Die Frage nach der Wahrheit

Die Frage nach der Wahrheit

Bild: Pressebild/W-film aus „Zwingli – Der Reformator“

Die Frage nach der Wahrheit
Ulrich Zwingli und die oberdeutsche Reformation
27.10.2019 - 08:35
18.07.2019
Arnd Brummer
Über die Sendung:

Mit Luther und Zwingli beginnen die Individualisierung und die plurale Gesellschaft. Christen sollen selbst über ihren Glauben und seine Konsequenzen entscheiden. Aber gerade der Züricher Prediger verbindet die Freiheit mit der Pflicht, seinen Nächsten Gutes zu tun. Und dazu zählt aktive Toleranz, der zitierte Verzicht darauf, andere in Gewissensnot zu bringen.

 
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In ein paar Tagen ist wieder Feiertag. „Reformationstag“. Am 31. Oktober 1517 soll Martin Luther in Wittenberg seine 95 Thesen an die Kirchentür genagelt haben. Das war die „Reformation“… denken viele. Die Wirklichkeit der Geschichte beschreibt das nicht. Und im deutschen Südwesten kann man bei älteren Leuten noch heute Widerspruch auslösen. „Wir wurden vor zweihundert Jahren nach dem Wiener Kongress „zwangsverluthert“, erklärte mir ein Rentner in Ulm. „Wittenberg war für uns uninteressant. Unsere oberdeutsche Reformation kam aus Zürich.“ Und das gelte auch für Augsburg oder Esslingen.

 

Den Weg der Veränderung im christlichen Leben schlugen auch Zeitgenossen Luthers ein, deren Name heute nur noch wenig bekannt ist. Einer davon war Ulrich Zwingli. Und seine Wirkungsstätte war die Stadt Zürich, wo er als sogenannter „Leutpriester“ am Großmünsterstift wirkte.

 

Geboren wird Zwingli 1484, als Sohn einer wohlhabenden Bauernfamilie, im Bergdorf Wildhaus in der Schweiz. Schon früh merkten die Eltern: der Ulrich ist ein „hochbegabter“ Kerl. Schon mit zwölf Jahren liest er philosophische und theologische Texte, beginnt ein Selbststudium. Groß ist auch sein musikalisches Talent: virtuos spielt er die Laute, komponiert sogar eigene Lieder.

 

Schon in seinen ersten Ämtern – als Pfarrer, als Pilgerbetreuer im Wallfahrtsort Einsiedeln – zeigt er, wie genial er intellektuelle Analyse verbinden kann mit deren Vermittlung an sein Publikum. Schon dort macht Zwingli immer wieder Front: gegen den knechtenden Umgang mit Menschen, gegen den Missbrauch kirchlicher Ordnung. Er ist ein „Leutpriester“ im wahrsten Sinne des Wortes.

 

Der Rat der Stadt Zürich fand es gut und richtig, was der Mann aus der Nordost-Schweiz predigt und holt ihn, eben als Leutpriester, 1519 ans Züricher Großmünster. Zwingli liest weiterhin humanistische Schriften. Und mit großer Freude die Texte eines Professors aus Wittenberg, namens Martin Luther. Zwinglis freie Gedanken wie seine offenen Worte freuen auch den Drucker Christoph Froschauer. Die beiden werden Freunde. Ihre Beziehung sorgt für den Auslöser der Reformation in Zürich, 1522: Die Fastenpredigt mit dem Titel „Die freie Wahl der Speisen“. Zwingli hält sie am 23. März 1522 und gibt sie dem Freund und Drucker Froschauer, der sie tausendfach publiziert.

 

Der Anlass für große Auseinandersetzungen in der kirchlichen Szene Zürichs: ein Wurstessen! Nach Aschermittwoch im Hause des Druckers. Zwar isst der anwesende Prediger Zwingli selbst keine Wurst – in seiner Predigt unterstreicht er aber: Froschauer handelt nicht sündig, wenn er in der Fastenzeit mit seinen Mitarbeitern und Freunden Fleisch isst.

 

Der Prediger Zwingli verweist dabei auf die geltende Ausnahmeregelung: körperlich hart arbeitende Leute dürfen Fastenvorschriften missachten. Zum anderen aber bezieht sich Ulrich Zwingli auf die Freiheit des Christen. Die Fastenzeit, ein Verbot von Wein und Fleisch, entspreche nicht Jesu Wille. Sie sei lediglich eine Erfindung von Bischöfen. Jeder Christ könne selbst entscheiden, wann, wo und was er esse oder trinke. Ja, Zwingli weist sogar ausdrücklich auf biblische Texte hin, in denen Jesus zum Ärger der Pharisäer und anderer Rechtgläubiger Regeln bricht.

 

Denjenigen, die sich im Ringen um die Wahrheit auf die persönliche Entscheidungsfreiheit berufen, rät der Reformator allerdings auch: Keine Überheblichkeit jenen gegenüber, die sich an die Verbote halten! „Wer fest daran glaubt, dass er alles zu allen Zeiten essen darf, wird als ein im Glauben Starker bezeichnet… Zugleich soll er dem Schwachen gegenüber sehr rücksichtsvoll sein und ihm nicht etwa noch absichtlich und böswillig Ärgernis geben.“ Also, wer mit traditionell Fastenden am Tisch sitzt, soll ihnen nicht mit dem Zeigefinger erklären, dass sie auf dem falschen Weg seien.

 

Mit Luthers und Zwinglis Haltung, dass Christen selbst über ihren Glauben und seine Konsequenzen entscheiden sollen, beginnen die „Individualisierung“ und die plurale Gesellschaft. Aber gerade der Züricher Prediger verbindet die Freiheit mit der Pflicht, seinen Nächsten Gutes zu tun. Und dazu zählt aktive Toleranz, der zitierte Verzicht darauf, andere in Gewissensnot zu bringen. Ausdrücklich bezieht sich Zwingli dabei auf die Schriften des Apostels Paulus. Er beschreibt die unterschiedlichen Kulturen von Juden- und Heiden-Christen innerhalb der frühchristlichen Gemeinden. Was den einen als unverzichtbares Gebot erschien, sei den anderen völlig fremd gewesen. Und dennoch wäre aus der Gemeinschaft der Unterschiedlichen das Christentum gewachsen!

Ulrich Zwinglis theologischer Ansatz hat noch immer seinen Reiz. Der Kern seiner Theologie handelt vom Verzicht auf Kleinlichkeit und Überheblichkeit. Und dies gilt vor allem jenen, die sich auf dem richtigen Weg wähnen. Die Gemeinschaft hat für ihn in erster Linie die Bedeutung, dass Menschen ihre unterschiedlichen Gaben und Kenntnisse nicht egozentrisch und egoistisch zum eigenen Wohle, sondern für einander nutzen sollen.

 

Gegenwartsbezogen heißt dies: Zwischen staatlich diktierter und kommerzieller, also gewinnorientierter Praxis, gibt es noch die freiwillige, die ehrenamtliche Art des Einsatzes für einander. Aktuell erlebt man sie in zahlreichen Aktivitäten von Christen in der Flüchtlingsarbeit, immer schon in der Nachbarschaftshilfe, dem Besuchsdienst und der Hospizarbeit.

 

Allerdings sorgten gesellschaftlicher Druck und eigene Fehleinschätzungen auch dafür, dass Zwingli selbst alten Freunden gegenüber wenig Gnade walten ließ. Er unterstützt maßgeblich die Vertreibung und Ermordung der sogenannten „Täufer“, zu ihnen zählte sein langjähriger Gefährte Felix Manz. Die „Täufer“ lehnten mit Hinweis auf die Taufe Jesus als erwachsenen Menschen, jegliche Kindertaufe als „unbiblisch“ ab.

 

Inhaltlich war die Differenz des Leutpriesters Zwingli zu den „Täufern“ gering. Christ, so bekundete er es selbst, wird man nicht dadurch, dass man als Kind mit Wasser begossen wird. Und auch das Wegwaschen der Sünde mit geweihter Flüssigkeit sei nicht mehr als ein Zeichen.

Was Zwingli zum Gegner seiner ehemaligen Weggefährten macht, ist deren Ablehnung von Amtseid und anderen Elementen der bürgerlichen Ordnung. Der Züricher Reformator will und kann nicht auf den Rückhalt der in Zürich herrschenden Patrizier verzichten. Das beschädigt bis heute sein Bild.

 

Dass Rituale einen rein symbolischen Charakter haben, trennt Zwingli theologisch von Martin Luther. Das Abendmahl ist in Zwinglis Verständnis lediglich eine Geste der Erinnerung – an Jesu letztes Zusammensein mit seinen Aposteln im Garten Gethsemane. Schön, auf diese Art als Gemeinschaft im Sinne der biblischen Geschichte sichtbar und wahrnehmbar zu werden. Eine heilige Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi hält Zwingli, der Realist, für irreal.

 

Kein Wunder also, dass sich das Großmünster in Zürich unter diesem Pfarrer zum Zentrum der Reduktion auf das Wesentliche entwickelte: das Wort. Liturgie, Rituale, festliche Inszenierungen mit Orgel und Gesang verschwanden ebenso wie Bilder, Statuen und Verzierungen. Ein Christentum der Nüchternheit, wie es reformierte Gemeinden bis heute von anderen unterscheidet.

Dass ausgerechnet der talentierte Musikfreund Zwingli den Gesang verbannt, begründet er damit, dass dieser vom echten Glauben ablenke. Er will das biblische Wort unverfälscht und ohne störende Nebengeräusche verkünden. Seine persönliche Leidenschaft für Flöte, Geige, Laute und „Sackpfyff“, so heißt der Dudelsack in Alemannisch, verleugnete Zwingli nie. Ja, 1528, ein Jahr nachdem er die Orgel aus dem Großmünster hatte entfernen lassen, gründet er in Zürich die erste Musikschule. Und er freut sich darüber, wie junge Leute dort zu den Instrumenten greifen und fröhlich aufspielen. Spaß: ja – aber nicht im Gotteshaus!

 

Feste feiern, auch wenn sie die Welt nicht wirklich retten. Fröhlich miteinander unterwegs sein, auch wenn dies keine Wunder auslöst. Traditionen dieser Art sind in den Städten der oberdeutschen Reformation bis heute gang und gäbe. Die Gleichheit aller Menschen empfindet man dort in Leben, Frömmigkeit – und fröhlicher Sünde – bis heute als Ausgangspunkt des bürgerlichen Freiheitsverständnisses.

 

Das ist am Ulmer Stadtfest, dem alljährlichen Schwörmontag im Juli, zu erleben. Dessen Tradition reicht bis ins Jahr 1397 zurück, als sich Zünfte und Patrizier schworen, einander im Rat der Stadt „gemein“ zu sein und das gleiche Stimmrecht zu haben. Beim „Feschdle“ auf dem Rathausplatz sagt mir der ältere Herr: „Und die oberdeutsche Reformation hat das noch fett unterstrichen. Vor Gott sind älle gleich.“ Und seine Großnichte, eine Studentin, ergänzt: „Gott sei Dank, im wahrschten Sinne des Wortes. Ein Patrizier oder Graf isch net mehr wert als eine Bäuerin. Und des muss man heut nicht nur Politikern und Bischöfen, sondern vor allem Top-Mänätschern und Topstars ins Ohr blasen!“

 

Worte, über die sich der Züricher Leutpriester von Herzen gefreut hätte. Ulrich Zwingli, in diesem Punkt mit Martin Luther völlig einig, lehnt die Unterscheidung zwischen geistlicher Berufung, körperlicher Arbeit und Handel ab. Aus diesem Denken entstand der bis heute geltende Begriff „Beruf“. Zwinglis Wertschätzung für die Handarbeit kommt in einem Brief zum Ausdruck. Seinen Verwandten im Toggenburg schreibt er: „So oft ich höre, dass ihr von eurer Hände Arbeit lebt, wie es euer Herkommen ist, so bin ich glücklich und sehe, dass ihr den Adel, von dem ihr geboren seid – von Adam -, in Ehren haltet.“

 

Auch für seine eigene Aufgabe beansprucht Ulrich, der Bauernsohn, keine besondere Würdigung. Zwinglis Selbstverständnis, dass ein Pfarrer nur Teil von Gemeinde und Bürgerschaft sei, also auch in den Reihen seiner Brüder als Soldat zu kämpfen habe, bringt ihm einen frühen Tod. Ulrich Zwingli starb 1531 mit 47 Jahren im Zweiten Kappeler Religionskrieg zwischen den katholischen und reformierten Kantonen der Schweiz.

 

Außerhalb der deutschsprachigen Schweiz geriet Zwinglis Ansatz nahezu in Vergessenheit. Es war der von Zwingli, Luther und anderen Reformatoren geprägte Genfer Johannes Calvin (1509 – 1564) der weltweit das Bild der reformierten Kirche als „Calvinismus“ prägte. Aber jetzt gibt es einen Film. „Zwingli der Reformator“ wird in drei Tagen auch in deutschen Kinos zu sehen sein. Der Film vermittelt eindrucksvoll, wie Zwinglis Denken und Handeln zur Veränderung unserer alltäglichen Kultur beigetragen hat. Und wer Zwinglis Aufruf „Tut um Gotteswillen etwas Tapferes!“ in die Welt senden möchte, kann auf dicke Briefe oder kleine Päckchen eine Zwingli-Briefmarke für 1,50 Euro kleben.

 

Der Satz, den der Reformator vor dem Zitat ausrief, fehlt leider: „Hört auf, nur von Gott zu schwatzen!“

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

Musik dieser Sendung:

  1. Pura, Zurich Chamber Orchestra, feat. Daniel Hope, Larissa Bretscher, Zwingli – Original Motion Picture Soundtrack
  2. Herr, nun selbst den Wagen halt, Ulrich Zwingli, Satz: Rabanus Flavus
  3. Tempus fugit, Zurich Chamber Orchestra, feat. Daniel Hope, Larissa Bretscher, Zwingli – Original Motion Picture Soundtrack
  4. Sacra Nova, Zurich Chamber Orchestra, feat. Daniel Hope, Larissa Bretscher, Zwingli – Original Motion Picture Soundtrack
  5. Oratio, Zurich Chamber Orchestra, feat. Daniel Hope, Larissa Bretscher, Zwingli – Original Motion Picture Soundtrack
  6. Liberatio, Zurich Chamber Orchestra, feat. Daniel Hope, Larissa Bretscher, Zwingli – Original Motion Picture Soundtrack

 

„Zwingli – Der Reformator“ - Ab 31. Oktober in den deutschen Kinos!

»Tut um Gottes Willen etwas Tapferes« (Ulrich Zwingli)

Der Spielfilm „Zwingli – Der Reformator“ startet zum Reformationstag am 31. Oktober in den deutschen Kinos! Erstmals bringt Regisseur Stefan Haupt die Geschichte des großen Humanisten Ulrich Zwingli einem breiten Publikum nahe, der mit Martin Luther zu den wichtigsten Reformatoren der Kirche zählt. Ein eindrucksvolles und bildgewaltiges Historiendrama über den Kampf um eine neue Weltordnung, das in der Schweiz bereits mehr als 240.000 Zuschauer begeisterte. Kein Wunder: Zwinglis Ideen einer soziale gerechten Gesellschaft, die sich um die Armen und Kranken kümmert und die Rechte von Frauen und Kindern schützt, sind heute so aktuell wie damals.

Trailer & Filmwebseite: https://zwingli.wfilm.de

18.07.2019
Arnd Brummer