Tintenfasswurf

Wort zum Tage
Tintenfasswurf
14.08.2017 - 06:20
14.08.2017
Pfarrer Florian Ihsen

Peng! – Das Tintenfass zerschellt an der Wand und hinterlässt einen schwarz-blauen Fleck. Langsam rinnen ein paar Farbspuren hinab. Dann wird das Blatt abgehängt und gegen ein neues ausgetauscht. – Wieder holt einer der Männer in den eigentümlichen Schutzanzügen aus und zielt mit dem Tintenfass auf das weiße Blatt Papier. – Peng! – Wieder spritzt und rinnt die Farbe. – Man kann von Glück sagen, dass der restliche Teil des mittelalterlichen Zimmers wie bei einem Malereinsatz vollständig mit Plastikplanen ausgekleidet ist. Immerhin ist es nicht irgend ein Zimmer, sondern die Lutherstube auf der Wartburg in Eisenach!

 

Hier, wo der Reformator – inkognito als Junker Jörg – das Neue Testament übersetzt haben soll, haben sich die beiden Künstler Bazon Brock und Moritz Götze eine Art Labor eingerichtet, um den wohl bekanntesten aller Tintenfasswürfe der Zeitgeschichte nachzustellen: Der Legende nach soll Martin Luther während seiner Übersetzungsarbeit mit einem Tintenfass nach dem Leibhaftigen geworfen und damit einen Fleck auf der Vertäfelung des Raumes hinterlassen haben. Historiker streiten sich, ob das – mangels Spuren – so gewesen sein kann oder ob man die Legende nicht eher symbolisch verstehen müsste: Schließlich lässt sich die Übersetzungsarbeit des Reformators mit Federkiel und Tinte auch als beherzter „Tintenfasswurf“ nach dem Papst, in Luthers Augen nach dem „Antichristen“, verstehen.

 

Bazon Brock und Moritz Götze wollten es genauer wissen. So wie Kriminalisten Tatorte nachstellen, um herauszufinden wie genau sich ein Verbrechen abgespielt hat, so haben die beiden – mit einem Augenzwinkern – den Tatort Eisenach rekonstruiert , um den genauen Hergang des reformatorischen Geschehens nachvollziehbar zu machen. Ergebnis: Über 100 Schüttbilder, die ein wenig nach dem US-amerikanischen Expressionisten Jackson Pollock aussehen, der in den 1940er Jahren mit seinen „Drip Paintings“ Furore machte. Kein Wunder, dass die aktuelle Ausstellung „Luther und die Avantgarde“, die an drei Orten, in Wittenberg, Berlin und Kassel stattfindet, und die mit über 66 Positionen nach den künstlerischen Spätfolgen des reformatorischen Geistes Ausschau hält, einen der Flecke als Signet ihres Projektes übernommen hat. Für sie steckt im Gestus des Tintenfasswurfs ein Stück widerspenstiger Energie, die den Reformator zum Vorläufer künstlerischer Avantgardisten macht.

14.08.2017
Pfarrer Florian Ihsen