Erinnern im Vergessen

Morgenandacht
Erinnern im Vergessen
24.03.2018 - 06:35
01.03.2018
Pfarrer Jost Mazuch
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Nie habe ich Frau D. so glücklich gesehen wie an Weiberfastnacht beim Tanzen. Sie macht feste, energische Schritte, schwingt im Rhythmus der Klänge hin und her, dass ihre Tanzpartnerin ordentlich außer Puste kommt. Wo sie doch sonst immer so vorsichtig und unsicher geht. Sie wirkt um Jahre verjüngt. Und sie strahlt, strahlt alle anderen an, ihre Augen blitzen. Auch die anderen Frauen und die wenigen Männer beim Seniorentreff merken es und lachen anerkennend zurück.

Sie kennen Frau D. schon lange. Sie haben mitbekommen, wie sie sich verändert hat. Erst war sie immer stiller geworden. Dann kam die Unruhe. Immer früher stand sie auf, wollte nach Hause gehen. Wenn sie mehrmals im Lauf des Nachmittags dieselbe Frage stellte, sagten die Tischnachbarinnen anfangs noch: Das hast du doch gerade schon gefragt! Später schüttelten sie nur noch resigniert die Köpfe und guckten sich vielsagend an. Da war es längst nicht mehr zu übersehen: Frau D. hat Demenz. Nachdem sie ins Heim kam, brachte ihr Sohn sie oft noch mit dem Auto zum Treff ins Gemeindehaus, holte sie zwei Stunden später wieder ab. Als sein Dienstplan sich änderte, funktionierte das nicht mehr. Von einer Woche zur anderen kam sie nicht mehr.

 

Für ältere Menschen ist Demenz ein bedrohliches Thema; schließlich weiß man nicht, wann es einen selbst betreffen könnte. Die Anderen aus dem Seniorenkreis mochten nicht gerne darüber reden, warum Frau D. nicht mehr kam. Nur eine fasste sich ein Herz und sprach das Thema offen an. Es wäre doch schade, wenn sie nicht mehr käme. Und es müsse doch niemanden stören, wenn sie manchmal durcheinander wäre. Sie würde Frau D. im Heim abholen. Für sie sei das nur ein kleiner Umweg, mit dem Bus könnten sie gut kommen.

 

So machen sie es seitdem. Und es entstand eine neue Freundschaft. Frau D. fühlt sich wohl neben ihrer neuen Begleiterin, und für die ist es eine willkommene Aufgabe. Sie merkt schnell, was der Demenzkranken guttut und ihr Sicherheit gibt. Wenn die beiden Arm in Arm zum Seniorentreff kommen, ist es oft noch einmal so wie früher. Manchmal spricht Frau D. den ganzen Nachmittag nur wenige Sätze, manchmal erzählt sie mit ihrer leisen Stimme und glücklich eine Geschichte aus ihrer Kindheit oder Jugend. Immer sagt sie beim Abschied: Vielen Dank! Es war wieder sehr schön heute!

 

Demenz. Für die Betroffenen ist es, als ob ihre vertraute Welt verschwindet; und für die Angehörigen, als wenn eine vertraute Person schon mitten im Leben Abschied nimmt. Die Kraft der Erinnerung kann das Leben nicht mehr zusammenhalten. Eine schwierige Erfahrung und eine schwere Aufgabe für alle Beteiligten, wenn auf die vertrauten Hirnfunktionen kein Verlass mehr ist.

 

Doch wir sind mehr, als was unser Gedächtnis zusammenhält. Es gibt auch eine Erinnerung des Körpers. Bei Frau D. ist es die Musik, die ihr gut tut. Sie singt gerne und erstaunlich textsicher die alten Volkslieder. Singen, Tanzen und Berührungen lassen sie aufleben. Und es gibt ein Füreinander-da-sein. Wenn wir selbst uns nicht mehr erinnern können, dann müssen andere es für uns tun. Wenn wir den Weg nach Hause nicht mehr finden, dann sind doch Menschen da, die ihn wissen. Und wenn ich selbst meinen Namen nicht mehr weiß, dann ist er doch im Buch des Lebens aufgeschrieben, wie es die biblische Hoffnung sagt (Lk. 10,20). Darum bewundere ich, wie Menschen sich geduldig und liebevoll um demenzkranke Mitmenschen kümmern. Und halte eine barmherzige Gesellschaft für möglich, die würdevolle Lebensräume schafft für Kinder und alte Menschen gleichermaßen. Und ich widerspreche, wenn mal wieder jemand sagt: Das ist doch kein Leben mehr. Dann erzähle ich gerne von Frau D., die an Weiberfastnacht so glücklich getanzt hat.

 

01.03.2018
Pfarrer Jost Mazuch