Erentrudisalpe

Morgenandacht
Erentrudisalpe
Jenseits von Emmaus
04.10.2017 - 06:35
21.09.2017
Pastor Oliver Vorwald

Ich stehe in einem Meer aus hellen Kieseln. Das Gasthaus mit Biergarten liegt direkt an der Salzach. „Überfuhr-Wirt“ steht auf dem Torbogen. Gegenüber leuchten Untersberg und Salzburger Hochthron. Über die Tische und Stühle spannen Kastanien ihre Äste. Im Schatten der Bäume sitzen junge Leute in Tracht, plaudern, halten Notenblätter in der Hand. Ich trage kariertes Hemd, Baumwollshorts, Bergstiefel. Ein großer, schlanker Mann kommt auf mich zu, Heinrich. Heinrich gehört auch zur Hochzeitsgesellschaft. Wir haben uns am Abend davor verabredet, gemeinsam zu wandern. Gut zwei Stunden soll der Aufstieg zur Erentrudisalm dauern. Ich prüfe mein Gepäck. Anzug, Talar, Traubüchlein – alles da. Als wir losgehen, schwirrt es unter dem Blätterdach. Die jungen Leute singen.

 

 

 

Kemmt’s lei eina in die Stubn. Ein Volkslied aus Österreich. Es geht um die Kraft der Lieder, wie sie das Schwere leicht werden lassen. Heinrich holt sein Handy hervor, lädt die Karte und nickt mir aufmunternd zu. Unser Weg ist mit einer rot-weißen Markierung ausgeschlagen. Alle 500 Meter zwei Pinselstriche. An Scheunen, über Felsbrocken, auf Weidepfählen. Heinrich ist ein geübter Wanderer. Schon nach wenigen Minuten liegt das Dorf hinter uns. Zunächst gehen wir schweigend nebeneinander her. Durch das Gras laufen sanfte Wellen. Darauf summt und singt es. Und dann beginnt unser Kennenlernen. Wir reden über die Familien, den Beruf, Träume. Wie das eben so ist, wenn zwei alleine miteinander unterwegs sind. Heinrich hat Kinder. Einen Jungen, zwölf Jahre alt. Und eine Tochter, sieben. Er spricht vor allem von ihr. Zeigt mir Fotos. Blonde lange Haare, himmelblaue Augen. „Ein Wunder, dass sie lebt“, sagt er. „Während der Schwangerschaft gibt es Komplikationen. Das Mädchen kommt behindert auf die Welt. Kann nicht alleine laufen oder sitzen, Worte zu formen, das fällt ihr schwer.“ Heinrichs Sätze klingen weich, beinahe gesungen. Das liegt wohl an seiner süddeutschen Heimat. Heidelberg.

 

Neben dem Pfad taucht ein Wegweiser auf. Gelber Pfeil, darauf Ortsnamen: Wasserfall, Trockene Klammen, Erentrudisalm. Heinrich tippt auf sein Handy, behutsam ziehen Daumen und Zeigefinger das Satellitenbild auseinander. Wald, Wiesen, Wege werden sichtbar. Dann schaut er sich um, nickt in Richtung der Weißdornbüsche, hinter denen läuft der Wanderweg weiter bergauf. Meine Gedanken kreisen um Heinrichs Tochter. Sie wird ihr ganzes Leben lang Hilfe brauchen. Beim Essen, Arbeiten, Älterwerden. Aber Heinrich gerät kein einziges Mal ins Stocken, er ringt auch nicht nach Worten, alles fließt. Er spricht mit einer Leichtigkeit, die meinen Bildern alle Schwere nimmt. Hin und wieder geht er mit der Tochter Wandern. Rauf in die Berge. Sie auf seinem Rücken in einem besonderen Rucksack. „Dann lacht sie“, erzählt Heinrich. „Ich hätte nach der Geburt nicht für möglich gehalten, wie sehr mich das Leben mit meiner behinderten Tochter erfüllt.“ Heinrich strahlt. Jetzt noch mehr. Dann schweigen wir wieder. Rechts und links vom Weg Apfelbäume, Heuschober, äsende Kühe. Schließlich steigt vor uns ein sanfter Hügel an. Darauf ein hölzerner Glockenstuhl, dahinter breiten ein paar Linden ihre Arme aus. Die Erentrudisalm. Ich lasse den Blick hinab schweifen. Weit unten im Tal leuchten die Salzach, Salzburg. Abendläuten.

 

 

 

Wir bleiben am Glockenstuhl stehen. Dahinter liegt der Berghof aus hellem Bruchstein. Im linken Flügel die Hauskapelle. Dort soll später die Trauung stattfinden. Heinrich schiebt die Ärmel hoch, streicht mit einem Tuch über die Stirn. Wir nehmen uns in die Arme, klopfen einander auf die Schultern. „Das war wie ein Gottesdienst“, sagt Heinrich. Er hat recht. Diese beiden Stunden haben uns miteinander verbunden. Und mir ist, als wären wir zwei gar nicht alleine unterwegs gewesen. Da ist einer mit uns gegangen, unsichtbar, der hat das Schwere leicht werden lassen. Jetzt kann es Abend werden.

 

 

Kemmt's lei eina in die Stubn

1. Kemmt's lei eina in die Stubn,

Kömmts lei eina ins Haus!

Wann ma mitananda singen,

Gehn die Liadlan nit aus.

 

2. Ruckts lei zuuba, ruckts lei zuaba,

Stellts das Sorgensackle hin!

Seind vielleicht in etla Stundn

Lauter liabe Liadlan drin.

 

3. Lei nit mockn, lei nit klagn,

Lei frisch auf zur guatn Saat!

Laßt si alls viel leichter tragen,

Wann das Herz a Hoamgehn hat.  (1)

 

 

Literaturangaben:

(1) Anton Schmid, Kommt zum Singen: Südtiroler, 2004 HR179

21.09.2017
Pastor Oliver Vorwald