Das Wort zum Sonntag

Dr. Wolfgang Beck

Foto: Julia Feist

Dr. Wolfgang Beck

Das Wort zum Sonntag
Pfarrer Dr. Wolfgang Beck
22.10.2016 - 23:30

"Manchmal kann ich gar nicht hinschauen!", liebe Zuschauerinnen und Zuschauer. Manchmal kann ich gar nicht hinschauen, wenn Berichte von flüchtenden Frauen mit Kindern im Arm auf einem überfüllten Schlauchboot zu sehen sind. Oder wenn in den Nachrichten Bilder aus dem umkämpften Aleppo gezeigt werden. Dann kann ich manchmal gar nicht hinschauen. Es gibt so Situationen, in denen man etwas sagen oder etwas machen müsste. Denn auch dann, wenn ich eigentlich gar nicht hinschauen mag, habe ich das Schlimme natürlich längst gesehen. Ich habe die Probleme gesehen und habe doch keine Antwort, keine Lösung, keinen Rat. Da bin ich überfordert. Das ist wohl bei den meisten von uns so. Klar, ich kenne die Berichte über Jesus, der die Menschen am Straßenrand wahrnimmt, so gut. Und doch gelingt mir selbst das Hinsehen meist nur sehr schwer.

Aber das eigentliche Problem ist: wegschauen funktioniert nicht richtig! Denn da ich nun einmal hörend und sehend durchs Leben gehe, kann ich mich nicht auf eine neutrale Position zurückziehen. Ich kann auch nicht wie ein Kind die Hände vor die Augen halten und davon ausgehen, dass ich nichts sehe und die anderen mich auch nicht. Wer die Augen schließt oder wegschaut, der hat ja schon das Schlimme gesehen. Und das lässt sich nicht rückgängig machen. Die Augen schließen sich immer einen Augenblick zu spät.
 
Diese Sache mit dem Hinsehen ist eine ziemlich große Herausforderung. Das beschreibt die Journalistin Carolin Emcke in ihren Artikeln und Büchern eindrucksvoll. Sie wird morgen mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Sie versucht, die Aufmerksamkeit auf Menschen und Schicksale zu lenken, die häufig gar nicht gesehen werden: auf Menschen, die nicht den üblichen Vorstellungen vom vermeintlich "Normalen" entsprechen. Auf Biografien, die nicht standardisiert verlaufen. Ihre Arbeiten lassen sich als Aufruf verstehen: Mensch, sieh gefälligst hin! Denn schon das Hinsehen wird zu einem politischen Akt. Mit dem Hinsehen verändert sich etwas, weil ich dann nicht mehr neutral bleiben kann. Wer hinsieht und vielleicht noch denkt, "das kann ich gar nicht mit ansehen", der ist längst zum Zeugen geworden. Der kann nie mehr sagen: "Ich habe nichts gewusst." Der hat längst etwas mitbekommen und ist mittendrin, ob er will oder nicht. Als Zeuge bin ich da selbst längst Teil des Geschehens.
Wenn in der Tradition der christlichen Kirchen von Zeugen gesprochen wird, dann sind damit Menschen gemeint, die für ihre Überzeugung ihren Kopf hingehalten haben. Das ist immer ein wichtiger Aspekt des christlichen Glaubens gewesen. Und ist es immer noch. Aber es gibt zugleich auch ein anderes Bezeugen. Da werde ich Zeuge davon, dass Menschen in ihrer Situation übersehen werden, schlecht behandelt, ausgegrenzt. Sie zu sehen ist zentral: Die Rentnerin, bei der das Geld so knapp ist, dass sie nun Leergut sammelt. Homosexuelle Jugendliche, denen der Weg ins Leben nicht leicht gemacht wird. Frauen, die um ihren beruflichen Aufstieg kämpfen müssen. Diese Menschen und ihre Situation zu bezeugen, bedeutet ganz einfach, die zu sehen, denen das Leben schwer gemacht wird. Und das ist nicht zu unterschätzen: Dieses Bezeugen ist ein erster Schritt, Dinge zu verändern. Hinsehen ist immer schon politisch!
 
Die Journalistin Carolin Emcke formuliert mit ihrem vielfältigen Plädoyer "Sieh hin!" für mich als Christen einen wichtigen, anspruchsvollen Hinweis: Du hast auch und gerade die zu bezeugen, sie also zu sehen und anzusprechen, die sonst einfach gar nicht richtig vorkommen. Sieh gefälligst hin, auch wenn es schwer fällt!