Blick ins Leere

Wort zum Tage
Blick ins Leere
28.03.2018 - 06:20
01.03.2018
Melitta Müller-Hansen
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Er sitzt auf dem Stumpf einer Säule, nach vorne gebeugt. Die Dornenkrone auf dem Kopf. Den Ellbogen auf dem Knie abgestützt. Und in der Hand liegt das Kinn. Sein Blick geht ins Leere. „Christus in der Rast“, „Christus im Elend“. Ein Skulpturmotiv, entstanden im späten 14. Jahrhundert.

Als wollte der Künstler das Passionsgeschehen anhalten, das wie ein Verhängnis über diesen Menschen hereinbricht. Verhöre, Verspottung, Verleugnung, Folter. Soldaten rücken ihm auf den Leib, dann ist es die Menschenmenge, die ihn verspottet und ihm ins Gesicht spuckt. Hier aber isoliert und fast wie im luftleeren Raum der Christus in der Rast. Alle anderen sind entfernt und tauchen nicht mehr auf. Als wollte der Künstler dem Leidtragenden Luft verschaffen, Raum zum Atem holen, zum Nachdenken. Und uns, den Betrachtern dieser Skulptur, eine Möglichkeit der Identifikation. Verspottung, Verrat, Verleugnung- nicht jeder erlebt das am eigenen Leib oder in seinem Umfeld. Gott sei Dank. Aber den Christus im Elend kennen viele.

 

Ich habe ihn gesehen am Esstisch seines Hauses sitzen, den Kopf schwer am Kinn abgestützt. Eine lange Narbe am Hinterkopf. Schock und tiefe Trauer in seinen Augen und der Blick geht ins Leere. Diagnose Gehirntumor. Auch wenn Freunde und Verwandte zu Besuch kommen, und die Plätze am Tisch gar nicht ausreichen. Wenn erzählt und gegessen und gelebt wird- so kippt er immer wieder weg. Driftet ab. Versinkt in seinem Elend, unerreichbar für die um ihn herum. Mit den Augen schaut er nicht mehr nach außen auf etwas, sondern sucht nach innen Geist und Seele ab, ob sie mehr schicken können, als nur Angstbilder, Schreckensbilder.

 

Vielleicht haben die mittelalterlichen Künstler den Christus im Elend für solche Momente geschaffen. Damit der isolierte, von allen Lieben und Lebenden sich entfernende Mensch einen an seiner Seite hat. Und in seiner Seele. Einen zum Anschauen, zum Festhalten, zum Anlehnen. „Erscheine mir zum Bilde, zum Trost in meiner Not“…das ist die Bitte an den leidenden Christus. Das ist Logik mittelalterlicher Frömmigkeit. Mir hilft sie immer noch. Nach dieser Logik sammle ich Bilder, Lieder, Sätze in meiner Seele, die abrufbar sind, und Verbindungen schaffen. Einer hat schon vor mir so ins Leere geblickt. Und nach dem gesucht, was kein Auge je gesehen hat. Und von ihm heißt es: er habe das Licht gesehen.

01.03.2018
Melitta Müller-Hansen