Reformation ist immer!

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Gemeinfrei via unsplash.com (Milan Popovic)

Reformation ist immer!
Vom protestantischen Prinzip des Widerspruchs
28.10.2018 - 08:35
07.09.2018
Arnd Brummer
Über die Sendung:

„Das protestantische Prinzip“, formulierte der Theologe Paul Tillich, finde sich schon bei den Propheten im Alten Testament, die den Tempelpriestern widersprochen haben. Auch fromme Gemeinschaften müssen sich ihrer Fehlbarkeit und damit verbunden der Notwendigkeit von Reformen bewusst sein. Das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt. Kirchen sind menschlich, selbst wenn sie sich „heilig“ nennen mögen. In diesem Sinne haben die deutschen Protestanten mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis im Oktober 1945 ihr Versagen in der NS-Zeit eingestanden und festgestellt: „So bitten wir in einer Stunde, in der die ganze Welt einen neuen Anfang braucht: Veni, creator spiritus!“ – Also: Komm‘ heiliger Geist!

 
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Über die Zukunft des christlichen Glaubens zu sprechen – mir ist das eine große Freude! Es gibt nicht den geringsten Grund, sich pessimistisch, frustriert, verärgert oder mit einem achselzuckenden „egal“ abzuwenden.

 

Ich richte mich vor allem an jene, die es mir abfordern, mein Haupt in Respekt zu neigen. Sehr geehrte, edle Kenner des Wahren und Heiligen, des Echten und Richtigen, werte Moralisten und ethisch Unfehlbare. Ich wende mich an Sie in Demut vor dem Marmor ihrer Überlegenheit gegenüber all den Herumirrenden. Gut, dass es Sie gibt, die wissen, was Wahrheit bedeutet und wie Frömmigkeit gelebt wird. Doch genau so meine ich auch Sie, liebe Gebildete unter den Verächtern des Christlichen, liebe Anhänger des heiligen Atheismus. Ich hoffe, Ihnen die eine oder andere Wahrnehmung mitzuteilen, die mich inständig auf eine gute Zukunft der Kirche hoffen lässt.

In drei Tagen jährt er sich zum 501. Mal, der Tag, an dem den Legenden entsprechend der Wittenberger Theologe und Augustinermönch Martin Luther seine 95 Thesen zur Reformation der Kirche publiziert haben soll. Viele evangelische Christen werden sich mit einer gewissen Entspannung an die Feierlichkeiten im Jubeljahr 2017 erinnern: Gottlob, Gott sei Dank ist es vorbei mit der stressigen Lutherei! Jetzt herrscht wieder Ruhe im Kirchenschiff, nun haben wir nur noch das Gesangbuch im Griff! Also: Schluss mit dem Hintersinn! Weiter geht’s im alltäglichen, vor allem aber im allsonntäglichen Dienst des einen Gottes.

 

Die Reformation, ich kann es nicht leugnen, hat eine tiefgreifende Veränderung unserer Menschenwelt eingeleitet, vor 500 Jahren, ausgehend von Wittenberg, von Zürich und Genf. Dass Glauben und Gnade zu einem Vorgang wurden, den menschliche Individuen gegenüber ihrem Gott selbst zu verantworten haben, erwies sich als tiefer Einschnitt in die soziale Wirklichkeit. Es entbrannte ein Streit mit jenen Vertretern der Organisation namens „Kirche“, die auf der Deutungsmacht und Hoheit beim Spenden der Gnade bestanden: ‚Lossprechen von deinen Sünden können nur wir dich, die dazu das Mandat des Stellvertreters Christi auf Erden, des Papstes in Rom haben. Also auf die Knie, du Sünder!‘

 

Soziologen sagen, mit der Reformation beginne der Prozess der Individualisierung, der Weg in die Moderne. Das mag wohl sein. Aber weltliche Herrscher hat es keineswegs daran gehindert bis in die Gegenwart hinein ihre Macht mit dem Zusatz „von Gottes Gnaden“ zu versehen und entsprechend auszuüben. Und genau betrachtet waren Luther und Co. keineswegs die ersten, die den Stein der Erneuerung und Veränderung ins Rollen brachten. 1415 wurde während des Konzils in meiner Heimatstadt Konstanz am Bodensee der Prager Reformator Jan Hus verbrannt. Hus sah im Verzicht auf Macht und in der Nähe zu den Menschen den Kern der Botschaft Jesu Christi. Als Luther Texte von Hus zu lesen bekam, staunte er und rief aus: Ich bin Hussit, wir alle sind Hussiten!

 

Wenn man in der Geschichte von Glauben und Religion noch weiter zurückblättert, wird man auf den Namen Petrus Valdes stoßen. Der Kaufmann aus Lyon hatte um 1170 beschlossen, seine Güter zu verkaufen und sich mit all seinem Besitz alleine der Verbreitung des Evangeliums sowie den Armen und Geschädigten zu widmen. Valdes tat bereits Ende des 12. Jahrhunderts, was Hus und Luther bis heute als Leistung zugeschrieben wird. Er ließ das Neue Testament ins Provenzalische, in die Sprache des Volkes übersetzen. Dass unter den sogenannten Waldensern zudem Laien und unter ihnen zahlreiche Frauen predigten, sorgte in Rom dafür, dass man diese Leute als Ketzer verbannen ließ.

 

Der große Theologe Paul Tillich, 1933 von den Nazis seines Lehrstuhls beraubt und nach Amerika geflüchtet, würde an dieser Stelle lächeln: Das „protestantische Prinzip“ des Widerstands gegen die herrschende Auslegung der Lehre finde sich schon im Alten Testament. Etwa, wenn Propheten mit Tempelpriestern über die Auslegung von Texten und das richtige Verhältnis zur göttlichen Wahrheit stritten. Und im Neuen Testament gibt es ebenfalls zahlreiche Texte, die von diesen Formen des Streits berichten. Zum Beispiel, wenn sich der Apostel Paulus im Galaterbrief mit Petrus anlegt und ihn feige nennt.

 

Wahrheit, so stellte Tillich fest, ist bei Gott. Menschen können sie nicht besitzen, sondern lediglich bitten und beten, ihr möglichst nahe zu kommen. Die schlimmsten Feinde der Wahrheit sieht er in zwei Gruppen: unter Fundamentalisten, die behaupten, die Wahrheit zu besitzen, und jenen, denen die Wahrheit piepegal ist. Wer zweifle und suche, komme Gott und der Wahrheit am nächsten. In seiner Systematischen Theologie schreibt Tillich:

 

„Der Fundamentalismus versagt vor den Kontakten der Gegenwart, und zwar nicht deshalb, weil er der zeitlosen Wahrheit, sondern weil er der gestrigen Wahrheit verhaftet ist. Er macht etwas Zeitbedingtes und Vorübergehendes zu etwas Zeitlosem und ewig Gültigem. Er hat in dieser Hinsicht dämonische Züge. Denn er verletzt die Ehrlichkeit des Suchens nach der Wahrheit, ruft bei seinen denkenden Bekennern eine Bewusstseins- und Gewissensspaltung hervor und macht sie zu Fanatikern, weil sie dauernd Elemente der Wahrheit unterdrücken müssen, deren sie sich dunkel bewusst sind.“ (1)

 

Wenn wir die Wahrheit nicht besitzen können, wie sollen wir dann Kirche sein, liebe Schwestern und Brüder, innerhalb und außerhalb derselben? Ganz einfach: Indem wir „Reformation“ im Sinne des protestantischen Prinzips als den normalen Zustand einer christlichen Gemeinschaft betrachten. Wenn Sie und ich unterschiedliche Wahrnehmungen von „richtig“ und „falsch“ haben, bleibt uns nichts anderes übrig als zu streiten und miteinander nach Antworten zu suchen. Was gestern richtig schien, kann sich heute als falsch erweisen. Das erkannten, Gott sei Dank, im Oktober 1945 die deutschen Protestanten, die das Stuttgarter Schuldbekenntnis formulierten.

 

„Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben. Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden.“

 

Vielen in der NS-Zeit nicht zum Widerstand fähigen oder bereiten Kirchenleuten klang dieses Bekenntnis als viel zu deutlich und schrill in den Ohren. Es bedurfte einiger Jahre, bis die Erklärung allgemein anerkannt wurde.

 

Keineswegs unumstritten waren die Einsetzungen erster Pfarrerinnen in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und schließlich die Wahl der ersten Bischöfin, Maria Jepsen, 1992 in Hamburg. Ähnliches gilt für den Umgang mit Homosexualität. Was inzwischen als nahezu selbstverständlich angesehen wird, beschreibt die Bedeutung der dauernden Reformation.

 

Doch will ich jetzt Schluss machen mit dem Rumkramen in der Kirchengeschichte. Wie geht die „Erneuerung“ denn nun weiter? Ich will und kann weder Thesen noch Prothesen an Kirchentüren nageln. Aber ich will im Sinne Jesu und seiner Apostel schauen, was denn heute und morgen für uns praktizierende Christen angesagt ist.

 

Überall wird derzeit über die fortschreitende „Säkularisierung“ gesprochen, die den Kirchen die Basis raube. Was damit gemeint wird, bleibt weitestgehend unklar. Statt hier zu lamentieren, schaue ich lieber, woran es denn sichtbar und spürbar wird, dass sich die Bürgerinnen und Bürger, vor allem und gerade die Jüngeren, nicht von der Grundidee des Jesus aus Nazareth verabschieden. Sondern eher von den tradierten Formen, in denen Kirchen und Gemeinden sichtbar sind.

 

Mit Sitzenbleibern ist keine Bewegung möglich. Es reicht nicht, die Türen der Gotteshäuser zu öffnen und zu verkünden „Wir sind einladend!“. Wenn Jesus und nach ihm seine Jünger und Apostel so agiert hätten, gäbe es keine Kirchen. Jesus ist raus zu den Fischern und zu den Bauern, durchstreifte das heute so genannte „heilige Land“, ging nach Jerusalem. Und er redete mit allen. Zum Beispiel mit dem Steuereintreiber Zachäus, der heute wahrscheinlich ein Bank-Manager wäre. Und in seiner Bergpredigt würde er jene kritisch ansprechen, die dem Optimierungswahn huldigen. Wir haben alles super organisiert, haben die besten Apps, einen tollen Finanzplan, sind ökologisch ganz vorne und in jeder Hinsicht vorbildlich! „Im Himmel“, würde Jesus ihnen mitteilen, „würde euch das überhaupt nichts nutzen. Und diejenigen, die ihr für die Allerletzten haltet, desorganisiert, rückständig, chaotisch, wären ganz vorne!“

 

Luther hat mal über schlechte Predigten geschimpft. Und als er gefragt wurde, wie man die Leute ansprechen könnte, riet er, es wie Jesus zu machen. Wenn der zu den Bauern gegangen sei, habe er Gleichnisse aus der Landwirtschaft verwendet, und vor Fischern welche aus der Fischerei. Also: Schluss mit der „Wahrlich, wahrlich“-Fremdsprache aus Luthers Zeiten. Dessen Texte fanden übrigens die Gelehrten seiner Zeit schrecklich banal. In seinem „Sentbrief vom Dolmetschen“ beschreibt Luther anschaulich, wie er eine geeignete Sprache fand, um die Botschaft in die Köpfe der Leute zu bringen. Zum Beispiel, indem er auf dem Wochenmarkt herumschlenderte und den Gesprächen an den Ständen lauschte. Also: Reden wie die Leute, die zuhören sollen!

 

 

Wenn der Korinther-Brief des Paulus zitiert wird, erscheint in den meisten Köpfen das Bild einer antiken Metropole. Die hatten die Römer aber bereits 146 v. Chr. dem Erdboden gleichgemacht. Als Paulus 51 oder 52 unserer Zeitrechnung dort ankam, kam er in eine sogenannte Freigelassenen-Siedlung, die Gaius Iulius Caesar dort hatte anlegen lassen. Ehemalige Sklaven und Kriegsgefangene aus Afrika, Germanien, Gallien, Slawien, Asien und Ägypten konnten dort ein neues Leben aufbauen. Bedingung: Sie hatten ein Kastell zu unterhalten, um notfalls das Imperium zu verteidigen. Korinth war im wahrsten Sinne multikulti. Und Paulus teilte den Leuten mit: „Egal woran ihr bis gestern geglaubt habt – ob an Zeus, Wotan, afrikanische oder persische Gottheiten – setzt euch zu uns! Ich erzähle euch die Geschichte von der Liebe Gottes, wie sie Jesus uns vermittelt hat. Glaube, Hoffnung, Liebe – aber die Liebe ist die größte unter ihnen!“ Den strenggläubigen, sogenannten Juden-Christen hat die Aktion des Paulus nicht so sehr gefallen.

 

Korinth heißt heute Offenbach. Die Stadt beheimatet mehr als 60 Prozent Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund und weit mehr als hundert Nationalitäten. Also: Ab nach Offenbach, die Liebe zeigen, miteinander reden! Und überall die Kirchen zu Treffpunkten machen. Runde Tische, Nähe, Offenheit, Aug‘ in Auge! Die Reformation geht weiter! Offenbach, Korinth – das ist überall auf der Welt. Zu jeder Zeit.

 

So wichtig auch Kommunikation über Internet und Radiosendungen ist: Es reicht nicht, wenn Christen und andere lediglich aus dem Fundamen-Tal ins Digi-Tal umziehen. Es geht um persönliche Nähe, von Mensch zu Mensch. Und die ist laut Jesus gerade jenen anzubieten, die es nach frommem Denken oder pseudorationaler Logik nicht verdient haben. Jesus stellt eiserne Grundsätze und Regeln der vermeintlich Frommen in Frage, wenn sie mit Liebe und Mitmenschlichkeit kollidieren, so erzählen es die Evangelisten. Ja, man darf auch am Sabbat heilen. Ja, es ist gut, sogenannte Sünder einzuladen und mit ihnen zu essen! Wenn eine Ordnung der Liebe im Weg steht, muss sie verändert werden!

 

Es lebe die Reformation!

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Literatur:
(1) Paul Tillich: Systematische Theologie, Band I, Stuttgart, 3. Auflage 1956, S.9.

 

07.09.2018
Arnd Brummer