Ein Paar Sohlen

Wort zum Tage
Ein Paar Sohlen
22.06.2017 - 06:20
20.06.2017
Olav Metz

Auf den Sohlen, die er mir gab, stand US-Army. So erzählt Gerhard, während er mir im Pfarrhaus gegenüber sitzt, eben dort, wo er kurz nach 1945 als Flüchtlingsjunge dem Pastor gegenübergesessen hat. „So, Gerhard, und jetzt geh zum Schuster und lass deine Schuhe reparieren.“ So hat der alte Pastor damals gesagt. Und ich bin dann zum Schuster gezogen und hab meine Schuhe besohlen lassen. – Ich glaube, der hat mich gemocht. So sagt er und schaut dabei fast verlegen auf seine Hände.

Wenig später hat ihn der alte Pastor hier auf Mönchgut konfirmiert. Dann aber haben sich ihre Wege getrennt. Der junge Mann wollte weg aus dem Dorf, wollte was werden in der jungen DDR. Nein, keine politische Kariere, aber eine ordentliche Arbeit mit Verantwortung, wenn‘s geht sogar studieren, das sollte es schon sein. Damit wuchs aber auch der Druck, sich dem System anzupassen. Und da er nicht immer das machte, was man von ihm verlangte, gab es auch Druckmittel gegen ihn.

In die Partei bin ich nie gegangen, sagt er. Aber aus der Kirche bin ich 1955 ausgetreten. „Das muss sein, wenn du was werden willst.“ So haben sie gesagt. Sicher, ich hatte auch meine Zweifel, zum Beispiel beim Glaubensbekenntnis. Aber an Gott geglaubt habe ich. Und deshalb hatte ich ein schlechtes Gewissen, besonders gegenüber dem alten Pastor. Ich habe mich jedenfalls nicht mehr getraut, ihm unter die Augen zu treten. Und als er dann wenig später starb, da habe ich so manches Mal gedacht, dass er ja vielleicht auch aus Gram über mich gestorben ist.

Gerhard ist dann seinen Weg gegangen, hat seinen Platz im Leben und in der Gesellschaft gefunden. Er hat dabei manche Enttäuschung erlebt, „von den Roten genauso wie von den Schwarzen“, wie er es ausdrückt. Aber gerade deshalb hat ihn diese Geschichte nicht losgelassen. Denn von der Kirche, so sagt er, bin ich nicht enttäuscht worden. Deshalb hat er auch die Schuhe von damals aufgehoben, bis heute. Und deshalb steht er jetzt vor mir: Um diese Geschichte zu einem guten Ende zu bringen.

So füllen wir gemeinsam den Antrag auf Wiederaufnahme in die evangelische Kirche aus. Und als ich das Siegel darunter setze, habe ich das Gefühl, dass damit weit mehr besiegelt ist als nur der Wiedereintritt in unsere Kirche.

Am Ende überreiche ich ihm eine Kerze als Begrüßungsgeschenk. Und in der Kirche habe ich wenig später noch eine zweite Kerze angezündet; in Erinnerung an den alten Pastor. Denn die Sohlen, die er damals verschenkt hat, die haben Gerhard seitdem begleitet. Und ich glaube, ein Ziel seiner Lebenswanderung hat er durch sie jetzt erreicht.

20.06.2017
Olav Metz