Sehen können

Morgenandacht
Sehen können
23.03.2017 - 06:35
23.03.2017
Evamaria Bohle

Erblinden. Nicht mehr sehen können. Alles muss neu gelernt werden: Anziehen, Kaffeekochen und Frühstücken. Lesen, Spazierengehen, das Sich-Orientieren, das Arbeiten. Vieles geht nicht mehr: Auto fahren, Fotografieren, Sudoku lösen. Erblinden und nichts ist mehr selbstverständlich - glaubt die Sehende.


Und auf Menschen zugehen - ganz ohne Augenkontakt? Wie soll das gehen? Oder flirten? „Schau mir in die Augen, Kleines“ - ein leerer Satz. Was tun mit der Stille zwischen den Worten im Gespräch? Kein Zwinkern, kein Stirnrunzeln, kein Lächeln erreicht mich mehr. Wie oft brauche ich als Sehende beim Zuhören meine Augen. Dich nie wieder lachen zu sehen. Das Meer nur noch zu hören. Der lichtblaue Frühlingshimmel - nur noch als Erinnerung. Unvorstellbar.


Wer erblindet, dessen Leben verliert mehr als nur einen Sinn, glaubt die Sehende. Es verliert Sinn. Wer bin ich noch, wenn ich nicht mehr sehen kann?


„Ich kann nicht sehen!“, war ein wichtiger Satz im Leben meines Vaters. Er litt unter seiner schweren angeborenen Sehbehinderung, für die es keine Heilung gab. Er trotzte gegen sie an, überspielte viele Schwächen über Jahrzehnte. Doch vergeblich. Das Gesichtsfeld schrumpfte, wurde klein und kleiner. Schemen, Schatten, keine Finsternis zwar, aber milchige Leere. Er glaubte nicht an Wunder und hörte doch nicht auf, sich nach einem zu sehnen. „Willst du gesund werden?“ Ja, ja, natürlich. Aber niemand kam und fragte. Die Bibelgeschichten von Heilung und ihre Prediger konnten ihn zornig machen. Falscher Trost. Er hoffte lieber auf die Medizin. Sein Traum: „Wenn ich doch nur sehen könnte.“


Nie hat mein Vater darüber gesprochen, was genau er sich vom Sehen können erhoffte. Nie habe ich gefragt. Es lag ja auch eigentlich auf der Hand: Das Leben würde einfacher sein, womöglich glücklicher. Sehend wäre er ein ganz anderer Mann. Nicht mehr auf Hilfe angewiesen. Heiterer bestimmt. Zufriedener. Auch liebenswürdiger. Er war vernarrt in die Idee, dass ein sehender Mensch ein besseres Leben hat.


Heilung als der Königsweg zum Glück. Intaktheit als Schlüssel für ein gelingendes Leben. Aber stimmt das überhaupt? Sind wir Sehenden wirklich vom Leben bevorzugt – oder ist das die Sichtweise derer, die sich nicht vorstellen können, dass Glück auch ohne Augenlicht vollkommen sein kann, und dass sehen zu können keineswegs die größte Sehnsucht jedes Blinden ist.


Die Bibelgeschichten, die meinen Vater so zornig machten, erzählen interessanterweise rein gar nichts vom Glück durch Heilung. Darum ging es ihren Autoren nicht. Die Blinden in den Evangelien haben eher eine spirituelle Funktion. Sie verknüpfen den Mann Jesus mit Prophezeiungen aus den heiligen Schriften der Juden. Lange Geschichte. Jedenfalls erkennen die Blinden in dem staubigen Herumtreiber, dem sie Wunderbares zutrauen, den Erlöser. Und zwar als sie noch blind waren. Das ist das Besondere, nicht die Heilung.


Sicher, die geheilten Blinden in den Geschichten hören auf zu betteln. Aber was sie stattdessen tun, ob sie glücklicher sind, erfahren wir nicht. Manche werden Mitläufer Jesu, folgen ihm nach und sehen ihn am Kreuz sterben. Auf diese Bilder hätten sie sicher gerne verzichtet. – Ein paar Tage später dringt dann plötzlich die unerhörte Nachricht zu ihnen durch: „Er ist auferstanden.“ Drei Worte wie eine Tür in eine neue Welt. Geheimnisvoll. Intakte Augen helfen da beim Verstehen auch nicht weiter. Geheilt? Wozu eigentlich? Vielleicht ist es ja so: Wer dem Auferstandenen folgt, tastet sich voran in der Wirklichkeit Gottes, in der Blinde bereits sehen können.

23.03.2017
Evamaria Bohle