Spar deinen Wein nicht auf für morgen

Wort zum Tage
Spar deinen Wein nicht auf für morgen
05.12.2016 - 06:23
02.12.2016
Pfarrerin Kathrin Oxen

Seit vielen Jahren habe ich zwei Nägel in der Küchenwand. An dem einen hängt der Familienplaner. Er hilft mir, im Alltag den Überblick zu behalten. Der andere Nagel ist fast das ganze Jahr leer. Erst ab dem 1. Advent kommt er zum Einsatz.

Denn dann hänge ich meinen Adventskalender auf. Er heißt „Der Andere Advent“. Schokolade ist nicht drin, dafür aber jeden Tag ein Bild und ein Text zum Drüber-Nachdenken. Ich brauche zwei Nägel, weil dieser Kalender nicht ein Loch zum Aufhängen in der Mitte hat, sondern zwei, links und rechts. Ich weiß, dass es viele Menschen gibt, die diese zwei Nägel in der Küche haben. Oder sie seufzend wieder in die Wand schlagen in jedem Jahr. Diesen Kalender gibt es schon seit über zwanzig Jahren. Mehr als 600 000 Stück werden davon verkauft.

Vorfreude kann man auch an einem leeren Nagel aufhängen. Dieser Kalender hat mir über die Jahre schon viele gute Gedanken geschenkt. Ich liebe ihn dafür. Und wenn ich den leeren Nagel in meiner Küche sehe, denke ich: Bald ist es soweit. Bald kommt wieder der Kalender. Dann lese ich morgens in der halbdunklen Küche erst das Kalenderblatt, bevor ich anfange, die Pausenbrote zu schmieren. Ein Moment jenseits der täglichen Notwendigkeiten. Zeit für mich, bevor der Alltag beginnt.

Ich denke dann auch an meine Freundinnen, denen ich den Kalender jedes Jahr schenke. Sie stehen wie ich in der Küche, schmieren Pausenbrote für die Kinder oder machen sich für die Arbeit fertig. Und wir alle lesen das gleiche Gedicht oder die gleiche Geschichte.

„Spar deinen Wein nicht auf für morgen“ steht heute im Kalender. Ein Lied von Gerhard Schöne, eine Aufforderung, das schöne und wahrhaftige Leben nicht zu verschieben, sondern es ins tägliche Leben zu holen. „Spar nicht mit deinen guten Worten“; „spar deine Liebe nicht am Tage“, „spar deinen Mut nicht auf für später“. Wenn wir das alle beherzigen würden, wenigstens heute, und möglichst viele von den 600 000 anderen Kalenderbesitzern auch – das müsste doch zu merken sein. Ganz bestimmt bei den Menschen um uns herum.

Ich musste unseren Familienplaner jetzt abhängen. Wegen der zwei Nägel. Er musste Platz machen für die andere Zeit. Wenn der Kalender für diese Advents- und Weihnachtszeit zu Ende ist, dann bleibt der leere Nagel in der Küchenwand. Meine Vorfreude hängt daran. Und meine Sehnsucht nach mehr Leben im Leben. Manchmal denke ich, dass sie es sind, die mein Leben zusammenhalten.

02.12.2016
Pfarrerin Kathrin Oxen