Mehr Präsenz gewünscht im Krimi: Die Notfallseelsorger

Der EKD-Medienbeauftragte hat Ideen für ein spannendes Drehbuch. Und ist mit Autoren im Gespräch

Anrührende Szenen
 
VON MARKUS BRÄUER
 
Doktor, wann ist der Tod eingetreten?“ „Genau kann ich es noch nicht sagen. Ich melde mich nach der Obduktion.“ Dialoge wie dieser sind fast in jedem Krimi zu hören. Der Gerichtsmediziner hat einen Platz im deutschen Film. Zu Recht genießt sein Berufsstand in den letzten Jahren immer größeres Ansehen. Anwalt der Toten zu sein und zu einer Aufklärung der womöglich auch unnatürlichen Todesumstände beizutragen, ist ein hehres Anliegen. Das ZDF hatte großen Erfolg mit der Serie „Der letzte Zeuge“, in der Ulrich Mühe und Gesine Cukrowski die Hauptrollen spielten.
 
Notfallseelsorger dagegen kommen in Krimis kaum vor. Im realen Leben überbringen sie Todesnachrichten an die Angehörigen. Polizisten weinen sich bei ihnen aus. An Krankenbetten harren oft sie bis zum Ende aus. Seit Anfang der Neunzigerjahre ist die Notfallseelsorge ein ebenfalls hoch geschätztes Angebot der Kirchen. Aber sie haben es noch zu keiner Hauptrolle im Abendprogramm geschafft – und auch kaum zur Nebenrolle.
 
Dabei wäre ein Drehbuch gut vorstellbar: Ein 70-jähriger Mann bekommt plötzlich schwere Schmerzen in der Brust und wird in Minutenschnelle ohnmächtig. Seine Frau ruft die Feuerwehr an und beschreibt die Symptome. Nach knapp zehn Minuten trifft der Rettungswagen ein. Zwei Rettungsassistenten pressen ihm die Hände auf die Brust – Herzdruckmassage. Das EKG-Gerät und der Defibrillator für die Elektroschocks werden angeschlossen. Wenige Minuten später kommt der Notarzt, sticht einen Zugang in die Halsvene, schiebt ihm den Schlauch des Beatmungsgerätes in den Hals, während er hilflos auf dem Wohnzimmerteppich liegt.
 
Die Frau steht im Türrahmen, bis sie von den Helfern in die Küche gedrängt wird, sie betet und weint. Nach einer Stunde wird die Angst zur Gewissheit: Der Infarkt war zu stark. Der Rettungsassistent der Feuerwehr geht zum Auto und gibt an die Leitstelle durch, dass der Patient gestorben ist. Die Leitstelle ruft bei der Polizei an. Der Notarzt, der gerade das Elektroschockgerät beiseitegelegt hat, teilt der Ehefrau mit, dass ihr Mann verstorben ist. Er sagt „verstorben“, und das Wort kommt ihm sichtlich schwer über die Lippen. Vier Männer stehen hilflos um die weinende Frau herum und ahnen, was ihr im Kopf herumgeht: Das zu schnelle Ende von fast 50 gemeinsamen Jahren.
 
Der Notarzt kreuzt im Totenschein an: ungeklärte Ursache. Er ist kein Hausarzt, weiß nichts über die Krankheitsgeschichte des Mannes. Die mit Blaulicht eingetroffenen Polizisten achten darauf, dass nichts verändert wird und niemand den Toten berührt, bis die Kriminalpolizei eintrifft. Das kann länger dauern als im „Tatort“, mitunter mehrere Stunden. Aus medizinischer Sicht ist die Ehefrau „stabil“. Dass sie über Stunden nichts mehr getrunken hat, bemerkt niemand, ebenso wenig ihre blasse Gesichtsfarbe. An die Telefonnummern der Kinder, mit denen sie jeden Tag spricht, kann sie sich jetzt nicht erinnern. Alle fahren wieder ab. Nur zwei uniformierte Polizeibeamte stehen vor der geschlossenen Tür, hinter der ihr verstorbener Mann liegt.
 
Nach einer halben Stunde trifft die Seelsorgerin ein. Sie wurde „nachalarmiert“, wie es im Behördenjargon heißt, ist Gemeindepfarrerin und hat sich in der Notfallseelsorge ausbilden lassen. Was hier geschehen ist, hat sie als Hospitantin oft miterlebt. Wie Menschen reagieren, wenn der Partner stirbt, kennt sie aus Trauergesprächen. Sie kann vermitteln, trösten, mitbeten und erklären, was als nächstes passiert. Sie bereitet die Frau darauf vor, dass gleich die Kripo kommt und die erste Leichenschau durchführen wird.
 
In Abstimmung mit der Polizei bietet sie der Frau an, noch einmal zu ihrem Mann zu gehen und sich von ihm zu verabschieden, ihn zu berühren und so das Unfassbare zu begreifen: Er ist tot. Die Pfarrerin lädt ein, ein Gebet zu sprechen. Auch der Polizist faltet die Hände. Der erste Schock lässt nach. Wasser wird geholt, Telefonnummern werden gesucht, die ersten Gespräche geführt, die nächsten Angehörigen verständigt. Die Kripo fragt nach dem behandelnden Arzt, schaut sich die Medikamente an, die der Tote genommen hat, und gibt die Leiche meistens frei. Ein Bestatter wird benachrichtigt. Die uniformierten Polizisten verabschieden sich ebenso wie die Kripo. Die Notfallseelsorgerin wartet, bis der Bestatter kommt, der Tote in den Sarg gelegt ist. Sie spricht noch einmal ein Gebet und ein Segenswort, bevor man ihn mit den Füßen voraus davonträgt. Bis Freunde oder Nachbarn oder, je nach Entfernung, Kinder eintreffen, bleibt sie an der Seite der Witwe. Sie hält die Stille aus, das Schweigen, das Klagen, achtet darauf, dass die Frau trinkt und isst und tröstet ihre verletzte Seele. Drei Stunden verbringt sie mit ihr.
 
So oder sehr ähnlich laufen seit 20 Jahren Einsätze der Notfallseelsorge ab. Hinzu kommen Gespräche auf dem Hochhausdach mit einem zum Selbstmord entschlossenen Menschen, das Nachgespräch mit Feuerwehrmännern nach einem Wohnungsbrand mit Toten und Schwerstverletzten oder mit Beamten, die auf mutmaßliche Täter geschossen haben.
 
Es gibt anrührende und spannende Szenen und gute Gründe, den gelebten Glauben als Bestandteil der Lebenswirklichkeit von über 50 Millionen Christen in Deutschland auch im fiktionalen Programm zu vermitteln. Der Mensch besitzt auch eine Seele, eine Sehnsucht nach Trost und Entlastung. Die Zusage, dass den Menschen mehr ausmacht als die Tatkraft seiner Hände, mehr als seine Leistungen und Fehlleistungen, hat etwas sehr Entlastendes.
 
Unabhängig von einer Kirchenmitgliedschaft bieten die Kirchen mit der Notfallseelsorge oder auch der Seelsorge im Krankenhaus eine Form der kulturellen Diakonie, einen Dienst für jeden an. Das zu vermitteln wäre eine lohnende Aufgabe der Fernsehunterhaltung. Nicht, weil die Kirchen das Fernsehen als erweiterte Öffentlichkeitsarbeit ansehen und Themen platzieren wollen. Sondern weil seelsorgerliche Hilfe in Krisen Menschen guttut. Und wenn auch im fiktionalen Programm vermittelt würde, dass fast jeder dem anderen ein guter Zuhörer sein kann, wenn er nur bereit ist zuzuhören, zu schweigen und Nähe auszuhalten, würde es der Kultur der Achtsamkeit zugutekommen. Zuhören und das Gespräch fördern, nicht urteilen, sondern wahrnehmen: Das lässt sich lernen. So wie Mediziner die Erstbehandlung eines Menschen auch Passanten zutrauen, denen man in Kaufhäusern und Bahnhöfen einen Defibrillator mit einer kurzen Gebrauchsanweisung an die Hand gibt, um den Herzschlag mit einem Stromstoß wieder zu synchronisieren.
 
Aber wie wird eine seelsorgerliche Grundhaltung im Spielfilm vermittelt oder das Vertrauen auf Gott, das über die sichtbare Wirklichkeit hinausreicht, im fiktionalen Programm dargestellt? Eine Familie, die im Film vor dem Abendessen betet, hat etwas Spießiges, weil die Szene über Jahre nur zur Verkörperung des Überholten diente. Vielleicht sind Kirche und Drehbuchautoren einander fremd geworden.
 
In Gesprächen mit Autoren ist nun eine neue Aufmerksamkeit zu spüren. In Workshops, die die Medienarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland mit dem Verband Deutscher Drehbuchautoren veranstaltete, war das Interesse groß. Was unterscheidet die Notfallseelsorge von einer Krisenintervention? Pfarrerinnen und Pfarrer haben Erfahrung, Trauernde zu begleiten. Sie sind geübt, Verstorbene auszusegnen, und sie verfügen über geistliche Kompetenz, vertrauenswürdig zu trösten. Durch das Beichtgeheimnis sind sie vor Gericht als mögliche Zeugen geschützt und können auch Polizeibeamte begleiten, wenn diese selbst zweifeln, ob sie die Pistole nicht zu schnell gezogen haben.
 
Vielleicht beginnt irgendwann einmal ein Gespräch zwischen Lena Odenthal und Mario Kopper im „Tatort“ so wie meist im richtigen Leben: „Ruf schon mal den Notfallseelsorger an! Ich kann der Mutter nicht ins Gesicht sagen, dass ihre Tochter getötet worden ist.“
 
Markus Bräuer ist Medienbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF)

 

                                                      Artikel am 28. Oktober 2010 im Rheinischen Merkur erschienen

 

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