Grenzen überwinden

Morgenandacht
Grenzen überwinden
18.04.2016 - 06:35
27.12.2015
Pfarrer Jost Mazuch

Ein Strich auf dem Schulhof war die Grenze: auf der einen Seite die katholischen Kinder, auf der anderen Seite die evangelischen. Streng getrennt nach Konfessionen verbrachten sie damals ihre Schulpausen. „Manchmal flog da auch schon mal ein Stein auf die andere Seite. Das waren ja die anderen, mit denen wollten wir nichts zu tun haben“, erzählt mir der alte Mann, der das in seiner Kindheit erlebt hat. Über siebzig Jahre ist das jetzt her. Damals war Krieg, eine Bombe hatte die katholische Volksschule getroffen. Notgedrungen mussten die Kinder in der evangelischen Schule zum Unterricht. Aber auf keinen Fall gemeinsam! Der Strich auf dem Schulhof sorgte für die gewünschte Trennung.

 

Heute, zwei Generationen später: etwa fünfzig Kinder drängeln in die Kirchenbänke. Kirchenerkundung ist angesagt. Einen Vormittag lang lernen Viertklässler in kleinen Gruppen die katholische und die evangelische Kirche kennen. Sie kommen aus derselben Schule, in der damals der Strich den Schulhof zerteilte. Religiöse Unterschiede spielen in ihrem Leben keine große Rolle. Es sind evangelische und katholische Kinder dabei, die schon oft in einer der Kirchen  beim Gottesdienst waren. Einige muslimische Kinder erzählen von der Moschee und ein jüdisches Mädchen von ihrer Synagoge. Die Lehrerin verspricht, auch da einen Besuch zu machen. Die Kinder, die keiner Religion angehören, sind genauso neugierig mit dabei wie alle anderen.

 

Geduldig beantworten mein katholischer Kollege und ich die vielen Fragen: Was ist eine Kanzel? Warum gibt es hier kein Tabernakel und keine Maria? Wer macht die Kirche sauber? Es macht Spaß, mit welcher Offenheit die Kinder lernen. Ohne Scheu, aber mit Respekt erleben die Mädchen und Jungen die Kirchenräume. Sie erfahren viel über Religion, was zur Allgemeinbildung gehört. Und sie erleben, dass es schön ist, einen besonderen Raum zum Beten und Feiern zu haben. Sie sind begeistert von der großen Orgel und machen sich ihre eigenen Gedanken zu der Bedeutung von Zeichen, Symbolen, Bildern.

 

Ich bin froh, wenn Kinder heute die Vielfalt von Kirchen und Religionen kennen lernen können, ohne sie als fremd oder trennend zu erleben. Dass sie  Unterschiede als etwas Normales verstehen. Seit damals auf dem Schulhof die Konfessionsgrenze mit einem Farbstrich markiert wurde, hat sich zum Glück viel verändert. Unter dem Stichwort „Ökumene“ haben die christlichen Kirchen seit langem das Gespräch gesucht. Alte Streitigkeiten wurden ausgeräumt. So manche Vorurteile und Feindseligkeiten aus vergangenen Zeiten haben sich mit dem gegenseitigen Kennenlernen längst verloren.

 

Zum Abbau der konfessionellen Gegensätze haben besonders die Familien beigetragen, die aus verschiedenen Glaubensrichtungen zusammenfanden. Das war vor ein paar Jahrzehnten noch ein großes Problem. Der alte Mann erzählt mir: Als er, ein Katholik, seine evangelische Frau heiraten wollte,  stand für die Eltern der Familienfriede auf dem Spiel. „Mit der brauchst du gar nicht nach Hause zu kommen, hat mein Vater gesagt.“ Als „Mischehe“ wurden solche Ehen abgewertet, und auf den Paaren lastete ein heute kaum noch vorstellbarer Druck.  Oft forderten gerade diese Paare von ihren Gemeinden mehr gegenseitige Öffnung und Respekt ein. Sie gründeten ökumenische Gesprächskreise und drängten auf gemeinsame Gottesdienste. Heute sind ökumenische Gottesdienste, gemeinsame Feste und soziale Aktivitäten eine Selbstverständlichkeit.

 

Was für eine schöne Veränderung! Jahrhundertelang lebten Christen der verschiedenen Konfessionen getrennt, lehnten einander ab und bekämpften sich sogar. Heute versuchen wir, achtsam zusammen zu leben und voneinander zu lernen. Und damit tun wir etwas, was von Anfang an zum christlichen Glauben gehört. Ihr seid alle verschieden, schrieb schon der Apostel Paulus den ersten Gemeinden. Das muss euch nicht stören. Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat! So wird Gott gelobt. (1)

 

(1) Römer 15,7

27.12.2015
Pfarrer Jost Mazuch