Isolation – Segen und Fluch

Mensch in der Wüste mit Baum

Gemeinfrei via unsplash/ toa heftiba

Isolation – Segen und Fluch
Biblische Erfahrung trifft Pandemie
21.02.2021 - 08:35
17.02.2021
Barbara Manterfeld-Wormit
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"Am Sonntagmorgen" im Deutschlandfunk zum Nachhören und Nachlesen

 
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Alles begann mit einem Anruf: Ich stehe im Schlafzimmer unserer Wohnung oben im vierten Stock, sehe aus dem geöffneten Fenster auf den grünen Park vor unserem Haus. Fröhliche Kinderstimmen dringen herauf. Munteres Treiben auf dem Spielplatz. Die Schaukel quietscht. Ein Nachbar führt den Hund spazieren. Gegenüber die Schule – links die Kirche, deren Turm in den blauen Himmel ragt. Alles so wie immer: Vertraute Stimmen und Gerüche, Töne und Bilder. Mein Kiez. Mein Alltag. Ein Stück Heimat. Doch mit einem Mal bin ich draußen. Gehöre nicht mehr dazu. Die anderen wissen es noch nicht, aber ich weiß es. Der Corona-Test ist positiv. Gerade hat die Hausärztin angerufen. Ab sofort gilt Quarantäne. Es ist der Beginn meiner Isolation. Kein Kontakt nach außen mehr. Zurückgeworfen auf die eigenen vier Wände für mindestens zwei Wochen. Eine gefühlte Ewigkeit. Ich schaue aus dem Fenster: Das Leben da draußen zieht vorbei, und ich bin nicht mehr dabei. Schaue von oben auf das Leben der Anderen – und bin ab sofort eingesperrt in meiner eigenen Welt - in der ich plötzlich alleine bin.  

 

So hat damals im September alles angefangen. Die Pandemie führt viele in die Isolation. Bis heute ist unser Verhalten davon geprägt, wenn wir Abstand halten, anderen Menschen ausweichen, die uns entgegen kommen. Fast ist es schon so, als wäre dieses Verhalten zu unserer zweiten Natur geworden. Die Zeit der Isolation war hart – trotz überschaubarer Zeit, trotz eines milden Krankheitsverlaufs, trotz telefonischer Kontakte und tätiger Nachbarschaftshilfe. Unsichtbare Helfer trugen unsere Müllbeutel mit hinunter und gefüllte Einkaufstüten vor die Tür. Es tat weh, diese Tür nicht öffnen zu dürfen, wenn Freunde oder Verwandte dahinter standen, um etwas abzugeben. Worte durch die Tür anstelle einer Umarmung. Ein Winken vom Balkon, ein flüchtiger Blick aus sicherer Entfernung. Mehr ging nicht. Als es mir besser ging, schrieb ich einen Zettel für den Paketboten und hängte ihn außen an die Wohnungstür: Wir haben einen Corona - Fall. Bitte klingeln & Pakete vor die Tür legen. Vielen Dank! Das Bekenntnis fühlte sich seltsam an. Vorsicht ansteckend! Gemeint war ich damit.

 

Wer nun aussätzig ist, soll zerrissene Kleider tragen und das Haar lose und den Bart verhüllt und soll rufen: Unrein, unrein! Und solange die Stelle an ihm ist, soll er unrein sein, allein wohnen, und seine Wohnung soll außerhalb des Lagers sein.

(3. Buch Mose, 13, 45 f.)

 

Menschen werden isoliert oder isolieren sich selber. Sie verschwinden damit. Zum Schutz der Anderen. Erst wenn sie die Krankheit überwunden haben, dürfen sie zurück in die Gemeinschaft. Ein uraltes Phänomen. Schon in alttestamentlicher Zeit galt: Bei ansteckenden Krankheiten, gegen die es kein Heilmittel gab, half nur die gnadenlose Absonderung. Gesundheitsämter gab es nicht. Bei Verdachtsfällen waren die Priester zuständig. Sie begutachteten Verdachtsfälle und mussten notfalls schnell eine Entscheidung treffen: Wer ansteckend war, hatte die Gemeinschaft und damit auch sein Zuhause sofort zu verlassen, durfte keinerlei Kontakt zu anderen haben. Datenschutz existierte nicht. Jeder wusste Bescheid. Der Verstoßene war sogar verpflichtet, seine Erkrankung öffentlich zu machen – ein für alle sichtbares Testergebnis sozusagen. „Unrein, unrein“ mit diesem lauten Ruf hatte er fortan selber dafür Sorge zu tragen, dass niemand ihm zu nahe kam. Er war stigmatisiert – oft genug für immer.

Isolation – der Name kommt vom lateinischen isola – die Insel. Das klingt luftig und leicht – nach Sonne, Meer und weißem Strand. Nach einer sorgenfreien Auszeit. Die Realität damals sah anders aus: Isolation – das bedeutete Verbannung. Entfernung aus dem Leben der anderen. Gestrandet auf einer rauen und einsamen Insel irgendwo vor den Toren der Stadt. Ohne vertraute Bindungen, ohne soziale Absicherung, ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Ein Leben als Schatten. Bestenfalls als Aussätziger unter anderen Aussätzigen. Gemieden und gefürchtet von den anderen, abgeschrieben und vergessen von Familie und Freunden, oft genug ohne Aussicht auf Heilung. Verdammt und verloren. Verflucht.

 

Isolation heute fühlt sich anders an. Ich durfte zuhause bleiben. Ich wurde versorgt. Die Zeit war im Rückblick lächerlich kurz und vor allem: absehbar. Ich blieb im Kontakt mit anderen – per Telefon, per Brief, via Skype. Als ich mich besser fühlte, konnte ich die Zeit sogar genießen: Ich begann zu lesen, Fotos zu sortieren, zu musizieren, Briefe zu schreiben… Das Gefühl der Trennung und der Verunsicherung aber blieb. Isola – Leben auf einer Insel, die im Meer treibt. Wo sehr plötzlich ein Sturm aufkommen kann. Wo kein Horizont sichtbar ist. So fühlte sich mein Leben an. Es gab plötzlich keinen festen Boden, keinen selbstverständlichen Alltag mehr, der mich durch die Tage trug. Stattdessen unendlich viel Zeit, die sinnvoll zu füllen war. Zeit um nachzudenken. Wo keine Gesellschaft ist, bin ich alleine mit mir. Eine Intensität, die nicht leicht zu ertragen ist.

 

Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde. Und da er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn. Und der Versucher trat herzu und sprach zu ihm:

Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden.

Er aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort das aus dem Mund Gottes geht.“

 

Da führte ihn der Teufel mit sich in die Heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels, und sprach zu ihm:

Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab, denn es steht geschrieben: „Er wird seinen Engeln für dich Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.“

Da sprach Jesus zu ihm: Wiederum steht auch geschrieben: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.“

 

Wiederum führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.

Da sprach Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben:

„Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.“

Da verließ ihn der Teufel.

Und siehe, da traten Engel herzu und dienten ihm. (Matthäus 4, 1-11)

 

Isolation ist die Zeit der Entbehrung und des Verzichts. Davon haben wir zur Zeit genug: Es fehlt die Gemeinschaft. Es fehlt die Bewegung. Es fehlt der Gesang. Es fehlt die Perspektive und der Aufbruch. Es fehlt vielen die Möglichkeit zum Broterwerb. Wüstenzeit wie damals, als Jesus seinen Weg begann. Wüste bedeutet Leere. Bedeutet Leere und Versuchung. Auch davon könnten wir ein Lied singen in dieser Zeit. Den Arbeitsalltag zuhause zu gestalten. Struktur zu bewahren. Nicht immer später ins Bett zu gehen und morgens nicht aus den Federn zu kommen, weil es ja reicht, den Computer vom Bett aus und im Schlafanzug hochzufahren, um an der Konferenz oder am Schulunterricht teilzunehmen. Sich zwingen rauszugehen an die frische Luft. Im Kontakt zu bleiben, trotz Kontaktsperre. Gut für sich zu sorgen. Gesund zu essen, gelassen zu bleiben, geduldig und zuversichtlich – der Depression entfliehen und den Stimmen widerstehen, die alles ins Negative ziehen. Das ist ein Kraftakt. Doch er lohnt sich. Die Chance der Isolation ist es, gesund zu werden, wieder zu sich zu kommen. Und gestärkt ins Leben zurückzukehren. Von der Insel auf das Festland. Von der Ausnahmesituation in den Alltag.

 

Isolation ist die Schwester der Quarantäne. Das eine bezeichnet den Ort – Isola – die Insel: frei schwebend und dabei getrennt vom Festland, losgelöst vom Vertrauten. Das andere bezeichnet die Dauer: Quarantäne – Quaranta - Vierzig Tage. Ab dem späten Mittelalter spielte dieser Zeitraum eine entscheidende Rolle beim Versuch von Städten und Ländern, Seuchen wie die Pest einzudämmen. 40 Tage – eine heilige Zahl und eine biblische Zahl. Die Fastenzeit bis Ostern, die am vergangenen Aschermittwoch begonnen hat, erinnert daran:

Am Beginn von Jesu Wirken steht die Isolation. Vierzig Tage in der Wüste. Quarantäne. Eine Zeit der Selbstisolation auf Gottes Geheiß. Probezeit. Versucherzeit. Wüstenzeit. Zeit der Entbehrung. Aber auch: Zeit der Bewährung. Zeit des Erstarkens. Als Jesus die Wüste verlässt, ist er ein anderer geworden: Gestärkt. Bereit für den Weg, der vor ihm liegt. Immun gegen  Anfechtungen von außen. Das Ziel klar vor Augen.

 

Vielleicht ist das die Chance, die in dieser mühseligen und belastenden Zeit liegt, die uns unfreiwillig in die Isolation zwingt. Der Tag als meine Quarantäne damals endete, hat sich tief in mein Bewusstsein gebrannt: Wieder raus zu können an die frische Luft, Menschen auf der Straße zu begegnen – und wenn es der Nachbar ist, den ich nicht mag – das hat mich zutiefst glücklich gemacht. Am Leben, an der Gemeinschaft teilhaben zu dürfen ist ein Geschenk.

Seine Fähigkeit, seine Sehnsucht, auf andere Menschen zuzugehen – sich durch nichts und niemand davon abschrecken zu lassen – vielleicht hat Jesus diese Fähigkeit erst durch die Zeit der Isolation entwickelt. Er hat sie immer wieder gesucht. Brauchte die Einsamkeit. Dieses Entzogensein von allen und allem für einen Moment. Mal für Tage, mal für Stunden. In der Wüste, auf einem Berg, auf dem See – zuletzt im Garten Gethsemane. Die Zeit der Isolation wird uns verändern. Möglicherweise zum Guten. Die Inselzeit wird ein Ende haben. Wie es dann wird – wie wir dann sein werden? Vielleicht so, wie es mit diesem Gebet Christen in Brasilien erhoffen:

 

Gott, mach uns unruhig, wenn wir selbstzufrieden sind.

Wenn wir uns am sichern Hafen und bereits am Ziel glauben,

wenn wir allzu dicht am Ufer entlang segeln,

wenn wir uns damit abfinden, dass unsere kleinen Träume sich sicher nicht erfüllen.

Gott, mach uns unruhig, wenn wir über die Fülle der Dinge, die wir haben und wollen, den Durst nach dem Wasser des Lebens verloren haben,

wenn wir, verliebt in unsere eigenen Pläne, aufgehört haben, auf deinen Willen zu horchen,

wenn wir über allen Anstrengungen, die wir für unsere Zukunft investieren, deine Vision vom neuen Himmel und der neuen Erde übersehen.

Gott, rüttle uns auf, damit wir kühner werden und uns hinauswagen auf das weite Meer, wo uns die Stürme entgegenwehen und wir ganz auf deinen Schutz vertrauen können, wo wir mit schwindender Sicht auf das Ufer die Sterne aufleuchten sehen.

Gott, lasse uns neu beginnen in deinem Namen, der du die Horizonte unserer Hoffnung weit hinausgeschoben und die Beherzten aufgefordert hast, dir zu folgen.

Gott, lass die Liebe in uns zu einem Feuer werden, das uns ergreift, dass alle Feigheit verbrennt und dich aufleuchten lässt,

der du das Licht bist und die Liebe.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

17.02.2021
Barbara Manterfeld-Wormit