Gedächtnis der Orte

Morgenandacht
Gedächtnis der Orte
21.03.2018 - 06:35
01.03.2018
Pfarrer Jost Mazuch
Sendung zum Nachhören
Sendung zum Nachlesen

Kirchen sind besondere Orte. Orte des Gebets und der Gottesdienste. Besondere Orte, an denen man sich normalerweise auch in besonderer Weise verhält. Allerdings ist das nicht allen bewusst. Wenn im Kölner Dom Menschen mit einem Eis auf der Hand auftauchen, müssen die Domschweizer schon mal darauf hinweisen, dass das hier nicht angemessen ist. Die meisten verstehen das. Manche wirken sogar erleichtert, wenn man ihnen einen Weg zeigt, sich zu verhalten.

 

Vor einer ähnlichen Aufgabe stehen heute die KZ-Gedenkstätten. Auch sie sind besondere Orte: Orte der Erinnerung und des Gedenkens. Doch das Ungeheuerliche verblasst, das hier im Gedächtnis der Menschheit gehalten wird. Der Umgang mit dem Gedenken wandelt sich. Immer weniger Zeitzeugen können berichten, was hier geschah. Und die Orte selbst erzählen nur mittelbar.

 

Ein Dokumentarfilm, vor kurzem aufgenommen, zeigt die ehemaligen Konzentrationslager Dachau und Sachsenhausen. Ich sehe Besucherströme in die Gedenkstätten kommen und gehen. Menschen, die sich wie an einer beliebigen Freizeitstätte bewegen. Sie tragen Sonnenbrillen, T-Shirts mit munteren Aufdrucken. Einer nach dem anderen nimmt ein Selfie auf vor dem Schild über dem Tor mit der zynischen Inschrift „Arbeit macht frei”. Getränkeflaschen, Picknickszenen.

Der Filmautor Sergei Loznitsa kommentiert das alles nicht. In langen Einstellungen, ruhigen Schwarz-Weiß-Bildern gehe ich als Betrachter mit auf den Wegen durch diese Gedenkorte. Die Menschen, die ich beobachte, erscheinen mir fremd auf ihrer Sightseeing-Tour durch die Geschichte des Grauens. Wie Konsumenten, wie interessierte Besucher eines Freilichtmuseums.

 

Im Filmton höre ich die Kommentare der Guides, die ihre Gruppen in verschiedenen Sprachen durch die Gedenkstätten führen. Geschichte und Zahlen geben die nötigen Informationen. Hier die Baracken. Der Appell-Platz. Das Krematorium. Doch wie verhält man sich an solchen Orten? Was ist vor einer Gaskammer, in der tausende Menschen starben, ein passendes Verhalten? Als ich Sergei Loznitsas Film „Austerlitz“ sah, fragte ich mich irgendwann: Wie habe ich selbst mich eigentlich an diesen Orten verhalten? Mehrmals bin ich schon an solchen Gedenkstätten gewesen. Wie nah habe ich das Unfassbare der Vernichtung von Millionen Menschen an mich herankommen lassen?

 

Vor ein paar Jahren war es die KZ-Gedenkstätte Groß Rosen, ein Besuch mit Jugendlichen. Und ich erlebte eine ähnliche Befremdung. Nicht, dass die jungen Leute sich ungebührlich verhalten hätten. Doch die Diskrepanz war groß zwischen unserer Lebenswirklichkeit und dem, was wir dort über den Holocaust erfuhren. Wir kamen an die Stelle, an der vor siebzig Jahren regelmäßig Häftlinge erschossen wurden. Der Gedenkstättenmitarbeiter gab uns routiniert seine Informationen. Ich konnte es nicht mehr ertragen, hier einfach so zu stehen mit unseren Rucksäcken und Gummibärchentüten. Ich bat die Gruppe, sich zu sammeln. Und der hier ermordeten Menschen zu gedenken, in Stille und im Gebet. Es war für uns alle eine notwendige Unterbrechung.

 

Wie können wir heute das Gedenken an den Holocaust bewahren? Wie lässt sich angemessen damit umgehen? Diese Fragen werden an vielen Stellen diskutiert. Nur das historische Wissen über das, was geschehen ist, reicht nicht aus. Eine Verpflichtung zum Besuch von Holocaust-Gedenkstätten – für Schulklassen oder für Neu-Eingebürgerte – wird auch nicht zu einem Gedenken führen, das denen angemessen ist, die an diesen Orten ums Leben kamen. Vielmehr brauchen wir eine Annäherung an das Schicksal der Vernichteten in Respekt und Demut. Vielleicht hat der Filmautor Sergei Loznitsa recht, als er im Interview sagte: „Ich denke, dass es wie in einer Kirche sein muss. Wenn du beten willst für die Seelen all der Menschen, die an diesem Ort im Boden liegen, dann komm.“

(Im Gespräch mit Nicolas Rapold, «The New York Times», www.nytimes.com, 31.08.2016)

01.03.2018
Pfarrer Jost Mazuch