Speziallager II Buchenwald

Morgenandacht
Speziallager II Buchenwald
19.10.2017 - 06:35
12.10.2017
Ulrike Greim

Sie hatten ihm gesagt, wie es läuft. Es schien ihm plausibel. Er hat daran geglaubt. Er hat seinen Job gemacht. Als der Krieg zu Ende war, kam er nach Hause zu Frau und drei Kindern. Sie waren froh, es überstanden zu haben. Sie wollten alles wieder aufbauen. Eines nachts stehen sowjetische Soldaten vor der Tür und holen ihn ab. Er kommt vor ein Tribunal und wird verurteilt. Kein Anwalt, keine Details. Dann das Lager. Irgendein sowjetisches Speziallager. 1948 die Amnestie.

Den Kindern sagen sie, dass er freigesprochen wurde. Falsch beschuldigt. Sie glauben es gern. Er hält sich an das Schweigegebot. Sagt zeitlebens nichts. Nicht einmal, wo er inhaftiert war und warum. Nur, dass es ihm noch besser erging, weil er in der Küche gearbeitet hat und Kartoffelschalen essen durfte. Er wird ein verhärmter alter Mann.

 

Die Kinder und die Enkel haben das ungute Gefühl, dass da Schuld lastet. Dass er nicht ohne Grund verurteilt wurde. Es ist mehr so ein Gefühl.

Keiner kann genau sagen, woher das kommt. Vielleicht ist es diese Düsternis in dem eigentlich schönen Haus. Vielleicht der harsche Ton. Der eine der Söhne, mehrere Enkel, und sogar schon die Urenkel recherchieren. Da ist er schon tot. Und hat all sein Wissen mitgenommen. Seine Haltung. An wem sollen sie sich abarbeiten? Und wen können sie fragen? Nur noch die Archive.

 

Es ist die Auseinandersetzung mit den eigenen Anlagen.

Kann man so etwas in den Zellen einlagern und vererben?

Schuld nicht. Aber Haltungen schon. Auch falsche natürlich. Ein Nicht-Sehen-Wollen zum Beispiel. Ein „Ist-schon-alles-Gut“. Ein „Da-waren-die-doch-selber-Schuld.“ Ein „Das-hat-man-damals-halt-so-Gesehen.“. Die Abwehr. Wie auch den Alpdruck. All das kann man erben. Und vererben. Erb-Blindheit, Erb-Sünde.

Bis in die dritte oder vierte Generation. So beschreibt es die Bibel. So ist es die Weisheit der Glaubensväter und -mütter.

 

Nicht als eine Last, die abzuarbeiten ist. Sondern als Beobachtung. Psychotherapeuten beschreiben sie. Bei ihnen sitzen die Enkel und schwitzen sich Buchenwald aus dem Leib. Je weiter etwas zeitlich weg ist, umso schwerer zu fassen. Je weniger sie wissen, umso diffuser ist der Blick. Aber man kommt darauf. Und da ist etwas. Vielleicht nebulös. In jedem Fall: virulent. Wie ein Dämon, der gesehen werden will.

 

Und eine Chance. Kinder und Kindeskinder sollen hinschauen und können es besser machen. Ihr Leben leben ohne die alten Zuschreibungen. Und in Solidarität mit denen, die damals gelitten haben.

 

Nach seinem Tod also recherchieren Kinder, Enkel und Urenkel. Hat er Menschen auf dem Gewissen? Viele? Sie ahnen.

Und erfahren fast nichts.

 

Sie wollen aber den Opfern gerecht werden. Lebt eventuell noch jemand, der etwas sagen kann? Oder den man kennenlernen kann?

Mal lassen die Enkel es ruhen, mal nimmt einer den Faden wieder auf.

 

Aber ist es wichtig, die Details zu erfahren? Es kann auch ausreichen, zu wissen: Der Opa war ein Nazi. Und überzeugt. Und bis zum Schluss hat er festgehalten. Nichts aufgearbeitet. Schön gelebt in seinem schönen Haus. Unfähig zur Liebe.

Und was genau hat sein Herz so hart werden lassen, dass er dachte, es wäre richtig, dass Menschen sterben, die nicht sein verdrehtes Bild passten. Juden. Behinderte. Russische Soldaten? Was hat er in ihnen gesehen?

 

Für Kinder und Enkel ist es ein langer Weg, sich selbst zu befragen: Welchen Blick habe ich. Und wo kann ich meinen ererbten Blick vielleicht umschulen?

 

Wie Gott auf Menschen schaut, das ist die Quelle für alles Nachdenken. Für Alles Verstehen. Für das Sich-Verbinden. Denn darum geht es doch, dass Gott verbunden ist mit seiner Schöpfung. Und wir Menschen heilen, wenn wir mit ihr wieder verbunden werden. Weil auch wir Geschöpfe sind.

 

Das ist die Voraussetzung für Frieden.

Mitkriegen, dass wir alle verbunden sind.

Eines Tages werden die Enkel an namenlosen Gräbern stehen. Sie werden weinen. Sie werden verbunden sein mit denen, die hier starben. Der Großvater hatte jene für unwertes Leben erachtet und sie auf eine Todesliste gesetzt.

Die Tränen der Enkel lösen die alte Verstrickung.

So kann Frieden werden. Denn Frieden braucht die Tränen. Das Verbunden-Sein mit den Opfern. So wird Gerechtigkeit wachsen.

12.10.2017
Ulrike Greim