Der fremde Mantel

Der fremde Mantel

© epd-bild/Joern Neumann. Fluechtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos (Foto vom 28.02.2020).

Der fremde Mantel
Zum Weltflüchtlingstag
21.06.2020 - 08:35
30.01.2020
Günter Ruddat
Über die Sendung:

Es sind Erfahrungen von Abschiednehmen und Fliehen, Ankommen und Bleiben, die sich in den Texten der syrischen Schriftstellerin Nahed Al-Essa spiegeln. Die Geschichte vom „geteilten Mantel“ ist eine moderne Martinsgeschichte. Sie erzählt von Mitmenschlichkeit und Solidarität. Ein Plädoyer gegen Egoismus und Menschenverachtung zum Weltflüchtlingstag.

 
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Sendung nachlesen:

Ich komme aus einem Land,

das meine Seele immer noch festhält,

in dem ich meine schönsten Jahre verbrachte,

in dem es einen besonderen Duft gab,

überall,

aber leider nicht mehr.

 

Der Duft des Jasmin

ist überdeckt

vom Geruch des Pulvers der Patronen,

der Angst, vom Gestank nach Tod.

Jetzt stirbt jede Minute eine Hoffnung.

 

Ich komme aus der Stadt des Jasmin,

und ich schloss in meinem Herzen

viel von ihr ein,

als ich sie verließ.

 

Wenn ich von Damaskus erzähle,

riechen die Menschen,

die mir zuhören,

den Duft dieser Blumen

und sie sehen

sie in meinen Augen. (1)

 

Nahed Al-Essa ist im Herbst 2015 allein aus Damaskus geflohen. (2) Eine zierliche junge Frau. Ihre Augen leuchten, wenn sie erzählt. Ihre beiden kleinen Kinder kann sie ein Jahr später mit einem Visum nach Deutschland holen. Sie findet Arbeit, gleich in drei Jobs, als Bürokraft, Beraterin und Dolmetscherin. Gleichzeitig kann sie ihren literarischen Weg als Schriftstellerin fortsetzen, sie gestaltet Lesungen auf verschiedenen Bühnen in Nordrhein-Westfalen. 2019 endlich eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.

Kennengelernt habe ich Nahed Al-Essa vor zwei Jahren bei einer ersten Lesung in unserer Stadt. Ein Jahr später gewinne ich sie zur Mitarbeit, beim „Internationalen Frühlingsfest“. Das ökumenische Netzwerk Flüchtlingshilfe (3) hatte dazu eingeladen, in unser evangelisches Gemeindehaus. Es gab orientalische Köstlichkeiten, zubereitet von Flüchtlingsfamilien und deutsche Kuchen, gebacken von Menschen aus dem Stadtteil. Menschen begegnen sich, teilen Essen und Trinken. Und Erfahrungen. Wie in den Geschichten von Nahed Al-Essa, die an diesem Nachmittag aus ihren Texten liest.

 

Jedes Mal, wenn die Kälte mich erfasst, denke ich an den fremden Mantel am Strand der Flucht, den ich von einem Mann, der neben mir lag, bekam. Er hat meinen Herzschlag gehört, die Kälte sowie die Liebe beschleunigen unseren Herzschlag.

Als der Himmel mein Dach und der Sand mein Bett waren, hat der Fremde mir das Wärmegefühl geschenkt. Als meine Lippen hellblau geworden waren, sagte er „wir -die Männer- können die Kälte länger ertragen“ und gab mir den Mantel.

In acht Schlauchbooten fuhren wir zum anderen Ufer, sieben Boote kamen an, eins kam im Jenseits an. Das ganze Boot mit den Träumen der Fahrgäste, der Flüchtlinge ist im salzigen Wasser gelandet, für ewig verschwunden.

Seitdem meine Träume und ich gerettet wurden, denke ich daran, ob die Männer die Untreue des Meeres auch besser aushalten können, dann sollte der Fremde überlebt haben.

Ich hoffe es sehr.

Ich hatte den fremden Mantel an, bis ich ihn an der serbischen Grenze einem Kind weitergeschenkt habe. „Wir können die Kälte länger ertragen“, sagte ich.

Das Kind fragte „Wer seid ihr?“ Ich antwortete „Wir sind die, die nicht ertrunken sind.“

„Für die Seele eines jeden Anonymen lese ich diese Geschichte vor“ (4)

 

 

Bei diesem Fest, damals vor einem Jahr in unserem Gemeindehaus, sind es keine dramatischen Bilder von Flüchtlingen im Fernsehen. Sondern Menschen aus unserem Stadtteil, die Geflüchteten von Angesicht zu Angesicht begegnen.

Es ist mucksmäuschenstill im Raum, wenn Nahed liest.

Dieses Jahr gibt es kein solches Fest zum Weltflüchtlingstag. Wegen Corona und der Ansteckungsgefahr.

Aber auch, weil die Welle begeisterter Willkommenskultur längst verebbt ist. Einige Geflüchtete sind aus den Sammelunterkünften in kleinere Wohngemeinschaften gezogen. Oder es haben sich Wohnungen gefunden für Familien, denen wir beim Einrichten helfen können. So wurde auch unsere alte Schule mitten im Dorf geräumt. Die Zeit der Notunterkünfte im Klassenzimmer, Wohnraum für viele, geteilt durch Vorhänge, ist vorbei. Die Flüchtlinge müssen weichen, umziehen in eine neu errichtete, ziemlich seelenlose Container-Siedlung, wie ein Gefangenenlager umzäunt und isoliert am Rand des Stadtteils. Ansätze von Integration erledigen sich im Laufe der Zeit, Kontakte vereinzeln sich, Rückzug allerorten.

Perspektiven zu entwickeln, was es heißt: Bleiben? – das ist nach wie vor nötig. Wenn „Integration“ nicht nur eine wohlfeile Worthülse bleiben soll.

 

Jede Nacht packe ich meine zwei Sachen und ziehe um.

Von Deutschland nehme ich meine Armbanduhr mit und Augentropfen.

Ich warte, bis die Dunkelheit kommt, dann schleiche ich über die Grenze,

wie ein Phantom, erwache in meiner Stadt, Damaskus.

Unendliche Geschichten reihen sich aneinander.

In Damaskus ist die Nacht ein anderes, intensiveres Leben,

eine Nacht dort, ist wie tausend Nächte hier.

Damaskus verschließt ihre Augen nicht vor uns,

aber eines ihrer Augen ist verwundet.

Sie kann uns kaum sehen…

Meine Stadt mit den strahlenden, braunen Augen,

von der auch ich meine Augen bekam.

Ich setze mich zu ihr, sie schenkt mir einen Kaffee ein

und erzählt von neuen Menschen, die kamen und in die historischen Häuser zogen. Die Häuser sind andere geworden, mit den Menschen, die sie jetzt bewohnen.

Sie weint und erzählt:

Die Gesichter in der Stadt haben ihr Lächeln verloren.

Das Glück wurde zerbombt. Straßen brechen auseinander.

Die Menschen, die ich kannte, sind geflohen, oder sie wurden getötet.

Oder träumen von der Sonne.

Wie mein Auge hat die Zukunft ihr Licht verloren, sie wurde verletzt.

Was sicher war, ist nur noch eine Erinnerung.

Den Frieden sehe ich nicht.

Dann schweigt Damaskus.

In ihr Auge gebe ich die Tropfen, die ich für sie mitnahm,

um sie zu heilen, meine Liebe.

Ich setze mich neben sie, trinke meinen Kaffee, bis sie schlafen kann.

Meine Armbanduhr erinnert mich.

Es ist Zeit, ich muss in die Gegenwart zurück.

Ich stehe auf, höre auf zu träumen, bis es Abend wird.

Dann packe ich meine zwei Sachen und ziehe um. (5)

 

 

Nahed hat eine neue Wohnung gefunden, für sich und ihre Kinder, ganz nah Schule und Kindergarten. Andere haben nicht so viel Glück. Die Menschen in der Container-Siedlung ziehen sich weitgehend zurück und am Ende auch die Ehrenamtlichen aus unserem Netzwerk Flüchtlingshilfe. Sie konzentrieren sich auf einzelne Kontakte bei der Sprach- oder Arbeitsvermittlung, bei der Begleitung der individuellen Lebensumstände.

Oder sie engagieren sich für Aktionen wie „Sichere Häfen“, die „Aktion Seebrücke“ oder die „Rettungskette für Menschenrechte“. Weil sie sich berühren lassen von den nicht endenden Bildern in den Nachrichten, von umherirrenden Rettungsschiffen oder von hoffnungslos überforderten Lagern auf den griechischen Inseln

Tatenlos bleiben angesichts um sich greifender humanitärer Bankrotterklärungen will ich nicht. Mir erscheint es dramatisch, wie jeder „Tropfen auf den heißen Stein“ noch verpufft, wenn etwa um die Aufnahme von unbegleiteten Kindern gefeilscht und geschachert wird.

Mir gibt zu denken, wie Geflüchtete den Alltag in einer widerständigen, neuen Heimat auf Zeit erleben. Nahed denkt zurück und erzählt davon:

 

Ich war ein fertiger Mensch damals. Ich hatte einen Beruf, eine Familie, Freunde, Nachbarn und ein Zuhause. Ein echtes Zuhause! Das Dach gehörte mir, es war echt, nicht ausgeliehen. Die Zeit bewegte sich anders. Für mich hatte das Leben damals wenig mit Stress zu tun, mehr mit Genuss. Wie ein Schmetterling flog ich von einer Rose zur nächsten. … Dies alles war, als der Himmel noch frei war, als es noch viele Schmetterlinge gab. … Als das Herz von Damaskus noch schlug. …

Dieses Ich kam nach Deutschland und erfährt das neue Leben wie eine eisig kalte Dusche. Kaltes Wasser ist gesund, natürlich, vor allem wenn man vor dem Feuer flieht. Aber das kalte Wasser wollte gar nicht aufhören zu fließen, als sei der Hahn kaputt. Jetzt langsam wird das Wasser wärmer, oder meine Nerven sind stärker geworden. Meine Haut scheut nicht mehr davor zurück. …

4000 Kilometer liegen zwischen mir und der Person, die wie ein Schmetterling war. Meine Flügel sind schwer geworden.“ (6)

 

 

Vier tausend zwei hundert zwei und zwanzig Kilometer.

So viel Kilometer ist die Entfernung zwischen meinem alten Ich und meinem neuen Ich. So viel Kilometer musste ich laufen, ohne Flügel fliegen, mit Schlauchboot fahren, ohne schwimmen zu können, übers Mittelmeer schweben, in einem Rucksack so viel wie möglich mitnehmen, Erinnerungen, Kraft und Willen. …

So viel Kilometer musste ich schaffen, um in einem sicheren Hafen zu landen. (7)

 

Ein sicherer Hafen – das ist noch nicht ‚der neue Himmel und die neue Erde‘,

von denen die Offenbarung in der Bibel schreibt.

Diese Zeit ist noch nicht gekommen,

weder für Einheimische, noch für die Geflüchteten,

die es geschafft haben, hier Zuflucht zu finden.

Aber auf jeden Fall ein Anfang, auch in diesen Zeiten von Corona,

Denn: Hoffnung ist nicht abgesagt, Solidarität bleibt angesagt,

damit für alle gemeinsam das Leben auch wieder nach Erdbeeren schmeckt.

 

Erdbeeren sind das Lieblingsobst meiner Kinder und von mir.

Das ist tatsächlich kein Zufall, gleich werdet ihr es feststellen,

wie unser Leben mal nach den reifen, süßen, kleinen, roten Erdbeeren schmeckte und ebenfalls nach gelben, grünen, harten, genusslosen.

Auf dem Fluchtweg war mein Lieblingsobst bitter.

Ich dachte, wenn ich diesen Weg lebensfähig überstehe,

dann werde ich Erdbeeren anbauen, mich auf die Ernte freuen.

Ich werde wahrscheinlich kein eigenes Feld haben,

aber ich kann doch in dem ganzen Land Erdbeeren pflanzen.

So kann ich überall unser Obst ernten.

Unser Lieblingsobst hat uns immer gelehrt,

dass schmackhafte Ergebnisse ihre Zeit brauchen. (8)

 

Nahed und ich teilen reife, süße, große Erdbeeren,

frisch gepflückt auf dem Feld eines Bauern aus der Nachbarschaft.

Es sind genug davon da, auch für die Kinder von Nahed.

Und für alle, die darauf hoffen,

Brot und Obst in Frieden essen zu können.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

Musik dieser Sendung:

Concerto Köln unter der Leitung von Werner Ehrhardt & Sarband unter der Leitung von Vladimir Ivanoff, Dream of the Orient (Der Traum vom Orient)


 

Anmerkungen:

(1) Stadt des Jasmin (2017), aus: Nahed Al Essa, 4222 Kilometer, Gedichte und Geschichten. Veröffentlichung als Buch geplant. (Vorveröffentlichung in: die brücke. ev. kirchengemeinde eppendorf-goldhamme, Bochum 1/2020, S. 33).

 

(2) Nahed Al Essa. Auf ihrer Website erzählt sie:

„Drei Brüder hatte ich, zwei sind auf der Welt verstreut, einer ist erschossen worden, für seinen Blut schreibe ich weiter. Drei Fluchtversuche, zwei sind gescheitert, einer ist mir gelungen, dank ihm schreibe ich weiter. Drei Jobs, zwei Kinder, ein Leben und ich schreibe weiter, dank dir …mein Vater… drei, zwei, eins, und so fängt die neue Herausforderung meines zweiten Lebens an: von rechts nach links zu träumen, zu denken und schreiben.“

Bereits 2017 hat sie im Libanon ihren ersten Roman in arabischer Sprache veröffentlicht: „Ein verpasster Anruf“, den sie gern ins Deutsche übersetzen und veröffentlichen möchte. Der Roman beginnt mit einem verpassten Anruf und endet mit einem anderen verpassten Anruf. Zwischen den beiden Anrufen spielt der Krieg in Syrien mit seinem „Schlagzeug“. Der Welt reicht es, sich die desharmonische Musik anzuhören. Die Geschichte spielt zwischen 2013 und 2015 in Damaskus, Istanbul und Frankfurt.

Aktuell sucht sie einen Verlag für ihr erstes Buch in deutscher Sprache: „4222 Kilometer“, in dem u.a. die Texte dieser Sendung erscheinen sollen, eine Sammlung aus freien Gedichten und Kurzgeschichten, die von Flucht und Ankommen in Deutschland, vom Leben in Syrien und vom Leben in Deutschland, von Liebe und Heimweh handeln.

 

(3) Netzwerk Flüchtlingshilfe Eppendorf, Bochum, Kontakt über den Autor.

 

(4) Der fremde Mantel (2019), unveröffentlicht (siehe Anm. 1).

 

(5) Jede Nacht (2017), unveröffentlicht (siehe Anm. 1).

 

(6) Als ich ein Schmetterling war (2018), unveröffentlicht (siehe Anm. 1), gekürzt.

 

(7) 4222 Kilometer (2020), unveröffentlicht (siehe Anm. 1), gekürzt.

 

(8) Wenn das Leben nach Erdbeeren schmeckt (2019), unveröffentlicht (siehe Anm. 1).

 

 

Über Nahed Al-Essa:

Geboren 1983 in Kuweit und aufgewachsen in Damaskus bin ich im Herbst 2015 allein nach Deutschland geflohen, im September 2016, ein Jahr später, konnte ich endlich meine Kinder mit einem Visum nach Deutschland holen. Seitdem lebe ich in Bochum.

Die unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitze ich seit Januar 2019. Seit Februar 2018 arbeite ich im Wahlkreisbüro von Michelle Müntefering in Herne, Bundestagsabgeordnete und Staatsministerin für internationale Kulturpolitik. Seit Februar 2019 arbeite ich auch beim BAMF als Dolmetscherin. Außerdem bin ich tätig als Lehrberaterin in einem Bildungszentrum (DAA).

 

Mein literarischer Weg:

In Damaskus war die Bühne meines Gymnasiums meine erste Bühne, auf der ich mit Lesungen aufgetreten bin. Seit 2001 wurde ich häufig zu Lesungen eingeladen. So entwickelte sich zunehmend meine Leidenschaft für das Schreiben. Dieses Talent für das Schreiben habe ich von meinem Vater geerbt. Von 2003 bis 2010 schrieb ich regelmäßig für verschiedene Zeitungen und Magazine in Damaskus. - In Deutschland: Im Dezember 2017 ist mein in arabischer Sprache verfasster Roman „Ein verpasster Anruf“ bei einem bekannten Verlag in Beirut veröffentlicht worden und wird nun im gesamten arabischen Raum vertrieben. Mein erstes in Deutsch verfasstes Buch habe ich nahezu fertiggestellt und suche nun einen Verlag. Das Buch besteht aus freien Gedichten und Kurzgeschichten, die von Flucht und Ankommen in Deutschland, vom Leben in Syrien und vom Leben in Deutschland, von Liebe und Heimweh handeln. Ich möchte viele Menschen mit meinen Worten und Gedanken erreichen.

Seit 2017 trage ich meine Texte auf verschiedenen Bühnen in NRW vor.

 

Nahed Al Essa, Website: www.nahed-alessa.com

30.01.2020
Günter Ruddat