Der eine Feigenbaum

Wort zum Tage
Der eine Feigenbaum
25.10.2016 - 06:23
24.10.2016
Pfarrer Rainer Stuhlmann

Das Wasser läuft mir im Munde zusammen. Unter dem Feigenbaum prall voll von süßen Früchten. Es ist der einzige große Baum im Tal, am Rande einer Plantage von hunderten kleinen, die gerade ihre ersten Blätter getrieben haben.

„Er ist als einziger stehen geblieben vor zwei Jahren“, sagt Daoud Nassar, „unser Symbol der Hoffnung“. Er erinnert mich an die Worte des Propheten, der nach der Katastrophe einen Neubeginn verheißt. „Siehe, was ich früher verkündigt habe, ist gekommen. So verkündige ich auch Neues; ehe denn es aufgeht, lasse ich’s euch hören.“ (Jesaja 42,9)

Vor zwei Jahren im Mai gehen am frühen Morgen die Handys und Smartphones der Familie Nassar und bringen die Schreckensnachricht in Wohnzimmer und Küchen, in Dienstzimmer und auf  Schulhöfe, in Autos und Busse. Die weit verzweigte Großfamilie ist die erste, die sie  hört und die diese Nachricht auf die Beine bringt, um die Katastrophe in Augenschein zu nehmen, die später durch die Medien die ganze Welt erfährt.

Sie trauen ihren Augen nicht. Seufzer, Tränen, unterdrückte Schreie. Ihre Obstbaumplantage, die wenige Wochen vor der Ernte steht, gleicht einer riesigen Müllkippe. Die ausgerissenen Bäume strecken ihre Wurzeln aus dem Boden gen Himmel, als wollten sie um Hilfe rufen. Blätter und Früchte sind von Erdhalden bedeckt. Ein einziger Feigenbaum am Rande wurde bei der Verwüstung übersehen.

Im Morgengrauen waren jüdische Siedler unter dem Schutz der israelischen Armee mit Riesen-Bulldozern angerückt, um ihren Anspruch auf das private Land der palästinensischen Familie mit Gewalt durch zu setzen. Sie nennen das besetze Palästina „Judäa und Samaria“, um ihrem Landraub biblische Legitimation zu verleihen. Und sogenannte „bibelgläubige“ Christen – auch aus Deutschland - unterstützen sie darin.

Als ich davon hörte, war ich einen Augenblick lang versucht, mit dieser Nachricht  den Antisemitismus in mir zu füttern. Aber dazu gibt es keinen Grund. Das schändliche Tun der Siedler empört Juden und Nichtjuden innerhalb und außerhalb Israels. Eine Gruppe Juden hat Geld gesammelt, hunderte von neuen Obstbäumen gekauft und sie im vorigen Jahr in einer gemeinsamen Aktion hier angepflanzt. „Wir schämen uns für die Siedler“, sagen sie. Diese Juden zeigen mir das „andere Gesicht“ des jüdischen Landes und bewahren mich in meinem Zorn vor Hass und Verteufelung.

Zusammen mit Juden höre ich als Christ auf die Botschaft ihrer Propheten. Nach der Katastrophe gibt es einen Neubeginn, Zeit zur Umkehr und Erneuerung. Der Feigenbaum ist ein Zeichen, das mich ihrer Botschaft trauen lässt.

24.10.2016
Pfarrer Rainer Stuhlmann