Feste Burg, offene Tore

Am Sonntagmorgen
Feste Burg, offene Tore
Über Reformationen, Ängste und Aufbrüche
29.01.2017 - 08:35
29.01.2017
Pfarrerin Mechthild Werner

Über die Sendung

Das Jahr 2017 nimmt Anlauf, das Reformationsjubiläum ist im Gange. 500 Jahre nach Luthers Thesen „luttert“ es allüberall, nicht nur auf der Wartburg. Reformationen allenthalben. Umbrüche, Unruhen, Anschläge, Flüchtlinge... Das Land scheint sich täglich zu wandeln. Die Welt erscheint manchem beängstigend verrückt. Wer besingt da mit Luther ein feste Burg, wer baut auf Zuversicht, wer mauert sich ein? „Es werden noch viele Völker kommen“, verheißt der Prophet Sacharja hoffnungsvoll. Wer und was kommt auf uns zu im beginnenden Jahr? Kleine Mutmachblicke in die verrückte Welt Gottes.

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Nun ist es beinahe schon einen Monat alt, das Neue Jahr. Das lang erwartete, genauer zehn Jahre lang vorbereitete Jubiläumsjahr. Schon ein wenig verrückt das alles. 500 Jahre Reformation. Unzählige laufende Veranstaltungen – in aller Welt und erst recht bei uns, in Luthers Heimatland.

 

Wer hätte das gedacht, am wenigsten wahrscheinlich Martin Luther selbst. Schon gar nicht damals, 1517, als er seine Thesen in Wittenberg anschlägt, oder als er später, vogelfrei und flüchtend, auf der Wartburg die Bibel ins Deutsche übersetzt. Vor kurzem stand ich dort, hoch über Eisenach. Auf der festen Burg...

 

 

Wartburg. Hohe Mauern, Blick übers Land, Lutherland. Oh ja. Es luttert. Luthersocken, Lutherbier, Katharina-Tomaten, Katharina-Torten. Alle wollen etwas abhaben vom Lutherkuchen. Luther „läuft“, könnte man sagen, ja es gibt sogar eine „Luther to go-App“. Die führt natürlich auch auf die Burg.

 

Ein feste Burg, die Wartburg. Ein Blick ins Land voller Lutherstätten, den meisten Kirchen und den wenigsten Christen in Deutschland. Aber nun reisen sie an, Bürgerinnen und Bürger aller Städte und Länder. Die „Lutherpilgerstätten“ sind überlaufen.

 

Es wird ein verrücktes Jahr. Rund um den, der weder Heiliger war noch sein wollte. Ein feste Burg ist unser Gott. Darum ging es ihm. Frei sein von Angst. Feste hoffen, lieben, glauben können. „Allein der Glaube“. Allein das Evangelium Christi. Die Gute Nachricht. Trotz aller schlechten.

 

 

Die Welt is verrickt worre“, höre ich dieser Tage im Zug. Wie man hört, in der Pfalz. „Verrickt“. Verrückt. Wen wundert´s. Kriege, Attentate, Terror. Nun hat er auch Deutschland mitten ins Herz getroffen – ausgerechnet zu Weihnachten. Die Engel rufen „fürchtet euch nicht“, aber sie haben es nicht leicht, gehört zu werden.

 

Die Welt scheint verrückt. Und beängstigend. „Wir fühlen Angst, doch die Angst hat uns nicht“, sagte Bundespräsident Gauck zum Neujahrsbeginn. Und in der Tat. Die meisten Deutschen reagierten trotz mancher Angstmacher nicht panisch. Viele waren berührt und bestürzt. Berlin trauerte. Auch im Gottesdienst aller Religionen.

 

„Unseren Hass bekommt ihr nicht“, stand zu lesen am Breitscheidplatz. Beeindruckend. Und im guten Sinne ein wenig ver-rückt. Feste hoffen, lieben, glauben können. Trotz alledem. Das ist die gute Nachricht über allen schlechten.

 

Doch die Stimmung bleibt angespannt. Was wird die nächsten Monate auf uns zukommen,... „Alles werd anerscht. Nix is mehr wie frieher... Und jetzt kummen die all noch zu uns. Annere bauen Maure, mir machen die Grenze uff.“ So Volkes Stimme.

 

Es werden noch viele Völker kommen und die Bürger einer Stadt werden zur andern gehen... So prophezeit es einst der Prophet Sacharja, passend zu diesem Jahr, in dem weitere Völkerwanderungen erwartet werden. Was für manchen heute beängstigend sein mag, schien dem Propheten indes beglückend. Nicht, weil seine Welt weniger verrückt gewesen wäre.

 

Rund ein halbes Jahrhundert vor Christus. Der Tempel geschleift, die Tore Jerusalems zerstört, das Volk ins Exil vertrieben. Flüchtlinge, Gottverlassen. Aber nun kehren sie zurück. Mit Gott und zu ihrem Gott Zebaoth. Und mit ihnen die vielen Völker. So die Vision des Propheten damals. Und heute: „Die kummen all zu uns, des is doch nett gerecht, do muss mehr doch was mache...“

 

Das ist, was ihr tun sollt: richtet recht, schafft Frieden in euren Toren. So heißt es weiter im Buch des Propheten. In den Toren der Stadtmauern Jerusalems wird „Recht gesprochen“. In Gottes Namen Gerechtigkeit und Frieden schaffen. Immer wieder diese biblische Vision. Doch was ist gerecht? „Wie viele misse mir noch nemme?“

 

„Wir schaffen das.“ Oder auch nicht. Aber ist das überhaupt die Frage, wenn Schwester oder Bruder vor der Tür stehen? Auch wenn es nicht der Lieblingsbruder ist, so wie Flüchtlinge weder gleich

 Terroristen noch Lieblingsmenschen sind. Aber wenn da einer unserer „geringsten Brüder“, steht, also Christus selbst? Mauern errichten oder die Tore öffnen? Martin Luther bekam Asyl auf der Wartburg.

 

„Wir schaffen das.“ Und warum auch nicht? Wir schaffen es, Waffen zu liefern, auch in Krisenstaaten, ich schaffe es, Kinder in Bangladesh für meine Billigklamotten arbeiten zu lassen, Regenwald zu roden, Futterfläche für die Rinder, die auf meinem Teller landen. Die Ärmsten decken mir den Tisch. All das ist bekannt – globale Vernetzung und Verantwortung – man kann es kaum mehr hören. Armutsflüchtlinge, Klimaflüchtlinge, sie waren längst prophezeit. Ich, Du, wir schaffen sie mit, diese Welt. Im Bösen wie im Guten.

 

 

„Es werden viele kommen... und sagen: lasst uns gehen.“ Wie Melek aus Aleppo, Syrien:

Melek ist 19 Jahre alt, ihre Augen so schwarz wie das, was sie sah. „Sie wollten töten, ich muss nach Ägypten, meine Heimat verlassen. Ohne alles“. In Kairo lernt sie Bassem kennen und lieben, das Leben riecht wieder orange und süß wie die Gewürze im Bazar. Doch „ich ohne Papiere, Bassem ohne Arbeit“, erzählt sie. „Sein Vater 3.000 Dollar. Alles für die Schmuggler.“ Europa, ersehnter Kontinent. Freiheit. Grenzenlos. Ohne Angst.

 

Das Fischerboot überfüllt. Nach drei Tagen auf grauer See ahnt sie „wir ertrinken“. Innerhalb von Minuten kentert das Boot. Leichen treiben an ihr vorbei. Bassem ist verschwunden. Melek auf Trümmerplanken im Rettungsring. „Ich stumm und geschrien, gebetet, alle gebetet.“ Eine Frau wirft ihr sterbend ein Bündel zu. „Masa“, mein Mädchen. Am vierten Tag dann grelles Licht.

 

Suchscheinwerfer. Melek schreit sich die Seele aus dem Leib, die kleine Masa im Arm. Sie haben Glück. „Jetzt, bald lange bin ich hier.“ Strahlt sie, ihre Augen so glänzend wie die ihrer Tochter aus dem Meer: „Masa. Sie kann bald Deutsch“. Gute Leute, meint sie, helfen ihr hier im Land und in der Kirchengemeinde in der Pfalz, „viele mit Jesus. Jeden Tag ich danke und bete. I am free now.“ Frei sein. Zu leben, zu glauben wie man mag. Für mich selbstverständlich. Nicht aber für sie.

 

Melek. Eine von einer Million Flüchtlingen, die in etwa einem Jahr ankamen. Von 60 Millionen Menschen auf der Flucht weltweit. Viele, wenige? Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen 12 Millionen in ein zerstörtes Deutschland. Drei Millionen Gastarbeiter in den 1970er Jahren. Über drei Millionen nach Perestroika, Mauerfall und Wiederaufbau. Und heute? Leben wir in einem der reichsten Länder der Erde.

 

 

„Es werden viele kommen...und sagen: lasst uns gehen.“

Wie Martin aus Lutherland Sachsen:

Nussbäume am Pfarrhaus mit den Sandsteinmauern. Wie aus der alten Zeit und Welt. Aber die neue hat längst Einzug gehalten. Wo einst die Pfarrerskinder lebten, wohnen heute Flüchtlinge aus dem Irak. Während die Stammtischler in der Kneipe mit jedem Bier lauter werden „das wär mit der Mauer nüscht passiert, vier sind schon hier!“ – geht Martin mit den Vieren raus auf die Streuobstwiesen. Äpfel auflesen. Sie riechen an den rotgelben Früchten, nicken einander zu, verstehen wortlos.

 

Doch langsam sprechen sie ein wenig Deutsch. Martin lernt mit ihnen. „Ja, ich heiße nach Martin Luther“, erzählt er, „das hat mir zu DDR-Zeiten wenig Freude gemacht.“ Am Wochenende büffelt der pensionierte Pfarrer nun mit den Flüchtlingen. „Ich kann kein Englisch, aber wir gewöhnen uns. Einer hier ist Bäcker und Ali Mathelehrer.“ Woher er das weiß, bleibt sein Geheimnis.

 

Wobei, ein paar Brocken Arabisch kann Martin schon. Und hat gelernt: „Die kochen einen Mokka, da steht der Löffel drin“. Beim Kaffee neulich musste er das Wort „Heimweh“ erklären. „Zeig mal dein Handy, zeig mir Fotos von deiner Familie, hab ich gesagt zu Ali. Er hat schnell verstanden, mir seine Familie gezeigt und mich umarmt, mit Tränen im Bart.“

Die Tore stehen offen im Haus mit den roten Backsteinmauern. „Schaffen wir das?“, ist für Martin keine Frage. „Ich frage mich eher, wie schaffen die das?“ Ali, er mag zurück in die Heimat. Bald. Wie so viele. „Diese jungen Männer so gut es geht, aufnehmen, gut ausbilden, damit sie ihr eigenes Land wieder aufbauen können, das wäre nur gerecht...“

Sagt Martin. Einer von den vielen Tausenden, die Flüchtlinge aus aller Welt unterstützen. Ebenso wie Ärzte ohne Grenzen, Reporter ohne Grenzen. Menschen, Christenmenschen die Tore öffnen. Die wissen, sie können und müssen nicht die Welt retten, denn das hat ihr Gott bereits getan. Menschen, die darum frei sind für andere und sich nicht kleinmütig und ängstlich einmauern...

 

 

„Es werden viele kommen... richtet recht, schafft Frieden in euren Toren“

Ja, bei Gott, es ist eine manchmal ver-rückte Welt. Umbrüche, Reformationen allenthalben. „Reformiert euch“, heißt ein Buch der Autorin Ayaan Hirsi Ali. Sie fordert darin einen aufgeklärten Islam, der den Koran ins Heute übersetzt. Eine türkische Schwester Luthers sozusagen. Ausgerechnet Luthers, der seinerzeit Türken und Juden und erst recht den Papst zu Antichristen verdammt hat. Reformationen an vielen Ecken der Welt. „Nix is mehr wie frieher“

 

Es gilt, über die Mauern zu sehen. Nicht nur die schlechten Nachrichten zu hören sondern auch die guten, die Gute sogar. Auch unterhalb der Wartburg, in Thüringen tut sich da einiges. Der erste linke Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes. Seit zwei Jahren im Amt. Das christliche Abendland ging mit ihm nicht unter. Vielmehr erklärt er jenen, die das grölen, gern mal die Grundlagen. Ein Linker, bekennender Protestant, der Papst Franziskus die Lutherbibel überreichte mit den Worten „die hat ein katholischer Bruder für Sie übersetzt.“

 

Papst Franzikus wiederum, der zum Auftakt des Reformationsjahres mit Lutheranern im schwedischen Lund betet – gelebte Ökumene. Südkoreaner, die bei Ostdeutschen nachfragen: „Wie war das mit dem Mauerfall?“ Christen der „Yoido full Gospel Church“ in Seoul, der größten Gemeinde der Welt mit einer Million Mitgliedern. Aber das Schönste ist: Die Reformierten dort reden offen – wiewohl bei Strafe verboten – von Wiedervereinigung mit Nordkorea. Sie arbeiten und beten für Versöhnung mit dem Feind. Sie tun das mit dem Mut und der „Freiheit eines Christenmenschen“, wie Luther sie entdeckt hat.

 

Nur einige Blicke in diese Welt, in der über 800 Millionen Menschen ihren Glauben mit der Reformation verbinden. Und mit dem Bekenntnis: Ein feste Burg ist unser Gott. Wer davon ein Lied singen kann, wird frei von Angst. Wer Christus in der Mitte weiß, kann Tore öffnen. „Völker werden kommen...“

 

Hunderttausende werden in Wittenberg zur Weltausstellung durch sieben „Tore der Freiheit“ gehen. Christen, Juden, Muslime, Buddhisten, Atheisten, Sinnsuchende. Sie werden fragen, hören, sehen, wohin es geht mit dieser Welt. Sich auf die Socken machen, manche gar auf die Luthersocken. Denn es geht nur miteinander. Mit Menschen aller Religionen und Kulturen. „Alles werd annerscht.“ Ja. Aber eins ist gewiss: Gott schafft das, mit unserer Hilfe.

29.01.2017
Pfarrerin Mechthild Werner