HAST DU EIN TASCHENTUCH? (1) Diese Frage stellt die Mutter jeden Morgen, wenn ihr kleines Mädchen aus dem Haus geht. HAST DU EIN TASCHENTUCH? Erst fragt sie das beim Weg in die Schule, später beim Weg in die Fabrik. Noch viele Jahre danach erinnert sich die Frau an ihre Kindheit und die Frage der Mutter: HAST DU EIN TASCHENTUCH? Die Frau weiß auch noch: In der Schublade im Schrank waren die Taschentücher sorgfältig geordnet. Links die großen für Vater und Großvater, rechts die etwas kleineren für Mutter und Großmutter, in der Mitte die ganz kleinen Taschentücher für das Kind.
Die Taschentücher sind aber nicht nur für die laufende Nase. HAST DU EIN TASCHENTUCH? war das Zeichen der Liebe, der Fürsorge der Mutter, erzählt die Tochter heute, vierzig Jahre später. Umarmungen und Küsse gab es selten. Es gibt aber die unscheinbare Frage nach dem Taschentuch. Die kleine Frage ist in Wahrheit eine große und sagt: Ich hab‘ dich lieb, ich sorge mich um dich; pass bitte gut auf dich auf. Als nähme die Mutter ihr Mädchen fest in ihre Arme, so fragt sie: HAST DU EIN TASCHENTUCH?
Liebe nutzt oft seltsame Worte und Taten. Als sei sie schüchtern, als wolle sie sich verstecken und nicht auffallen. Als wären Worte zu wenig, dafür aber ein gebügeltes Taschentuch nötig oder ein dickes Butterbrot. Manche Liebe liegt eher in kleinen Fragen wie: Warum bist du so blass? Hast du deine Tasche schön gepackt? Willst du einen Teller Suppe? Soll ich dir den Knopf annähen? Kleine Fragen, große Fürsorge. Man muss ja nicht von Liebe reden, solange man sie im Herzen trägt. Der andere braucht nicht auf große Worte zu warten, wenn er kleine Fragen hört oder den schön gedeckten Tisch sieht. Manche sind ein bisschen verschämt, ihnen gelingt die Liebe nicht als Umarmung oder als Küsse. Zum Glück geht Liebe auch anders. Sie ist dann Fürsorge, einfach und alltäglich. Die große Liebe kann auch in ganz kleinen Schritten daherkommen und fragen: Wie geht es dir heute? Du bist so ernst, hast du dich geärgert? Erzähl’s mir, ich habe jetzt Zeit. Wie immer sie sich auch zeigt, sagt Liebe doch immer das Eine: Du bist nicht allein auf der Welt.
(1) nach Herta Müller: Rede zur Verleihung des Literaturnobelpreises am 8. Dezember 2009, Carl Hanser Verlag, München (Frau Müller schreibt die Frage immer in Großbuchstaben: HAST DU EIN TASCHENTUCH?)