeiten sind es das konfessionelle und das politische Moment, die zur Sorge Anlass geben. In konfessioneller Beziehung würde der katholische Charakter des Rheinlandes durch den Zuzug der meist protestantischen Ostdeutschen stark verwässert werden…“

 

Boden geht es um seine Heimat, um seine katholische Heimat. Die soll so bleiben, wie sie ist. Und Boden schreibt weiter:

 

 „Die politischen Gefahren einer derartigen Durchsetzung liegen in der andersgearteten Mentalität der Ostbevölkerung begründet.“

 

Auch wenn das für heutige Ohren anders klingen mag: Wilhelm Boden war ein konservativer Demokrat, ein Erzdemokrat, ein frommer Katholik und alles andere als ein Nazi. 1933 wurde er von den Nationalsozialisten all seiner Ämter enthoben und für sieben Monate inhaftiert. Er hat in seinem Brief an die Militärregierung die Ängste der besorgten Bürger formuliert, der alteingesessenen Bevölkerung. Und natürlich: seine eigenen Ängste. Vor wirtschaftlichen und ernährungspolitischen Schwierigkeiten, vor höherer Arbeitslosigkeit, vor Lebensmittelmangel. Das war damals in ganz Deutschland ein Problem.

Doch schwingt noch eine ganz andere Angst mit: die „Angst vor Durchsetzung“, wie Boden das nannte. Die Angst davor, dass eine weitgehend homogene Bevölkerung aufgemischt wird. Durch andere, durch Fremde, die anders glauben, anders ticken, anders Gottesdienst feiern. Einheitlichkeit wollte Boden bewahren. Eine Gesellschaft von Menschen gleicher Herkunft, die ähnlich glauben und sonntags zur gleichen Messe gehen.

 

 

Ein Jahr später – im Dezember 1946 – wird „Des Teufels General“ uraufgeführt. Autor: Carl Zuckmayer. „Des Teufels General“ war sein größter Erfolg in der Nachkriegszeit, wie Wilhelm Boden stammte auch Carl Zuckmayer vom Rhein. Aus Nackenheim, keine 100 km südlich von Koblenz.

In Zuckmayers Theaterstück hält des Teufels General – sturzbetrunken! - eine berühmte Rede. Es ist die Rede von der Völkermühle am Rhein. Vorher sagte Harras einmal:

 

„Ich aber sage Ihnen, das Leben ist schön. Die Welt ist wunderbar. Wir Menschen tun sehr viel, um sie zu versauen, und wir haben einen gewissen Erfolg damit. Aber wir kommen nicht auf – gegen das ursprüngliche Konzept.“ (1)

 

Woher dieses ursprüngliche Konzept stamme, das wisse er nicht. Er sei schließlich kein Denker, bloß Zeitgenosse und Soldat. Aber dass das Konzept gut sei und richtig, das wisse er.

 

„Und der Sinn heißt – nicht: Macht.

Nicht: Glück.

Nicht: Sättigung.

Sondern: die Schönheit.“

 

Von daher denkt der General. Später begegnet Harras einem Offizier, ebenfalls vom Rhein. Dessen Stammbaum ist nicht arisch. Und der macht sich deshalb Sorgen. U.a. um seine Karriere in Nazi-Deutschland. Harras antwortet:

 

„Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor – seit Christi Geburt.

Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl,

braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht.

Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie,

das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden

und hat die katholische Haustradition begründet.

Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär,

ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter,

ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer,

ein wandernder Müllerbursch vom Elsass,

ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur,

ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler,

ein böhmischer Musikant

- das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen

und gesungen und Kinder gezeugt

- und – und der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Beethoven

und der Gutenberg und der Matthias Grünewald.

Es waren die Besten, mein Lieber!

Die Besten der Welt! Und warum?

Weil sich die Völker dort vermischt haben.

Vermischt – wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen,

damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusammenrinnen.

Vom Rhein – das heißt: vom Abendland.

Das ist natürlicher Adel.

Das ist Rasse.

Seien Sie stolz darauf, Hartmann

- und hängen Sie die Papiere Ihrer Großmutter in den Abtritt. Prost.“

 

 

Der christlichen Gemeinschaft ist dieser natürliche Adel der Vermischung sozusagen eingeschrieben. Kirche – das sind Menschen, die an Jesus Christus glauben, ganz gleich, wo sie herkommen.

 

Christus „ist gekommen und hat im Evangelium Frieden verkündigt  euch, die ihr fern wart, und Frieden denen, die nahe waren. Denn durch ihn haben wir alle beide in einem Geist den Zugang zum Vater. So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge,  sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.“ (2)

 

Das ist das Programm des Paulus. Er selbst war zunächst ein Auslandsjude. Geboren in der heutigen Türkei, dort, wo Kleinasien und Syrien zusammenkommen. Geschrieben hat er auf Griechisch. Später wurde er in Jerusalem zum Rabbiner ausgebildet. Er sprach also auch Hebräisch. Und natürlich kann Paulus auch Latein. Von frühester Jugend konnte er sich in verschieden Kulturen bewegen. Zwischen griechischen, römischen und jüdischen Milieus konnte er switchen. Seine eigenen Glaubensgenossen zum Glauben an den Messias Jesus zu bewegen - damit ist er weitgehend gescheitert. Die Nicht-Juden, die „Heiden“, die Menschen aus den vielen Völkern – sie konnte er gewinnen. Sie konnten Christen werden – ohne sich an die jüdischen Gesetze zu halten. Ohne diese Mission des Paulus gäbe es uns europäische Christen nicht! Die Gemeinden, denen er damals schrieb, lebten in den multikulturellen Metropolen seiner Zeit: Korinth, Ephesus oder Rom.

Die Mehrzahl der ersten Christen in den Hafenstädten rund ums östliche Mittelmeer waren Zugezogene. Also Händler, Zugezogene, Seeleute, Sklavinnen und entlassene Sklaven.

 

 „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.“ …

 

Diese Fremden in Ephesus, Korinth oder Rom werden nun nicht zu Einheimischen. Es geht nun nicht darum, dass die Fremden nun genau so werden wie die Einheimischen. Ihre Fremdheit müssen sie nicht ablegen. Sie erhalten Wohn- und Bleiberecht als die Menschen, die sie sind.

 

„Da ist nicht mehr Grieche, Jude, Beschnittener, Unbeschnittener, Nichtgrieche, Skythe, Sklave, Freier, sondern alles und in allen Christus.“ (3)

 

Diese Wohnung mit Bleiberecht ist „Christus“. An der Haustür steht sozusagen ein bestimmtes Namensschild: Christus. Er ist der Grundstein. Er, der von sich sagte: „Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen“, er, dem ein Afrikaner sein Kreuz trug. In der christlichen Kirche ist es gleichgültig, woher jemand kommt. Ob er Grieche ist oder Jude, es spielt keine Rolle! Entscheidend ist etwas ganz anderes, nichts Nationales: Christus.

Deshalb: Es gibt Christen in Deutschland, aber keine deutschen Christen.

 

 

Ich war als junger Mann viele Jahre lang evangelischer Pfarrer am Rhein, zwischen Koblenz und Nackenheim. Die Protestanten dort waren weitgehend Nachkommen von Flüchtlingen. Diese „Durchsetzung“ der einheimischen Bevölkerung mit „Bevölkerungsmassen aus dem Osten“ hat diesem Dorf gutgetan. Wie der ganzen Bundesrepublik! In vielerlei Hinsicht. Ich will nur eine nennen: In unseren modernen Gesellschaften gibt es Wahrheit nur noch im Plural. Religion, Lebensweise, Mentalität, Weltverhältnis nur noch im Plural. Es gibt nicht nur eine Art zu leben, zu fühlen, zu glauben, zu essen oder zu dichten, sondern viele verschiedene. Und das ist gut so. Im Rückblick ist die Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen nach 1945 eine Erfolgsgeschichte. Und ich kann mich daran erinnern, dass es noch Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre, viele Reibungen und Konflikte gab und dass es lange gebraucht hat, bis nicht mehr unterschieden wurde zwischen Flüchtlingen und Einheimischen. Das ist jetzt gut 60 Jahre her.

 

Wie Deutschland in 60 Jahren aussehen wird? Da werden die meisten von uns nicht mehr leben. Ich stell‘ mir vor, da werden die Menschen den Kopf schütteln. Wie konnte man den Migranten damals, also heute, so viele Steine in den Weg legen! Und ihnen das Leben so schwer machen! In 60 Jahren werden Deutsche mit afghanischen Wurzeln Richter sein. Und Deutsche mit eritreischen Vorfahren Politiker oder Lehrerinnen! Und ein Mensch mit iranischen Wurzeln Bundespräsidentin. Ganz selbstverständlich. Diese Entwicklung ist bereits im Gang.

Linda Zervakis oder Ingo Zamperoni sprechen die Nachrichten im Fernsehen. Omid Nouripour ist außenpolitischer Sprecher der Grünen. Tarek Al-Wazir ist Wirtschaftsminister in Hessen. Navid Kermani war im Gespräch als Nachfolger von Gauck. Es gibt keine homogene deutsche Gesellschaft, nur eine plurale. Aber machen wir uns nichts vor: Der Weg dorthin wird kein Spaziergang: in pluralen Gesellschaften mit vielen unterschiedlichen kulturellen, sozialen und religiösen Mustern muss man Normen und Werte aushandeln. Man muss streiten. Darüber, wohin es gehen soll. Und Konflikte aushalten. Das ist anstrengend. Aber das ist Demokratie. So gesehen brauchten wir eine Haltung,  nach der alle im Integrationskurs sitzen.

 

Dr. Wilhelm Boden übrigens musste 1947 als Ministerpräsident zurücktreten. Sein Brief an die französische Militärregierung wurde publik       und damit war er als Ministerpräsident des mit Bevölkerungsmassen aus dem Osten durchsetzten Bundeslandes Rheinland-Pfalz nicht mehr haltbar. Seine christliche Partei wollte auch von den Protestanten gewählt werden.

 

Die Welt ist wunderbar, meinte des Teufels General, Wir Menschen täten jedoch sehr viel, um sie zu versauen. Aber wir kommen nicht auf – gegen das ursprüngliche Konzept.

 

Und das lautet so:

„Der Sinn heißt – nicht: Macht.

Nicht: Glück.

Nicht: Sättigung.

Sondern: die Schönheit.“

 

Ich ergänze – auch die des Glaubens.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Literaturangaben:

(1) Carl Zuckmayer, Des Teufels General, Frankfurt am Main 1966, S. 68

(2) Eph 2

(3) Kol 3, 9-11

 

25.01.2018
Peter Oldenbruch