Moral injury

Soldaten

Bild: Gemeinfrei via unsplash.com (Daniel Balaure)

Moral injury
Die Seele leidet mit
16.06.2019 - 08:35
07.03.2019
AutorInnen des Textes: Claudia Thiel und Thomas Thiel
Über die Sendung:

Dilemma-Situationen gehören zum Leben. Soldatinnen und Soldaten erfahren das in den Auslandseinsätzen unmittelbar. Existentielle Erlebnisse, in denen sie Schreckliches sehen und hören müssen. Situationen, in denen sie nicht verhindern können, dass Menschen verwundet oder getötet werden, dass die Würde eines Menschen verletzt wird. Wie können solche Verletzungen wieder heilen? Wie kann es gelingen, am Elend der Welt nicht zu verzweifeln und trotzdem ein aufrechter Mensch zu bleiben oder zu werden? Gibt es vielleicht sogar ein moralisches Wachsen durch solche Erlebnisse?

 
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Irgendwo in einer Stadt im Irak. Oder in Afghanistan. Oder in Syrien. Ein Zehnjähriger bekommt von seiner Mutter etwas in die Hand gedrückt. Es sieht wie eine Handgranate aus. Er steckt das Ding unter seine Jacke. Langsam geht er auf die Soldaten zu, die ihm entgegenkommen.

Hundert Meter entfernt liegt ein Sniper, ein Scharfschütze, auf einem Hausdach. Er beobachtet alles durch sein Zielfernrohr. Schildert die Szene über Funk. Fragt, was er tun soll. Und bekommt die Antwort: „Ihre Entscheidung“.

 

In Bruchteilen von Sekunden muss er nun über Leben und Tod entscheiden. Leben oder Tod. Tatsächlich kann ihm niemand die Entscheidung abnehmen. Hat der Junge nur eine Attrappe und er schießt, dann tötet er unschuldiges Leben. Ist es eine scharfe Granate, rettet er das Leben seiner Kameraden – und der Junge wird geopfert. Schießt er nicht, war es entweder eine makabre Szene mit glimpflichem Ausgang – oder seine Entscheidung hat vielen seiner Kameraden das Leben gekostet.

 

Ihre Entscheidung“. Mit dieser Szene beginnt der Film „American Sniper“ von Clint Eastwood. Als der Sniper am Abend zurück ins Camp kommt, ist bei ihm etwas aus den Fugen geraten. Etwas stimmt nicht mehr. Aber was stimmt da nicht mehr? Es war doch seine Aufgabe, die Kameraden zu schützen und dafür im Ernstfall auch den Feind zu töten. Das Leben der einen zu schützen durch das Töten von anderen.

Ein Kamerad, der spürt, dass etwas anders geworden ist, fragt ihn. Mit leerer Stimme antwortet der Sniper: „Ich habe ihn erschossen.“

 

 

Im Film war es eine scharfe Granate. Die Kameraden haben überlebt. Aber am Ende – so erzählt es der Film -, am Ende überlebt er, der Schütze, nicht. Weil die Wunde in seiner Seele sich entzündet hat, weil etwas in ihm genagt, gebohrt, gefressen hat, bis es in ihm nur noch schwarz war.

Täglich nehmen sich rund 20 Veteranen der US-amerikanischen Streitkräfte das Leben. Weil etwas aus den Fugen geraten ist. Weil sie das Leben nicht mehr ertragen. Weil das Leben sie nicht mehr trägt.

 

Der Begriff, der zu deuten versucht, was da passiert heißt: moral injury – moralische Verletzung. Ende des letzten Jahrhunderts wurde er von dem US-amerikanischen Psychiater Jonathan Shay in die Diskussion um die Ursachen der Posttraumatischen Belastungsstörungen bei Soldaten eingeführt. Mit Entscheidungen über Leben oder Tod, mit moralischen Konfliktsituationen sind die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr seit den Auslandseinsätzen in Krisengebieten konfrontiert.

Oberstarzt Dr. Peter Zimmermann, Leiter des Psychotraumazentrums der Bundeswehr am Bundeswehrkrankenhaus Berlin, definiert Moral Injury:

„Moralische Verletzungen ist der wörtliche deutsche Begriff und bezeichnet eine Verletzung, Verwundung, die ganz häufig Einsatzkräfte betrifft, dann aber nicht den Körper, auch nicht das psychische Empfinden wie z. B. Angst oder Ähnlichem, sondern es betrifft das moralische Empfinden.

Das kann verletzt werden, wenn man Erfahrungen macht, die mit dem, was man selber mitbringt, in Kollision geraten.“

 

Schon in jungen Jahren beginnen Menschen, sich ein individuelles Moralsystem anzueignen, im Laufe des Lebens wird es immer feiner differenziert. Menschen lernen zu unterscheiden, was gut und was böse ist.

Biblisch gesprochen: Der Mensch kostet die Paradiesfrucht bis ihm die Augen aufgehen und dann, out of paradise, versucht er irgendwie, besser oder schlechter, in der Welt zurecht zu kommen.

Der Mensch braucht Sicherheiten, um nicht ständig überlegen zu müssen, ob er dies tun oder jenes lassen sollte.

 

Schien es vor noch nicht allzu langer Zeit möglich, in einem vorgegebenen Rahmen, etwa der Kirche, sich sicher zu bewegen, so sieht die Realität heute anders aus. Einerseits verschwimmen von außen vorgegebene moralische Grenzen. Andererseits steht jeder Mensch selbst solchen Grenzen entgegen mit dem Wunsch nach Freiheit und Individualisierung. Moral ist hochgradig individualisiert. Moral wird anstrengend. Moral wird mühsam. Moral wird verletzbar. Moral injury.

 

In der Bundeswehr machen Begriffe wie: „Innere Führung“ oder „der Soldat als Bürger in Uniform“ deutlich: Die Angehörigen der Armee sind den Werten der Gesellschaft verpflichtet. Das letzte „Weißbuch“ zur Sicherheitspolitik und Zukunft der Bundeswehr von 2016 hebt jedoch hervor:

„... absehbar bleibt ein Spannungsfeld ... zwischen den persönlichen demokratischen Freiheitsrechten auf der einen Seite und den soldatischen Prinzipien von Pflicht und Gehorsam auf der anderen Seite.“ (1)

 

Dieses Spannungsfeld wird noch deutlicher, wenn man ebenda liest, dass „das Gewissen jeder und jedes Einzelnen als moralische Instanz“ anerkannt wird. Nicht als letzte Instanz. Ein Soldat, eine Soldatin ist qua Dienstverhältnis bereit, Leib und Leben einzusetzen. Ähnlich verhält es sich bei anderen Einsatzkräften, Polizei oder Feuerwehr.

 

Zugespitzt: Für jeden Soldaten, jede Soldatin ist klar, dass er oder sie in Situationen kommen kann, in denen es um Leben oder Tod geht. Situationen, in denen das eigene (Über-)Leben nur noch ein Wert ist, nicht unbedingt der höchste. Situationen, in denen in kürzester Zeit darüber zu entscheiden ist, wer überlebt – und klar ist, dass nicht jeder überleben wird. Wenn sie tatsächlich eintreten, geraten Menschen an die Grenze ihres Menschseins.

 

Dr. Peter Zimmermann erzählt von seinen Erfahrungen in der Arbeit mit Soldaten:

Die für mich eindrücklichsten Beispiele moralischer Verletzungen sind im Grunde genommen, Situationen, die mit Kindern in den Einsatzländern zu tun haben. Durch die langjährigen Kriegshistorien sind Frauen und Kinder oft die, die am meisten zu leiden haben, auch bis in die Gegenwart durch Armut, durch Gewalt.

 

Moralsysteme kollidieren. Regeln, die ein gutes Miteinander möglich machen sollten, implodieren. Die Moral von zu Hause, die Familienmoral, lange bewusst oder unbewusst eingelebt, verhakt sich mit erlernten soldatischen Moralvorstellungen und der aktuellen Situation. Keine, keiner kommt mit „weißer Weste“ aus solchen Situationen heraus. Beschädigt, verletzt, ernüchtert, desillusioniert – jede und jeder anders.

 

Ein Soldat weiß, dass er im Kampfeinsatz vielleicht töten wird oder getötet werden kann. Eine Polizistin weiß, dass sie in Situationen kommen kann, in der sie von der Schusswaffe Gebrauch machen muss.

Dass Industrie und Verkehr das Klima verändern, tödliche Schadstoffe erzeugen, dass falsche Ernährung, Drogenkonsum und Raubbau an der Natur Menschenleben kostet, ist ebenso bekannt.

Vieles wird, gesellschaftlich und individuell, ausgeblendet, will man nicht wahrhaben, auch wenn es wahrgenommen wird.

 

 

Früh am Morgen in Jerusalem. Ein Menschenauflauf. Geschrei, Geschubse. Die Sicherheitskräfte halten noch Abstand, warten ab. Plötzlich wird es still. Mittendrin erhebt einer die Stimme:

 

„Meister“, [...] „diese Frau ist eine Ehebrecherin; sie ist auf frischer Tat ertappt worden. 

Mose hat uns im Gesetz befohlen, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du dazu?“ 

Mit dieser Frage wollten sie Jesus eine Falle stellen, um dann Anklage gegen ihn erheben zu können. Aber Jesus beugte sich vor und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 

Als sie jedoch darauf bestanden, auf ihre Frage eine Antwort zu bekommen, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: „Wer von euch ohne Sünde ist, der soll den ersten Stein auf sie werfen.“ 

Dann beugte er sich wieder vor und schrieb auf die Erde. 

Von seinen Worten getroffen, verließ einer nach dem anderen den Platz; die ältesten unter ihnen gingen als Erste. Zuletzt war Jesus allein mit der Frau, die immer noch da stand, wo ihre Ankläger sie hingestellt hatten. (2)

 

Nach den geltenden Moralvorschriften der biblischen Zeit ist die Frau schuldig. Sie muss verurteilt werden. Wenn man sie einfach gehen lassen würde, bräche das System zusammen, in dem sich die Gesellschaft organisiert hat. In sich verkrümmt liegt die Frau vor Jesus und schämt sich in Grund und Boden. In diesen Boden, in diesen seit Adam und Eva verfluchten Acker schreibt Jesus etwas hinein. Etwas, was vorher nicht dastand. Etwas Neues. Etwas, das Schuld und Scham in eine andere Richtung lenken kann. Das befreien kann aus der Verfluchung des Immer-wieder-schuldig-werdens.

Der entscheidende Akt Jesu ist es, die so genannte „Moral“ von den toten Buchstaben zu lösen und in die Herzen einzuschreiben. Der Erde eine neue Inschrift zu geben, die seit dem Brudermord Kains bis heute immer und immer wieder das Blut der Menschen trinken muss. Und nicht nur der Menschen.

 

 

Viele der Soldaten, die ich in der Seelsorge kennengelernt habe, hassen den Krieg. Hassen ihn noch viel mehr als diejenigen, die ihn aus der Ferne ablehnen. Weil sie die Ausweglosigkeit am eigenen Leib gespürt haben, weil sie in Situationen, die sie gerade noch überlebt haben, nie alles richtig machen konnten.

Soldaten erleben ins Äußerste zugespitzt, dass Menschen töten, damit andere überleben. Es erklärt, warum viele Menschen das Militär ablehnen. Weil es kaum auszuhalten ist, wirklich hinzuschauen auf Realitäten, die eben nicht nur medial abgebildet, sondern existentiell durchgemacht wurden und werden. An vielen Orten der Welt, jeden Tag wird Moral brutal und radikal auf den Prüfstand gezwungen. Das lässt sich nicht schönreden, die Erinnerungen an Blut, Gestank und Lärm, verzweifelte Gesichter und Sterbensschreie sind unerträglich.

 

Auszuhalten, dass es diese Gewalt gibt, fällt vielen, die sie erlebt haben, immer schwerer. Dass Menschen wie sie schuldig werden. Und dass als einziger Ausweg, zuerst und manchmal bis zuletzt die Scham bleibt. Wegschauen, sich wegducken, sich unsichtbar machen, das Geschehene verdrängen.

 

In der biblischen Geschichte spüren die Ankläger ihre Doppelmoral, ihre Herzensferne. Sie sind es, die beschämt davongehen. Alle Beteiligten haben die Chance, sich zu ändern: Jesus hat ein weites Tor aufgemacht.

 

Moralische Vorstellungen werden im Stresstest einer Krise oft untauglich. Das ist eine genauso bittere wie alltägliche Erfahrung. Oder sie werden zementiert aus Angst, über das bisher Vorgestellte hinaus wachsen zu können – obwohl dies eine Freiheit jenseits von gegenseitigen Beschämungen wäre.

 

Als die Doppelmoralisten in Jerusalem den Schauplatz verlassen haben, eröffnet Jesus der beschämten Frau einen Weg, der zur Hintertüre des Paradieses führt, die immer offenstand:

 

Jesus richtete sich auf. „Wo sind sie geblieben?“, fragte er die Frau. „Hat dich keiner verurteilt?“ – 

„Nein, Herr, keiner“, antwortete sie. Da sagte Jesus: „Ich verurteile dich auch nicht; du darfst gehen. Sündige von jetzt an nicht mehr!“ (3)

 

Versprechen kann die Frau, der Mann, der Mensch das nicht. Damals nicht und heute nicht. Aber es bleibt eine Aufgabe, für die Gesellschaft und jeden Einzelnen.

Und die Soldatinnen und Soldaten? Dr. Peter Zimmermann beschreibt, wie es weitergehen könnte:

Der Umgang mit moralischen Verletzungen, der berührt eine ganze Reihe an Persönlichkeitsebenen, aus meiner Sicht. Das fängt an mit der Ebene der psychischen Befindlichkeit wie zum Beispiel Angst, Ärger, Trauer. Das geht weiter aber auch mit der Auseinandersetzung mit Dingen, die über das tägliche Erleben mit eigenen Gefühlen hinausgehen. Die mit dem Bestreben zusammenhängen, Erlebnisse in einen größeren Zusammenhang einzuordnen, Sinn zu geben, oder auch eine Bedeutung abzuleiten für das eigene Leben. Hier sehe ich den spirituellen Anteil verankert. [...] Und wenn man mit diesen Voraussetzungen an die Problematik rangeht und auch Offenheit hat für spirituelle Bedürfnisse und Gedanken der Patienten, dann kann man diesen Transformationsprozess, glaube ich, gut fördern.“

 

Ich frage einen Soldaten, ob er alles Erlebte, all die psychischen Probleme, mit denen er seit Jahren zu kämpfen hat, eintauschen würde für das Leben, das er zuvor geführt hat. Er schaut mich lange nachdenklich an. „Ich glaube nicht. Ich glaube, dass ich erst jetzt weiß, was im Leben wirklich wichtig ist.“ Dann erzählt er von seiner Beziehung, seinen Kindern und den wenigen verbliebenen Freunden. Dass es nicht mehr das schnellste Auto sein muss. Und lächelt.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Sull lull, Jan Garbarek, Madar
  2. Voci, Kim Kashkashian, VOCI
  3. Joron, Jan Garbarek, Madar
  4. Turning around, Ketil Bjørnstad, new life

 

Literaturangaben:

  1. Weißbuch, S. 113
  2. Johannes 8,4b-9 (Neue Genfer Übersetzung)
  3. Johannes 8,10f (Neue Genfer Übersetzung)
07.03.2019
AutorInnen des Textes: Claudia Thiel und Thomas Thiel