Wenn mein Nachbar singt

Morgenandacht
Wenn mein Nachbar singt
21.10.2017 - 06:35
12.10.2017
Ulrike Greim

Ich bin eigentlich eine sehr verträgliche Nachbarin. Ich beschwere mich fast nie. Außer drei Mal in diesem Jahr, als die WG im Haus so unglaublich laut Dark Metal gehört hat, dass ich zwei Etagen über ihnen keinen klaren Gedanken fassen konnte. Da hab’ ich mich beschwert. Immer noch freundlich, aber deutlich. Und sie haben sofort leiser gemacht. Nette Kerle.

 

Ich ertrage es auch eine kleine Zeitlang, wenn die Nachbarn draußen rauchen und der Zigarettengeruch in mein Schlafzimmer zieht. Obwohl ich das wirklich unanständig finde. Und richtig zornig kann ich werden, wenn die WG über mir nachts um drei denkt, es sei nachmittags um drei und durchs Treppenhaus poltert und lacht und palavert, dass mein Kind wach wird.

 

Eines aber versöhnt mich mit alledem. Das ist, wenn mein Nachbar singt. Vorzugsweise abends. Vorzugsweise allein. Ich höre keine Gitarre, kein Radio dazu. Er, solo. Wie gedankenversunken. Da kommt für mich die Welt in Ordnung, egal, welche schrecklichen Nachrichten ich vorher gehört habe.

 

Er ist kein Opernsänger, er singt einfach so für sich. Ich höre es nicht präzise genug, um zu sagen, ob das richtige Lieder sind. Ich vermute mal, aber ich weiß es nicht. Vielleicht singt er auch, wie es ihm gerade in den Sinn kommt. Das hat für mich etwas ungemein Entspannendes.

 

So muss es Saul gegangen sein, als er den jungen David für sich hat singen lassen. Und Harfe spielen. Es hat ihm die Grillen vertrieben. Musik als Antidepressivum. Das glaube ich sofort. Sie muss nicht perfekt sein, sie muss nur echt sein. Eine Stimmung ausdrücken. Ich singe, wie es mir geht.

 

Und darüber verändert sich das Leid, und der Schmerz. Was immer da mein Thema ist.

„Musik ist das beste Labsal eines betrübten Menschen.“ So sagte es Martin Luther. Er sang und spielte ja auch Laute und textete für die Gemeinde. Musik als Heilmittel und als Glaubensmittel. Kurzum: als Lebensmittel. Sie muss zu der Bitte um das tägliche Brot im Vaterunser gehören. Denn in seinen Erklärungen zum Vaterunser zählt Luther ja ziemlich viele Dinge auf, die für ein Menschenleben wichtig sind. Neben dem Essen und dem Wohnen auch fromme Ehepartner und treue Nachbarn. Er hätte gut Musik dazu zählen dürfen. Und einen Nachbarn, der singt.

 

In jedem Fall sprach Luther der Musik heilende Kräfte zu. Richtigerweise hätte er die Gabe der Musik auch nennen können in der Erklärung der Bitte „und erlöse uns von dem Bösen“. Ich glaube, dass Musik aus Bösem erlösen kann.

Wenn mein Nachbar singt, atmet auf alle Fälle mein Herz auf.

So böse kann die Welt dann offensichtlich nicht sein.

 

Wenn er singt, dann schwingt etwas ganz anderes mit. Ganz, ganz anders, als bei Dark Metal. Denn das ist auch etwas anderes, als wenn ich meinen anderen Nachbarn beim Fußball grölen höre.

 

Wenn mein Nachbar von oben singt – dann sind das good vibrations. Gute Schwingungen.

Ich hab’ es ihm noch nie gesagt. Vielleicht würde es ihn verlegen machen und er würde aufhören. Das will ich nicht.

Ich will good vibrations von oben bekommen. Abends und morgens. Ich will heimlich lauschen dürfen.

 

Gute Schwingungen von oben – die sind lebenswichtig. Ich müsste sonst manchmal verzweifeln. Und so ist es ein Glück, wenn ich das mitbekomme. Andere hören vom Nachbarn nur den Fernseher oder den Streit und Türenknallen.

 

Gute Schwingungen von oben lassen vermuten, dass es ein weites Himmelszelt gibt, das sich über allen spannt. Und in dem ich einen guten Platz habe. Und dass alles in Ordnung ist.

So, als würde ich selber singen – in einem großen, wunderbaren Chor. Teil eines großen Ganzen sein. Teil eines Großen Ganzen sein, Teil des Universums. Einschwingen auf den Höchsten.

 

Ich vermute, das gelingt beim Singen und vermutlich auch noch beim Tanzen. Da kommt man in Bereiche, zu denen die Sprache keinen Zutritt mehr hat. Vielleicht noch die Poesie. Aber mehr halt: das Singen, das Tanzen, der Rhythmus, der sich mit meinem Herzschlag synchronisiert.

 

Eins-Werden mit denen, die mit mir singen, tanzen – und lieben, so kann ich, wenn es ganz gut kommt, eine Himmelsleiter nach oben klettern. Wenn er denn schon einmal offen steht, der Himmel, dann will ich da hinaufsteigen. Wie die Engel. Einmal oben anfassen.

Und dann zurück.

Vielleicht.

12.10.2017
Ulrike Greim