Freiheit mit Geboten

EKD Denkschrift Digitalisierung

© EKD | iStock.com/Olezzo

Freiheit mit Geboten
Digitalisierung als Wandel mit Chancen
18.07.2021 - 08:35
15.07.2021
Björn Raddatz
Über die Sendung:

"Am Sonntagmorgen" im Deutschlandfunk zum Nachhören und Nachlesen

 
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Heute Morgen liegt ganz schön was auf dem Tisch - die großen Worte, die vielen Seiten, das schwe-re Gewicht von Tradition, Computer-Moderne und einer Deutung des Ganzen: 
Die Evangelische Kirche in Deutschland - EKD - hat eine Denkschrift herausgebracht. Die ist jetzt wenige Wochen alt, über 240 Seiten stark. Ihr Thema: Nicht weniger als die Digitalisierung der Ge-sellschaft - und die sich anschließenden ethischen Herausforderungen aus Sicht der evangelischen Kirche. Das alles wird durchdekliniert am Beispiel der 10 Gebote. Der Titel: „Freiheit digital - Die Zehn Gebote in Zeiten des digitalen Wandels“. Neben der EKD-Denkschrift, neben dem großen Feld der Ethik liegen also gleich auch noch die beiden Steintafeln, die Mose vom Sinai herabgeschleppt hat, mit auf dem Tisch „Am Sonntagmorgen“. Der Dekalog. „Du sollst nicht töten, nicht stehlen, verleumden, ehebrechen - und so weiter.“ 
Braucht es das? Neue Gebote für die digitale Welt? 

Dass man sich mit den 10 Geboten ein Maximum an medialer Aufmerksamkeit sichern kann, das hat die “Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ gezeigt. Sie zeigt in einer Kampagne eine Montage der grünen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, in einer Mose-Kluft in einem grünen Umhang, absichtsvoll zauselige Optik, Bibelschinken aus alten Zeiten. Die Politikerin trägt zehn Gebote vom Sinai herab. Dabei steht: „Annalena und die 10 VERbote“. Die Kampagne soll Stimmen für die Grü-nen verhindern. Und formuliert - zur Abschreckung - zehn Verbote.

„Du darfst kein Verbrennerauto fahren; Du darfst nicht fliegen; Du darfst nicht am Freihandel teilnehmen …“
(zitiert nach insm.de)

…und so weiter. Übliche Grünen-Kritik. Aber noch mehr: Eine Verächtlichmachung der Religionen, zu deren Glaubenskanon der Dekalog gehört: Judentum, Christentum und bedingt auch der Islam. Die 10 Gebote werden hier als Gängelung dargestellt, an die nur zauselige Idioten glauben mit ei-nem absurden Gottesbild. Da kann ja jeder kommen mit zehn doofen Regeln, die „wir“ nicht mö-gen. Wer auch immer dann dieses „wir“ am Ende ist. Das war selbst manchen CDU-Politikern zu viel, sie distanzierten sich von dieser Kampagne und lehnten solche Wahlkampfhilfe ab. Das Beispiel zeigt: Die 10 Gebote haben bis heute einen Resonanzraum - auch bei Menschen, die von Religion offensichtlich nur wenig Ahnung haben. 
    Das hat ja einen Grund. Zehn klare Sätze. Einfach. Prägnant. Und klare Kante: So geht es, so nicht. Das sind die 10 Gebote. Und so funktioniert auch die Aufregung um die vermeintlichen Annalena-Verbote - aber so funktioniert keine EKD-Denkschrift. Und das bedauert der Journalist Ulrich Schnabel:

 „Doch ach, heutzutage klettert (…) niemand mehr auf einen Berg, schon gar nicht vierzig Tage ohne Wasser und Brot. Statt auf göttliche Eingebung setzt auch die Kirche lieber auf ein Exper-tengremium. Und das liefert, was ein Expertengremium eben so liefert: langatmige Betrachtun-gen statt prägnanter Botschaften. Statt zehn eindeutiger Sätze gibt es eine voluminöse „Denk-schrift.“
(Ulrich Schnabel in DIE ZEIT 20/21 vom 12.05.2021)

Und diese voluminöse Denkschrift wird begleitet von Begleitveranstaltungen. Coronabedingt fan-den die selbst digital statt und sind darum auf YouTube abrufbar. Während die Polit-Schelte der “Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ medial über-präsent war, sind die erläuternden Videos zur EKD-Denkschrift kaum beachtet worden. Um es mit „netzsprech“ zu sagen: tldr. too long, didn’t read.
Trotzdem heute einen Blick hinein. Oder gerade deswegen! Trifft die Annahme, dass es bei Gebo-ten von Religiösen grundsätzlich nur um zauselige Gängelung geht? Oder trifft die Kritik, die EKD sondere vor allem langatmiges Experten-bla-bla ab?

Die zehn Gebote. Die waren ursprünglich, im biblischen Kontext, nicht als Gängelung gemeint. Die zehn Gebote ermöglichen mehr, als sie wegnehmen. Sie machen nicht unfrei, sondern frei. Auch von den goldenen Kälbern – dazu später mehr. Als das Volk Israel vor seinen Unterdrückern flieht, durch die Wüste zieht, kommt Moses mit den Tafeln - auf ihnen die zehn Gebote - vom Berg Sinai. Die Haltung dahinter: Niemand soll uns, das Volk Israel, mehr unterdrücken, uns sagen, was wir zu tun haben - wenn wir diese Regeln beachten, kriegen wir das hin. Statt ‚du sollst‘ werden die Ge-bote verstanden als ‚du wirst!‘. ‚Du wirst das schon so machen!‘
In der Denkschrift formuliert das die EKD so: Die Gebote …

 „(…) zielen darauf, die Freiheit zu sichern. Befreiung – das ist wie ein Vorzeichen vor der Klam-mer der Gebote zu interpretieren: Nur in diesem Horizont der biblischen Befreiungsgeschichte lassen sich die Worte in ihrem ursprünglichen Sinn verstehen. Leider haben Christinnen und Christen dieses Vorzeichen in der Geschichte und Gegenwart oft an den Rand gedrängt oder gar vergessen, sodass sie als Gebote im Sinn eines teilweise rigiden Legalismus und Moralismus miss-verstanden haben. “
(EKD-Denkschrift „Freiheit digital“ S.14)

In evangelischer Tradition nach Martin Luther hat sich zur Freiheit die Verantwortung hinzugesellt. Es geht für den einzelnen Mann, die einzelne Frau nicht ums folgsame, buchstabengetreue Befol-gen von Regeln. Sondern darum, die eigene Freiheit verantwortlich zu leben. Dazu gibt es eben die Leitplanken, die die Bibel bietet - wie die 10 Gebote.
    Und wer jetzt genau hinhört, hört Gebote wie „Du sollst die Eltern ehren“, „Du sollst den Feiertag halten“, „Du sollst nicht lügen und nicht stehlen“ durch diesen EKD-Text hindurch:

„‚Wie sollen, wie wollen wir leben?‘ Es sind Fragen nach dem Woher und Wohin des Lebens und nach Verantwortung für Umwelt und Leben. Arbeit und Muße, Zukunftssicherung, Treue und Un-treue, Wahrheit und Lüge, die Kontrolle von Kommunikation, der Ausgleich von Chancen und Las-ten, der Schutz verletzlicher Gruppen, Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit des Lebens, gesell-schaftliche Regulierungen von Haben und Besitz, von Ausgleich und von Schutz – alle diese The-men werden auch heute gesellschaftlich verhandelt, wenn es um eine Orientierung geht, wie wir in Zukunft in einer von der Digitalisierung geprägten Welt leben wollen.“
(EKD-Denkschrift „Freiheit digital“ S.18)

Damit zum Inhalt der Denkschrift. Wer knackige Sätze erwartet hat, wie es sie in Anlehnung ans Bibel-Original als, was weiß ich, „10 Gebote für Fahrradfahrer“, oder Hundehalter oder Gartenbe-sitzer und von Grünen-Kritikern massenweise gibt, der und die wird enttäuscht. Da liegt keine To-Do-Liste vor für das evangelisch-korrekte Handeln im Internet. Es wird weit mehr getan: Einerseits ein weiter Blick, was „Digitalisierung“ im Jahr 2021 überhaupt heißt - und andererseits wird das dann in vielen, vielen Punkten den bekannten Geboten von Moses zugeordnet und mit ihnen zu-sammen zum Klingen gebracht. Da werden keine neuen Gebote gestrickt. Da wird geschaut, inwie-fern der alte Verhaltens-Konsens vieler Jahrhunderte in unserer Zeit überhaupt noch taugt. Einer Zeit, in der sich unser Leben in nur einem Jahrzehnt durch Smartphones und Big-Data, die Digitali-sierung eben, radikal gewandelt hat. Beziehungsweise: Wie das gelingen kann, diese alten bibli-schen und menschlichen Erkenntnisse in einer durchdigitalisierten Welt anzuwenden. Denn wir Menschen sind doch trotz Smartphone und Internet einfach Menschen geblieben, die manchmal wenig smart sind. Die aber jetzt neue, komplexere Maschinen bedienen.
In der EKD Denkschrift heißt es: 
 „So wird deutlich, dass der Prozess der Digitalisierung weder einer unbeherrschbaren Eigendy-namik folgt noch schicksalhaft über die Menschheitsgeschichte hereinbricht. Der digitale Wandel ist ein globaler komplexer Prozess, an dem Einzelpersonen etwa als Entwickelnde, Konsumieren-de, politische und ökonomisch Agierende mit ihren Überzeugungen und Zielsetzungen, Organisa-tionen wie Unternehmen, Verbänden, Forschungseinrichtungen, Nichtregierungsorganisationen mit ihren Interessen sowie Institutionen (Staaten und Staatenbündnisse) mit ihren rechtlichen Regelungen und ethischen Leitlinien beteiligt sind.“
(EKD-Denkschrift „Freiheit digital“ S.37)

Hinter dem Satz steht die Erkenntnis: Es gibt keine eigene, digitale Welt mit eigenen Regeln. Auch im digitalen Raum geht es um das Miteinander von Menschen - nur, dass die sich nicht zwingend gegenseitig sehen. Oder kennen. Aber überall in diesem Netz voller Kommunikation, Daten, Com-putern und Robotern stecken Menschen, die damit etwas anstellen. Sich schaden - oder gegenseitig unterstützen.
Die EKD-Denkschrift geht ausführlich entlang der zehn Gebote und differenziert dabei aus, welche ethischen Fragen der Digital-Moderne in den prägnanten Do’s und Don’ts der zehn Gebote stecken.
An dieser Stelle lässt sich das kaum in Gänze würdigen - zu jedem einzelnen Gebot so viele Implika-tionen. Aber beachtlich ist, welche Vielfalt an Fragestellungen sich anhand der Gebote öffnen. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis der Denkschrift lässt schon die Ohren klingeln.

Folgende Themen werden - unter vielen anderen - beleuchtet:
Zu „Du sollst Dir kein Bildnis machen“ wird die Bilderflut des Digitalen thematisiert. Was macht es mit uns, so vielen Bildern ausgesetzt zu sein. Die Sakralisierung von Produkten durch Werbung, fragwürdige Schönheitsideale setzen sich durch - weil ihre oft gefakten Bilder massenweise vor-handen sind. Welche Bilder von uns existieren - und wie können wir bei all dem noch „Ebenbild Gottes“ sein?
Das Gebot „Du sollst den Sabbat heiligen“ lässt die Erfahrungen vieler Arbeitnehmer in der Corona-Krise aufleuchten: Toll, dass es die Digitalisierung ermöglicht hat, dass Arbeit vielfach ins sichere Heim verlegt werden konnte. Aber plötzlich war das Büro im Wohnzimmer ständig ver-fügbar, der Feierabend verwischt, manchmal sogar das Wochenende gefährdet.
„Du sollst die Eltern ehren“ stellt die Frage nach Generationengerechtigkeit in der alternden Gesellschaft. Wie gehen wir mit den Alten um? Mit den Jungen, die entweder zahlen oder Pflege leisten müssen? Mit Robotik in der Pflege?
„Du sollst nicht töten“ - welche Implikationen hat das bei Waffensystemen, die ein Drohnenpilot weit vom Einsatzort der Drohne entfernt bedient. Und was ist mit digitalisierter Gewalt: Der Überwachung des öffentlichen Raumes?
„Du sollst nicht ehebrechen“ stellt die Frage nach dem Umgang mit Sexualität und Partnerschaft im digitalen Raum. Auch hier spielt der Begriff „Freiheit“ eine zentrale Rolle. Nichts dagegen, wenn sich Erwachsene frei begegnen, weil sie es wollen. Wie schrecklich, wenn Sexualität im Netz erniedrigt und verletzt.

Schon die 10 Gebote, die Moses dem Volk Israel bei seiner Wanderung durch die Wüste vorlegte waren ja nicht in einen luftleeren Raum gesprochen. Klar - wenn das Stehlen und Töten und Begeh-ren keine Probleme darstellen, dann muss auch nichts geregelt werden. Die Bibel ist da in ihrer Darstellung ziemlich realistisch: Als Mose mit den 10 Geboten vom Sinai kommt, tanzt das Volk Isra-el gerade um ein selbstgeschaffenes goldenes Kalb. Anbetung des Glitzernden. Wir Menschen kön-nen und wollen das Gute - aber wir tun es oft nicht. Warum auch immer. Weil es glitzert, oder aus Vorteilsnahme, Egoismus, Faulheit zum Beispiel. In der EKD-Schrift heißt es:

 „Biblischer Realismus beinhaltet das Wissen: Alles menschliche Kulturschaffen einschließlich der Technikentwicklung ist weder eindeutig gut noch eindeutig böse, sondern zutiefst ambivalent. Biblischer Realismus meint zugleich den Glauben daran, dass Gott alle Menschen zur verantwort-lichen Gestaltung der Welt aufgerufen hat und ihnen Segen zusagt.“
(EKD-Denkschrift „Freiheit digital“ S.233)

In der Denkschrift wird ein großer Teil des modernen Lebens von Menschen vor dem Computer oder mit dem Tablet in der Hand durchleuchtet. Wie geht „evangelische Haltung“ mit einem Digitalgerät vor den Augen? Wie soll sich unser digitales Leben gestalten, so dass Segen darauf liegt? Streng ge-nommen: wie ohne Gerät vor den Augen. Die EKD ist schlau genug, eben keine konkreten Hand-lungsanweisungen zu geben. Sondern abstrakte Begriffe wie „Freiheit“ und „Verantwortung“ ins Zentrum zu stellen. Und daran kann sich jede und jeder orientieren: beim Kommentieren auf Fa-cebook, beim Tindern, beim Einkauf im Netz. 
Ich habe stets mit Menschen zu tun. Nicht mit Leuten, denen ich eine Unwahrheit unterschieben darf, weil das ja eh alles nur digital geschieht. Nicht mit Sexobjekten, die ich wegswipe, anfunke oder ohne Vorwarnung irgendwann einfach ignoriere - das sind alles Menschen. Nicht mit Dienstbo-ten, die mir mein Paket liefern müssen, weil ich es ja bezahlt habe und deren Arbeitsbedingungen mir damit egal sein dürfen.
Die Denkschrift endet mit einem Satz, der das Verhältnis umdreht - und damit trifft. Nicht die zehn Gebote (oder wie es in der EKD-Schrift heißt „Worte“) wirken allein in die digitale Welt. Die digita-le Welt wirkt auch zurück:

„Für die Interpretation digitaler Technologien und ihrer Auswirkungen wurde bei den Zehn Wor-ten der Tradition des Volkes Israel angesetzt – im Hören auf jüdische Erfahrungen, im Gespräch mit christlicher Theologie, anderen einschlägigen Wissenschaften und netzpolitischen Akteurin-nen und Akteuren. Es ist ganz im Sinne dieser Ausarbeitungen, wenn über die Interpretationen des digitalen Wandels im Lichte der Zehn Worte auch umgekehrt die Zehn Gebote in ihrer grund-legenden Bedeutung für die von Digitalisierung geprägte Gegenwart neu gesehen werden.“
(EKD-Denkschrift „Freiheit digital“ S.240)
 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  • Stuart Dale Thomas, Itchy Feet, CD-Titel: LO-FI HIP HOP: LAID BACK (WN 50)

Literaturangaben:

  • Denkschrift: www.freiheitdigital.de/fileadmin/user_upload/freiheitdigital2021/EKD2021IV22_Freiheit-digital_Denkschrift.pdf  
  • Material dazu auch unter www.freiheitdigital.de  / https://www.ekd-digital.de/ 
  • YouTube-Videos zur Einführung und den einzelnen Geboten: https://amxe.net/nzdqirpf-93y7jmx2-yw8inqwm-nzu 
  • Podcast auf evangelisch.de: „Netztheologen" www.evangelisch.de/audios/186494/04-06-2021/zehn-digitalgebote-verbote-gebote-und-freischeine-teil-2 
  • Kirtik von Ulrich Schnabel „Download, Moses!“ auf ZEIT-Online: https://www.zeit.de/2021/20/digitale-ethik-zehn-gebote-internet-denkschrift-evangelische-kirche?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com 
  • Dekalog der konservativen „Initiative neue soziale Marktwirtschaft“ INSM gegen die Kanzlerkan-ditatin Annalena Baebock von Bündnis90, die Grünen www.insm.de/insm/themen/soziale-marktwirtschaft/gruene-verbote
15.07.2021
Björn Raddatz