Die Versuchung

Wort zum Tage
Die Versuchung
04.03.2017 - 06:20
03.03.2017
Pfarrerin Marianne Ludwig

„Allem kann ich widerstehen, nur nicht einer Versuchung!“ so lautete die schlagfertige Antwort von Oscar Wilde auf die Prüderie des victorianischen Englands. Engherzigkeit und Verklemmtheit waren für ihn in erster Linie lächerlich. Er hat keine Gelegenheit ausgelassen, um mit Wortwitz, extravaganter Kleidung und exzentrischem Verhalten zu provozieren. Dies bleibt im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht ohne Folgen. Wilde wird wegen Homosexualität zu zwei Jahren Zuchthaus mit schwerer Zwangsarbeit verurteilt. Spätestens im Prozess aber wird klar, dass alles Dandyhafte nur seine Maske ist. Dahinter verbirgt sich ein Mensch, der empfindlich reagiert auf Machtmissbrauch und Grausamkeit. Einer der ersten Leserbriefe, die er nach seiner Haft an eine Zeitung schreibt, widmet sich dem Thema Kindergefangene und Kinderzwangsarbeit. Wenigstens einer Versuchung hat Oscar Wilde also doch widerstanden: Der Versuchung eines trägen Herzens. Und die ist groß.

 

Trägheit zählte in der alten Kirche zu den sieben Todsünden. Mit mangelndem Fleiß hat das nichts zu tun. Trägheit des Herzens ist vielleicht mit dem Fremdwort Apathie am besten zu erklären. Ein apathischer Mensch ist jemand, der sich nicht berühren lässt vom Schicksal anderer. Mitgefühl, also Empathie ist ihm fremd. Damit wird er seinen Mitmenschen ebenso wenig gerecht wie sich selbst. Auch wenn sein Leben äußerlich vielleicht bewegt erscheint, wird ein apathischer Mensch innerlich versteinern. Dieses Bild greift der biblische Prophet Ezechiel in einer Zukunftsvision auf. „So spricht Gott: „Und ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleische wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben.“(Ez 36,26)

 

Ein solches Herz widersteht der Versuchung lieber wegzuschauen, wenn andere in Not sind. Gleichzeitig ist es offen für ein gutes Leben. Wie ein solches Leben aussehen könnte? Die Bibel beschreibt es so: „Dass der Wein erfreue des Menschen Herz, dass seine Gestalt schön werde vom Öl und das Brot des Menschen Herz stärke.“ (Ps 104, 15) Wie verlockend! Der Genießer Oscar Wilde hätte nicht widerstehen können und er hätte ein solches Leben allen gegönnt.

03.03.2017
Pfarrerin Marianne Ludwig