Logos und Seelsorge

Schuhe am Donauufer in Budapest

Gemeinfrei via unsplash/ Mika

Logos und Seelsorge
Der Wille zum Sinn
20.06.2021 - 08:35
12.06.2021
Sandra Zeidler
Über die Sendung:

"Am Sonntagmorgen" im Deutschlandfunk zum Nachhören und Nachlesen

 
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Das Thema menschliches Leiden stand da, ja zieht sich wie so ein roter Faden durch sein Leben hindurch. In jungen Jahren auch diese ganz soziale Ader, ja, tatsächlich zu sagen, wir brauchen hier eine Jugendberatungsstelle für junge Menschen, die ihr Zeugnis kriegen und vor dem Suizid stehen oder sich sogar tatsächlich suizidieren. Hat das ins Leben gerufen, hat damit Erfolg gehabt. Ein Jahr, nachdem er damit angefangen hat, heißt es, dass tatsächlich in Wien die Selbstmordrate total runtergegangen ist. Also diesen Beginn weiß man. Dann hat er ja den Facharzt als Neurologe und Psychiater gemacht, hat in einer psychiatrischen Klinik gearbeitet und hat dann einige Jahre diesen Selbstmörderinnenpavillon in Wien geleitet (1).

 

Geertje Bolle - Pfarrerin und Logotherapeutin - spricht von Viktor Emil Frankl. Zeit seines Lebens war Viktor Frankl mit der Frage nach dem Sinn menschlichen Leids und dem Umgang damit befasst. Und tat viel, das Leid anderer zu lindern. Erfahrungen mit dem Leid machte Frankl auch selbst. Vier Konzentrationslager durchlitt der jüdische Arzt. Und behauptete trotz aller erfahrenen Bedrohung, trotz aller Erniedrigung und allem Elend, dass es auch unter solchen Umständen einen Lebenssinn und menschliche Freiheit gibt. Er schrieb:

 

Dostojewski hat einmal gesagt: „Ich fürchte nur eines: meiner Qual nicht würdig zu sein.“ Diese Worte mussten einem häufig genug durch den Kopf gehen, wenn man jene märtyrerhaften Menschen kennenlernte, deren Verhalten im Lager, deren Leiden und Sterben von der in Frage stehenden letzten und unverlierbaren inneren Freiheit des Menschen Zeugnis ablegten. Sie hätten wohl sagen können, dass sie „ihrer Qualen würdig“ gewesen sind. Sie haben dafür den Beweis erbracht, dass im rechten Leiden ein Leisten liegt, dass es eine innere Leistung darstellt. Die geistige Freiheit des Menschen, die man ihm bis zum letzten Atemzug nicht nehmen kann, lässt ihn auch noch bis zum letzten Atemzug Gelegenheit finden, sein Leben sinnvoll zu gestalten.

 

Diese Worte stammen aus Frankls Buch „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ - einer psychologischen Studie über Menschen im Konzentrationslager. Über ihre Anpassungsleistungen, um zu überleben. Über die Deformation, die sie dabei erleiden. Aber eben auch über ihre Suche nach Sinn und die ihnen verbliebene Freiheit. Frankl sah sie begründet im geistigen Wesen des Menschen, in dem, was er die „geistige Person“ nannte. Geertje Bolle sagt, für Frankl sei …

 

… Person keine biologische Kategorie, sondern etwas, was einzigartig ist, was unverwechselbar ist, was den Menschen ausmacht. Er hat gesagt: Die Person des Menschen kann nicht erkranken. Ich sag manchmal: Es gibt einen heilen Kern im Menschen, der nicht krank werden kann.

 

 

Dieser heile Kern, sagte Frankl, sei eigentlich der Mensch, während er Leib und Seele nur habe.

In diesem Sinn meinte er, die Person sei ungezeugt und auch kein bloßes Erziehungsprodukt.

Sie stehe ihrem Leib und ihrer Seele gegenüber, nehme zu ihnen Stellung, setze sich mit ihnen auseinander. Auch im Krankheitsfall. Gerade dann, betonte Frankl, sei diese Unabhängigkeit der Person wichtig. Denn, wer der Krankheit nicht Leib und Seele zurechne, sondern sie in die Person verlagere, der laufe Gefahr, dem Kranken sein Menschsein abzusprechen, wenn die Krankheit starken Verfall und Trübung verursacht. Und so betonte Frankl:

 

Die geistige Person ist störbar, aber nicht zerstörbar. … Was eine Krankheit zerstören, was sie zerrütten kann, ist der psychophysische Organismus allein. Dieser Organismus stellt sowohl den Spielraum der Person als auch deren Ausdrucksfeld dar. Die Zerrüttung des Organismus bedeutet demnach nicht weniger, aber auch nicht mehr als eine Verschüttung des Zugangs zur Person - nicht mehr. Und das möge unser psychiatrisches Credo sein: dieser unbedingte Glaube an den personalen Geist, …  an die „unsichtbare“, aber unzerstörbare geistige Person. Und wenn ich diesen Glauben nicht hätte, dann möchte ich lieber nicht Arzt sein (2).

 

Viktor Emil Frankl wurde in Wien geboren. Als junger Medizinstudent kam er dort in Kontakt mit den Größen der Psychoanalyse, mit Alfred Adler und Sigmund Freud. Bald hatte Frankl Einwände gegen Freuds Auffassung, der Mensch sei beherrscht von Trieben und unbewusster Sexualität. Gegen Freuds Behauptung, die Suche nach Sinn und Wert des Lebens sei krankhaft, bestand er darauf:

 

Das Zweifeln am beziehungsweise das Ringen um einen Daseinssinn, die Sorge um möglichste Sinnerfüllung menschlichen Daseins ist nichts Krankhaftes, sondern etwas schlechthin Menschliches, ja das Allermenschlichste, das man sich vorstellen kann, und es hieße, dem Pathologismus verfallen, wollte man dieses Allermenschlichste zu einem nur allzu Menschlichen denaturieren und degradieren, nämlich zu einer Schwäche, zu einer Krankheit, zu einer Neurose, zu einem Komplex. Im Gegenteil: So wenig handelt es sich beim Willen zum Sinn um eine Krankheit, dass wir ihn sogar gegen seelische Krankheit mobilisieren können (3).

 

Frankl begründete die sogenannte „Dritte Wiener Schule der Psychotherapie“. Neben Freuds „Willen zur Lust“ und Adlers „Willen zur Macht“ setzte er den „Willen zum Sinn“. Und schuf auf dieser Basis seine Logotherapie. Das griechische Wort „Logos“ meint bei Frankl „Sinn“.

Der Theologe und Psychotherapeut Michael Utsch bemerkt dazu:

 

Wenn Frankl „Logos“ mit „Sinn“ übersetzt, dann will er damit ausdrücken, dass seinem Menschenbild die Überzeugung zugrunde liegt, dass in der Welt Sinn enthalten ist. Er geht davon aus, dass in der Welt zahllose Sinnmöglichkeiten enthalten sind. Dass es aber die Aufgabe des einzelnen Menschen ist, für sich den passenden Sinn herauszufinden. Also quasi der Welt die passende Sinnmöglichkeit zu entnehmen und diesen Sinn zu verwirklichen.

 

Solch ein Sinn ist gegeben, muss aber entdeckt, gefunden werden. Für Frankl ist grundlegend, dass Sinn nicht erfunden, nicht hergestellt werden kann. Um den jeweiligen Sinn in der jeweiligen Lebenssituation - darum geht es vor allem - zu entdecken, ist eines entscheidend: Der Mensch soll nicht danach fragen, was ihm das Leben bietet, sondern, erklärt Frankl:

 

Das Leben selbst ist es, das dem Menschen Fragen stellt. Er hat nicht zu fragen, er ist vielmehr der vom Leben her Befragte, der dem Leben zu antworten - das Leben zu verantworten hat. Die

Antworten aber, die der Mensch gibt, können nur konkrete Antworten auf konkrete Lebensfragen sein. In der Verantwortung des Daseins erfolgt ihre Beantwortung, in der Existenz selbst vollzieht der Mensch das Beantworten ihrer eigenen Fragen (4).

 

Antwortet der Mensch auf die jeweils vom Leben an ihn gestellte Frage, verwirklicht er nach Frankl Werte. Es gibt „schöpferische Werte“: Da ist der Mensch tätig - handwerklich, intellektuell, sozial: Er handelt. Es gibt „Erlebniswerte“: Da gibt sich der Mensch Eindrücken hin, ist der Empfangende. Und es gibt „Einstellungswerte“, mit denen der Mensch auf unabänderliches Leid reagiert. Die drei Werte erläutert Frankl in seinem Buch „Ärztliche Seelsorge“:

 

Das eine Mal haben wir sozusagen die Welt reicher zu machen durch unser Tun, das andere Mal uns selbst reicher zu machen durch unser Erleben. Einmal mag die Forderung der Stunde an uns durch eine Tat erfüllbar sein, ein andermal durch unsere Hingabe an eine Erlebnismöglichkeit. Auch zur Freude kann der Mensch sonach „verpflichtet“ sein. In diesem Sinne wäre einer, der da in der Straßenbahn sitzt und Zeuge eines prächtigen Sonnenuntergangs wird oder den Duft eben in Blüte stehender Akazien wahrnimmt und sich diesem möglichen Naturerleben nicht hingibt, sondern in seiner Zeitung weiterliest - er wäre in einem solchen Augenblick irgendwie „pflichtvergessen“ zu nennen (5).

 

Der Mensch kann also den in einer Situation enthaltenen Sinn auch verfehlen. Zum Menschen gehört, was Frankl die Selbsttranszendenz des Menschen nennt: Dass er auf etwas außer sich bezogen ist - eine Sache, der er dient; einen Menschen, den er liebt. Dass er sich darin verwirklicht. Zugleich kann er zu sich auf Distanz gehen. Und so auch über sich lachen. Das hilft bei psychischen Erkrankungen. Wie im Fall der von Frankl entwickelten „paradoxen Intention“. Bei der paradoxen Intention wird der Patient angehalten, das, was ihn plagt, wovor er sich fürchtet, besonders intensiv und übertrieben anzustreben. Eine Frau litt unter der Vorstellung, auf öffentlichen Plätzen einem Herzschlag zu erliegen. Frankl riet ihr, sich vorzunehmen:

 

Heute geh ich eben einmal mit der Absicht aus, mich vom Herzschlag treffen zu lassen; bisher hat er mich beim Ausgehen jedes Mal ein- bis zweimal getroffen - heut’ will ich mich nun dreimal vom Herzschlag treffen lassen! Zwar ist es auch mir bekannt, dass ich ein normales Elektrokardiogramm habe und dass man mit einem solchen diesbezüglich eigentlich nichts zu fürchten hat; aber ich habe nicht nur ein normales Elektrokardiogramm, sondern nebstbei auch den Ehrgeiz, eben der erste Fall in der Weltgeschichte zu sein, der trotzdem am Herzschlag zugrunde geht und vor lauter Aufregung stirbt (6).

 

Die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung hilft nicht nur bei der Überwindung von Angstneurosen. Auch beim Umgang mit Leid ist sie nützlich. Wo Leid durch Handeln nicht aufgelöst werden kann, muss eine Einstellung dazu gewonnen werden. Dabei kommen die „Einstellungswerte“ zum Tragen. Denn auch im Leid kann der Mensch Entscheidungen treffen und Sinn finden. Frankl sagt:

 

Das Leiden, die Not gehört zum Leben dazu, wie das Schicksal und der Tod. Sie alle lassen sich vom Leben nicht abtrennen, ohne dessen Sinn nachgerade zu zerstören. Not und Tod, das Schicksal und das Leiden vom Leben abzulösen, hieße dem Leben die Gestalt, die Form nehmen. Erst unter den Hammerschlägen des Schicksals, in der Weißglut des Leidens an ihm, gewinnt das Leben Form und Gestalt (7).

 

Das Leid prägt also das Leben wesentlich. Es ist nicht nur ein unangenehmes Widerfahrnis, auch wenn es nicht gesucht werden soll. Die Art, wie mit ihm umgegangen wird, macht den Menschen zu dem, der er ist. Der Umgang mit dem Leid ist eine Aufgabe für den Menschen. Und das hat auch eine nützliche praktische Funktion. Leid verweist wie der Schmerz als Wächter und Warner auf Veränderungswürdiges. Und es hilft zur positiven Bewältigung von Lebenslagen. Die Pfarrerin und Logotherapeutin Geertje Bolle veranschaulicht das am Beispiel der Trauer.

 

In der Situation, wo ein geliebter Mensch gestorben ist, ist die Trauer unsere angemessene Antwort darauf, wo wir das, was uns lieb und teuer und wertvoll war im Leben, betrauern. Und da machen wir auch die Erfahrung, dass Trauer diese wandelnde Kraft hat. Dass sich dadurch etwas verändert, dass wir daran wachsen, dass wir darin gerade den Menschen, der uns ein persönlicher Wert war, dass wir gerade diesen Wert bergen können in der Trauer.

 

Frankl war gläubiger Jude. Der Sinn, der sich in allen Lebenssituationen finden lässt, und die Freiheit des Menschen als geistige Person waren für ihn letztlich in einer Gottesbeziehung begründet. Aber als beobachtbare und beschreibbare Wirklichkeit konnten Freiheit und Sinn, davon losgelöst, seine Logotherapie begründen. Sie hilft vielen Menschen bei der Leid- und Lebensbewältigung, auch unabhängig von religiösen Einstellungen. In seinem Buch über die Psychologie der Insassen der Konzentrationslager beschreibt er eine im Sterben liegende junge Frau, die ihr Leid annehmen konnte:

 

In ihren letzten Tagen war sie ganz verinnerlicht. „Dieser Baum da ist der einzige Freund in meinen Einsamkeiten“, meinte sie und wies durchs Fenster der Baracke. Draußen stand ein Kastanienbaum gerade in Blüte, und wenn man sich zur Pritsche der Kranken hinabbeugte, konnte man, durch das kleine Fenster der Revierbaracke, eben noch einen grünenden Zweig mit zwei Blütenkerzen wahrnehmen. „Mit diesem Baum spreche ich öfters“, sagt sie dann. Da werde ich stutzig und weiß nicht, wie ich ihre Worte zu deuten habe. Sollte sie delirant sein und zeitweise halluzinieren? Darum frage ich neugierig, ob der Baum ihr vielleicht auch antworte - ja? - und was er ihr da sage. Darauf gibt sie mir zur Antwort: „Er hat mir gesagt: Ich bin da - ich - bin - da - ich bin das Leben, das ewige Leben …“ (8)

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 


 

Literaturangaben:

 

  1. Viktor E. Frankl: Trotzdem Ja zum Leben sagen, S.103.
  2. Elisabeth Lukas: Der Schlüssel zu einem sinnvollen Leben, S.20.
  3. Elisabeth Lukas: Der Schlüssel zu einem sinnvollen Leben, S.29-30.
  4. Elisabeth Lukas: Der Schlüssel zu einem sinnvollen Leben, S. 177.
  5. Viktor E. Frankl: Ärztliche Seelsorge, S.83.
  6. Elisabeth Lukas: Der Schlüssel zu einem sinnvollen Leben, S.106.
  7. Viktor E. Frankl: Ärztliche Seelsorge, S.150.
  8. Viktor E. Frankl: Trotzdem Ja zum Leben sagen, S.106-107.
12.06.2021
Sandra Zeidler