Blind Date

Wort zum Tage
Blind Date
21.07.2016 - 06:23
20.07.2016
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen

Das Spiel wiederholt sich in regelmäßigen Abständen. Ich ahne bereits im Vorfeld, was kommt, und tappe doch wieder und wieder in dieselbe Falle: Wenn ich auf Reisen gehe und danach wieder zurückkehre nachhause, ist die Wiedersehensfreude erst groß – und wird kurz darauf von einem handfesten Krach abgelöst. Der Anlass ist oft banal: eine Unachtsamkeit, eine unaufgeräumte Wohnung, ein leerer Kühlschrank, Schuhe, die sich im Flur stapeln. Alltag eben, der einen dann mit voller Wucht wieder einholt. Und dann sehnt man sich schmerzlich wieder fort und steckt doch fest im hier und jetzt. Denn hier ist man Zuhause.

Reisen ist wunderbar. Man lässt den Alltag hinter sich und kehrt voller neuer Eindrücke und irgendwie verändert zurück. Leider hat sich zuhause nichts verändert. Der Alltag ist noch derselbe. Die Menschen sind es auch. Was der 139. Psalm so wunderbar beschreibt: „Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne“ – das gilt eben von Gott zu Mensch. Menschen untereinander kriegen das nicht hin. Sie können keine Gedanken lesen. Erst recht keine fremden. Darum gestaltet sich das Wiedersehen nach der Trennung oft anders als gedacht. Weniger romantisch, eher vorsichtig. Anstelle von Harmonie und Wiedersehensfreude eher so eine Art Blind Date. Eine behutsames Abtasten: Was hat der andere erlebt – ohne mich? Wie hält man an einer gemeinsamen Geschichte fest und gönnt doch jedem seine eigene? Und findet sogar gut, dass er sie hat?

Der 139. Psalm ist ein Reisepsalm. Er kennt unser Bedürfnis, sich manchmal einfach auf den Weg zu machen, loszulassen, frei und unabhängig zu sein – und sei es nur für ein paar Tage. Gott nahe zu sein und sonst niemandem: Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.

Es ist Reisezeit. Zeit um sich selber wieder auf die Spur zu kommen. Zeit für offene Augen und Ohren, Zeit, die Herrlichkeit von Gottes Schöpfung mit allen Sinnen auszukosten – egal ob am Meer oder in den Bergen. Oder in einer wunderbar erhaltenen Altstadt. Und Zeit, um den Menschen wieder offen, neugierig und behutsam zu begegnen, die wir längst zu kennen meinen – so wie bei einem Blind Date. Es kann der Anfang von etwas ganz Schönem sein…

20.07.2016
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen