1918

1918

John Sargent Singer, "Gassed" (1919)

1918
Das Ende von Thron und Altar, der Beginn einer Theologie der Krise
11.11.2018 - 08:35
07.09.2018
Peter Oldenbruch
Über die Sendung:

1914 zog die evangelische Kirche freudig mit in den Krieg, nach dem Ende des ersten Weltkrieges begannen einige Theologen neu nachzudenken und entwickelten eine „Theologie der Krise“.

 
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Heute vor genau 100 Jahren, in aller Herrgottsfrühe am 11. November 1918, unterzeichneten Franzosen und Deutsche den Waffenstillstandsvertrag. Damit endete der Erste Weltkrieg. In einem Eisenbahnwaggon mitten im Wald. „Im Westen nichts Neues“ behaupteten über Monate hinweg die Schlagzeilen der Zeitungen. Es gab auch nichts Neues, bloß den immergleichen Stellungskrieg. Immer und immer wieder stiegen meist junge Männer aus ihren Gräben und rannten wider die feindlichen Linien. Und die neuen Maschinengewehre mähten sie nieder. Oder die jungen Leute erstickten im ebenfalls neu entwickelten Giftgas,rangen um Atem, aber die zerstörten Lungen funktionierten nicht mehr. Neuneinhalb Millionen Soldaten waren am 11. November 1918 gefallen, als die Generäle im Salonwagen zusammensaßen. Und rund zehn Millionen Zivilisten hatten ihr Leben verloren. Dass dieser Krieg in einem solchen Grauen endet, hatte im August 1914 niemand geahnt. „An Weihnachten sind wir wieder zu Hause“, riefen die Soldaten, als sie im Sommer 1914 jubelnd in den Krieg zogen. Damals, 1914, rief Kaiser Wilhelm II. sein Volk zu den Waffen:

 

 „(…) Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Darum auf zu den Waffen!

Jedes Schwanken, jedes Zögern wäre Verrat am Vaterlande.

Um Sein oder Nichtsein unseres Reiches handelt es sich, das unsere Väter sich neu gründeten.

Um Sein oder Nichtsein deutscher Macht und deutschen Wesens.

Wir werden uns wehren bis zum letzten Hauch von Mann und Ross. [...]

Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit den Vätern war.“(1)

 

Der Kaiser meinte, er kenne nun keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr, sondern nur noch Deutsche. Ghostwriter dieser kaiserlichen Reden war ein deutscher Theologe: Adolf von Harnack, ein großer Gelehrter seiner Zeit, liberalerTheologe und Historiker, auch Wissenschaftspolitiker. Mit seinem Namen verbindet man das, was man Kulturprotestantismus nennt. Im März 1914 zum Beispiel wurde der Neubau der königlichen Bibliothek in Berlin feierlich eingeweiht. Adolf – mittlerweile – von Harnack hielt die Festrede. Wenige Meter neben ihm: der deutsche Kaiser. Und alle sind sie da, die „Großwürdenträger des Staates“: Reichskanzler von Bethmann Hollweg, das Reichstagspräsidium, die kommandierenden Generäle, der Ministerpräsident des Königreichs Württemberg Karl Hugo Freiherr von Weizsäcker, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, der Bankier Franz von Mendelssohn, der Oberbürgermeister von Berlin Adolf Wermuth und so weiter und so weiter. Für die Militärs schrieb die Kleiderordnung den Paradeanzug vor. Für die Herren in Zivil wünschte das Protokoll die „Gala mit dunklem Beinkleid bzw. Talar oder Frack mit weißer Binde“ (2). Prinzessin Cecilie von Preußen trug ein „bordeauxrotes Gewand nebst graugrünem Hut mit Reiherschmuck“. Die heutige Regenbogenpresse hätte ihre helle Freude daran. Der gerade in den erblichen Adelsstand erhobene Adolf von Harnack nennt die Bibliothek einen „Dom der Wissenschaft“. Und schließt seine Rede mit einem dreifachen „Hoch!“ auf den Kaiser. Von der Empore erklingt das „Salvum fac Imperatorum Nostrum“. Die Festversammlung lauscht stehend.

 

Adolf von Harnack, der liberale Universalgelehrte, war ein moderner und ein kritischer Wissenschaftler. Schon vor 1914 setzte er sich für das Recht von Frauen ein zu studieren. Und politisch war er eigentlich auf Ausgleich bedacht. Und schreibt dann trotzdem für seinen Kaiser einen Aufruf zum totalen Kampf: „bis zum letzten Hauch von Mann und Ross“. Und damit war er nicht allein. Ein Leipziger Pfarrer sprach an Pfingsten 1915 von einer „nie erlebten Fülle des Geistes“ zu Kriegsbeginn 1914. Das „Augusterlebnis“ von 1914 beschreibt er als eine „gewaltige Begeisterung“, die wie ein „Sturmeswehen“ damals alle erfasst habe. Die Begeisterung ist für diesen Pfarrer identisch mit dem biblischen „Geist der Kraft, der Liebe und der Zucht“, ja: Mit dem „heiligen Geist“, mit dem Gott den „deutschen Geist“ durchdrungen habe. Nicht alle waren von solchem „Augusterlebnis“ beseelt. Historiker sagen, in kleineren Städten und vor allem in ländlichen Regionen habe zu Kriegsbeginn „eine ausgesprochen niedergeschlagene, nachdenkliche und pessimistische Stimmung“ geherrscht. Ebenso in der Arbeiterschaft der Industriezentren. In keinem der vom Kriegsausbruch betroffenen Ländern habe es eine „rauschhafte“, sämtliche Bevölkerungsschichten ergreifende Kriegsbegeisterung gegeben. Das deutsche Bürgertum jedoch, die Evangelische Kirche und auch die deutsche Professorenschaft zogen überzeugt und fröhlich mit in den Krieg. Und auf dem Koppelschloss der deutschen Soldaten stand schließlich „Gott mit uns“.

 

Im Eisenbahnwaggon im Wald von Compiègne im November 1918 war das vaterländische Pathos verflogen. Die deutschen Armeen hatten den Krieg verloren. Auf dem Schlachtfeld! Und die Soldaten, nicht allein die Matrosen, wollten nicht mehr sterben und drückten sich, wo sie konnten. Am 11.11.1918 war eine ganze Welt zugrunde gegangen: Die monarchistische Welt der Kaiser, Könige und Reiterarmeen und auch die enge Verbindung von Thron und Altar. Bis November 1918 war der deutsche Kaiser als preußischer König „von Gottes Gnaden“ zugleich Oberhaupt der evangelischen Kirche. Die jeweiligen Landesherren regierten auch über die Kirche. Die Pfarrer wurden zwar von einem Presbyterium gewählt, jedoch von einem staatlichen Konsistorialbeamten in ihr Amt eingesetzt. Dieses landesherrliche Kirchenregiment fand am 11. November 1918 sein Ende. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 sicherte den Kirchen das Selbstbestimmungsrecht zu: Diese neue Freiheit wurde nicht erkämpft. Sie fiel der evangelischen Kirche in den Schoß. Und die musste sich erst daran gewöhnen. Und an die Demokratie. Nicht wenige wollten lieber den alten Kaiser Wilhelm wiederhaben. Aber nicht nur in der Verfassung der Kirche änderte sich etwas. 1918 führte auch bei manchen Theologen zu einem Umdenken, bei manchen, beileibe nicht bei allen. Adolf von Harnack zum Beispiel engagierte sich nach 1918 für die Demokratie, für die Weimarer Republik. Für viele seiner Kollegen, für viele in der Kirche galt er damit als Verräter, als „elender Demokrat“. Ein Theologe zog aus dem Versagen von Theologie und Kirche im 1. Weltkrieg ganz andere Konsequenzen. Die Theologie müsse sich ändern, meinte der. Und dies war nun kein deutscher Theologieprofessor, sondern ein Schweizer Gemeindepfarrer: Karl Barth. Barth war zunächst selbst ein liberaler, ein „kulturprotestantischer“ Theologe. Mit der liberalen Theologie und dem Kulturprotestantismus meinte er brechen zu müssen. 1919 veröffentlichte er einen Kommentar zum Römerbrief. Und im 13. Kapitel des Römerbriefes steht ja die berühmte und berüchtigte Passage über das „Verhältnis zur staatlichen Gewalt“.

 

„Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat.

Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet.

Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung.

Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst. Sie ist Gottes Dienerin und vollzieht die Strafe an dem, der Böses tut. Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen.

Deshalb zahlt ihr ja auch Steuer; denn sie sind Gottes Diener, auf diesen Dienst beständig bedacht. So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem Ehre gebührt.“

 

Das klingt nach preußischem Untertanengeist. Klingt aber bloß so, würde Barth wohl sagen. Der Staat – so interpretiert Barth die berühmte Passage - ist eine „Erscheinung des Zornes Gottes“. Und der Zorn Gottes straft die Menschheit, der Staat hält das Böse durch Gewalt im Zaum. Barth schreibt in seinem Römerbrief:

 

„Dass ihr als Christen mit Monarchie, Kapitalismus, Militarismus, Patriotismus und Freisinn nichts zu tun habt, ist so selbstverständlich, dass ich es gar nicht zu sagen brauche. Viel näher liegt euch natürlich die andere Möglichkeit, die im Christus kommende Revolution willkürlich vorauszunehmen und dadurch hintanzuhalten. Und davor warne ich euch! Das Göttliche darf nicht politisiert und das Menschliche nicht theologisiert werden, auch nicht zugunsten der Demokratie.“

 

Barth will nicht einfach die Ziele ändern. Motto: Statt den deutschem Nationalismus unterstützen wir jetzt die sozialistische Internationale! Nein, Theologie und Kirche sollten auf keinen Fall Gefahr laufen, dass Gott irgendwie vereinnahmt wird, nicht von den einen und nicht von den anderen. Christus sei vielmehr „eine uns unbekannte Ebene“, die jede uns bekannte „senkrecht von oben“ durchschneide. Die Rede von Gott kann keine bestimmte Staatsform oder Politik legitimieren. Das sind ganz verschiedene Ebenen. Barth plädiert 1919 für eine Differenz auch zwischen Staat und christlichem Glauben. Der Staat sei zuständig für

 

„Flammenwerfer, Minenhunde, Gasmasken, Fliegerbomben und Unterseeboote; nicht eben Gerätschaften des Himmelreichs. Aber gerade weil wir zum Staat kein positives Verhältnis einnehmen“ bezahlen wir „die Steuern, geben dem Kaiser, was des Kaisers ist. Wir anerkennen ohne Zaudern noch Reserve, dass der Staat in seiner Sphäre das Recht hat, es von uns zu verlangen. […] Aber keinen Schritt weiter! Sang- und klang- und illusionslose Pflichterfüllung, aber keine Kompromittierungen Gottes! Zahlung des Obolus, aber keinen Weihrauch den Cäsaren! Staatsbürgerliche Initiative und staatsbürgerlicher Gehorsam, aber keine Kombinationen von Thron und Altar, kein christlicher Patriotismus, keine demokratische Kreuzzugsstimmung. Militärdienst als Soldat oder Offizier, wenn‘s sein muss, aber unter keinen Umständen als Feldprediger. […] Als letztes grundsätzliches Wort von Gott aus immer: Es vergehe diese Welt und es komme dein Reich.“

 

Ausgehend von Paulus baut Barth in seine Theologie eine Differenz ein. Eine Differenz zwischen Gott und allem anderen. Das Göttliche darf nicht politisiert und das Menschliche nicht theologisiert werden, nicht einmal zugunsten der Demokratie. Mit dieser 1919 entwickelten Differenztheologie hatte Barth ein theologisches Besteck entwickelt, mit dem er sich auch 1935 wehren konnte, als Nationalsozialisten die evangelische Kirche vereinnahmen wollten und vereinnahmt haben. Das alles ist Geschichte. 2018 äußert sich die evangelische Kirche nicht nationalistisch. Den preußischen Untertanen gibt es so nicht mehr. Die unselige Kombination von Thron und Altar kommt nur noch im Geschichtsunterricht vor. Und vor einer allzu schnellen Identifikation mit der heutigen Staatsform Demokratie muss man niemanden warnen. Eher im Gegenteil. Die Demokratie sieht in Deutschland älter aus als sie ist, gerade mal 70 Jahre, nach dem zweiten Anlauf 1948. Und sie weckt keine spürbare Begeisterung. Verbreitet ist eher eine gewisse Gleichgültigkeit.

Und spürbar auch ein „Verhalten des Jammerns und Schimpfens“ (3), und deutliche Distanz zum eigenen Staat zeigen nicht wenige bei ihrer Steuererklärung. Vielleicht müsste man heute den Römerbrief des Apostel Paulus nicht nur neu interpretieren wie Karl Barth, sondern zu Teilen neu formulieren. Statt „Jedermann sei untertan der Obrigkeit“ müsste es heute womöglich heißen:

 

„Jedermann sei ein Mitgestalter der Obrigkeit, deren Gewalt über ihn begrenzt ist.

Denn es ist keine Obrigkeit von Gott; Wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Menschen gemacht. Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus.“(4)

 

Demokratische Staaten brauchen keine Untertanen, sondern Menschen, die sich – statt auf „die da oben“ bloß zu schimpfen – einmischen und mitgestalten. Vor Ort im Verein, in der Kirchengemeinde und selbstverständlich auf dem Wahlzettel.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

Musik dieser Sendung:

  1. Domine Salvum, Barbara Hendricks, Laurence Dale, Jean-Philippe Lafont, Messe Solennelle de Sainte Cécile
  2. Heil dir im Siegerkranz, Historische Aufnahme, vermutlich vor 1918, Hymnen der Deutschen
  3. Verleih uns Frieden gnädiglich (Martin Luther), Trio Choralkonzert
     

 

O-Ton:

Aufruf von Kaiser Wilhelm II. an das deutsche Volk, Der Kaiser kommt – der Kaiser geht

 

 

Literaturangaben:

  1. https://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/archivradio-1914-rede-wilhelm/-/id=2847740/did=13055882/nid=2847740/76pu0x/index.html
  2. http://docplayer.org/61408075-Eroeffnung-der-koeniglichen-bibliothek-1914-am-rednerpult-adolf-von-harnack-zeichnung-von-felix-schwormstaedt-fuer-die-illustrierte-zeitung.html
  3. http://www.thierse.de/reden-und-texte/reden/seitentitelfastenpredigtreihe-2014-im-berliner-dom-30-maerz-2014
  4. Harald Schroeter-Wittke, in: Predigtstudien 2017/2018, 232
     
07.09.2018
Peter Oldenbruch