Befreit davon, nur mich zu sehen!

Wort zum Tage
Befreit davon, nur mich zu sehen!
22.05.2017 - 06:20
21.05.2017
Pfarrer Jörg Machel

Der Blick auf den Wohnungsmarkt kann sehr verschieden aus­fal­len. Die Per­spek­ti­ve än­dert sich, je nach­dem, ob je­mand in einer Ei­gen­tums­woh­nung sitzt oder auf der Su­che nach be­zahl­ba­rem Wohn­raum ist, ob er sich mit ei­ner Ei­gen­be­darfs­kla­ge her­um­schlägt oder als In­ver­stor nach gu­ten An­la­ge­mög­lich­kei­ten sucht. Bringt man all die­se Grup­pen zu­sam­men, so kann man ziem­lich ge­nau vor­her­sa­gen, wel­che Po­si­ti­on die ein­zel­nen Ver­tre­ter ein­neh­men wer­den. Und er­staunt wird man fest­stel­len, wie we­nig Ver­ständ­nis sie für die Po­si­ti­on der je­weils an­de­ren Par­tei­en ent­wic­keln.

Ver­su­che, sich auf die Sicht­wei­se der Ge­gen­par­tei­en ein­zu­las­sen, schei­tern häu­fig, weil je­dem das Hemd nä­her ist als der Rock. Die­ses Phä­no­men kann man auf vie­le Le­bens­be­rei­che über­tra­gen. Ob­jek­tiv zu sein, ge­lingt uns im­mer nur an­satz­wei­se und je stär­ker un­se­re Äng­ste be­rührt sind, de­sto en­ger wird das Blick­feld.

Ich bin ei­ner in­ter­es­san­ten Ver­suchs­an­ord­nung be­geg­net, mit der man In­ter­es­sen­kon­flik­te an­ge­hen kann, ohne dass die Ei­gen­in­ter­es­sen der Teil­neh­mer al­les über­la­gern. Der ame­ri­ka­ni­sche Phi­lo­soph John Rawls hat sie ent­wic­kelt. „Un­ter dem Schlei­er des Nicht­wis­sens“, nennt er sein Spiel mit der Auf­he­bung von Rol­len­zu­wei­sun­gen. Dazu be­gibt man sich auf ein Kon­flikt­feld, ohne vor­her zu wis­sen, in wel­cher der ver­schie­de­nen In­ter­es­sen­grup­pen man sich am Ende be­fin­den wird.

Auf den Woh­nungs­markt be­zo­gen hie­ße das: Mit gro­ßer Wahr­schein­lich­keit wird man als Mie­ter auf die Su­che nach ei­ner Woh­nung ge­hen müs­sen, es kann je­doch auch sein, dass man sein teu­er ge­kauf­tes Ei­gen­tum selbst nut­zen möch­te und eine Räu­mungs­kla­ge an­stren­gen muss. Das Schick­sal kann ei­nen in die­sem Spiel aber auch zum In­ve­stor ma­chen und dann hat man sich die Fra­ge zu stel­len, ob das ei­ge­ne Geld gut und zu­kunfts­si­cher an­ge­legt ist.

Al­les ist zu be­den­ken, aber nie aus nur ei­ner Per­spek­ti­ve. Im­mer muss die an­de­re Mög­lich­keit so be­dacht wer­den, dass man not­falls auch mit ihr le­ben könn­te.

Von die­sem Ex­pe­ri­ment hat mir eine Frau er­zählt, die in ei­nem sol­chen Set­ting un­se­re Flücht­lings­po­li­tik durch­zu­spie­len hat­te. Al­les fühl­te sich an­ders an, als ihr be­wusst wur­de: Nur mit ge­rin­ger Wahr­schein­lich­keit wür­de sie zu der klei­nen Grup­pe der Wohl­ha­ben­den auf die­sem Pla­ne­ten ge­hö­ren. Und so be­gann sie all ihre Ent­schei­dun­gen dar­auf­hin zu be­den­ken, ob sie da­mit auch dann le­ben könn­te, wenn ihre Hei­mat nicht Ber­lin in Eu­ro­pa, son­dern Be­nin in West­afri­ka wäre.

„Du siehst mich!“ – ist das Mot­to des Evan­ge­li­schen Kir­chen­ta­ges in Ber­lin. Viel­leicht schaut Gott ja mit ge­nau sol­chen Au­gen auf uns, stel­le ich mir vor. Nie sieht er nur mich al­lein, im­mer hat er auch mei­nen Nach­barn mit im Blick!

21.05.2017
Pfarrer Jörg Machel