Erkenne mein Herz

Wort zum Tage
Erkenne mein Herz
02.03.2017 - 06:20
01.03.2017
Pfarrerin Marianne Ludwig

„Für diese kurze Strecke lasse ich mein Auto stehen. Ich gehe zu Fuß, diese Zeit nehme ich mir.“ Noch vor einem halben Jahr wäre ihm das nie in den Sinn gekommen. Mit dem Auto ging es schließlich am schnellsten. Zeit war kostbar bei seiner beruflichen Verantwortung. Zeit zu vergeuden konnte er sich nicht leisten.

 

Manchmal ertappte er sich dabei, im Dienstgebäude lieber die Treppe als den Fahrstuhl zu benutzen. Es machte ihn ganz kribbelig, auf den Fahrstuhl zu warten. „Stillstand ist wie Rückschritt“: Das war sein Credo über viele Jahre.

 

Bis es irgendwann plötzlich nicht mehr ging. „Ich saß in der Besprechung und was gesagt wurde, kam einfach nicht bei mir an. Ich sah zwar, das die Münder auf und zugingen, aber ich habe nichts mehr verstanden. Mein Gehirn hat einfach dichtgemacht. Ich hatte solche Angst, verrückt zu werden!“ Nach dem psychischen Zusammenbruch folgte ein monatelanger Klinikaufenthalt. Nur langsam geht es aufwärts. Vieles muss er ganz neu lernen. Im Yogakurs schämt er sich fast, wenn er merkt, wie unbeweglich er geworden ist. Jedenfalls zu Anfang. Wenn man ihn in den Gesprächskreisen fragt: „Wie geht´s Dir?“, weiß er oft keine Antwort. Wie soll es ihm schon gehen? Ziele und Herausforderungen sind in seinem Leben das Wichtigste gewesen. Dazu die Verantwortung für andere. Zwar steht er beruflich da, wo er immer hingewollt hat, aber zu welchem Preis? Manchmal steigen sogar Tränen hoch, wenn er über sein bisheriges Leben nachdenkt. Aber immerhin: Er hat jetzt eine neue Chance.

 

Spaziergänge tun ihm gut. In den Gärten entdeckt er Schneeglöckchen und Märzenbecher, die ersten Krokusse. Wie tapfer sie gegen Schnee und Frost ankämpfen! Und wie die Hyazinthen duften! Zum ersten Mal nimmt er wieder Gerüche wahr! Im Raum der Stille gelingt es ihm am besten, zur Ruhe zu kommen. „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz“, diese Worte aus dem 139. Psalm hat ein Mitpatient ins Gästebuch geschrieben. Genau darum geht es doch auch für ihn, oder? Die eigenen Antreiber zu erkennen, die ihm so lange im Nacken gesessen und selbst am Spazierengehen gehindert hatten. Neue Wege zu erforschen. Und dem Weg seines Herzens zu vertrauen.

01.03.2017
Pfarrerin Marianne Ludwig