Verwundbar sein

Am Sonntagmorgen

Gemeinfrei via Unsplash/ Liane Metzler

Verwundbar sein
Das Wunder der Weihnachtsgeschichte
27.11.2022 - 08:35
01.08.2022
Susanne Niemeyer
Über die Sendung:

„Ach stark“, sagt Oma, „immer diese olle Stärke. Wem willst du was beweisen? Guck mich an: Ich schaffe es nicht mal mehr, meine Kaffeetasse zu heben. Ich sag dir eins: Wenn du glücklich sein willst, such dir eine andere Superkraft.“
Und so macht Autorin Susanne Niemeyer sich im grauen Grieselwetter des Advents auf die Suche. Denn da muss es doch irgendwo mehr geben als Kitsch und Kaufhausrummel…

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Am 21. November steht Kim an Omas Bett und denkt: „Das ist so typisch für Oma, dass sie kurz vorm Advent beschließt zu sterben.“ „Da seh ich schon die Lichter im Himmel“, lacht Oma, weil draußen jemand Weihnachtsbeleuchtung aufgehängt hat. Trotz Energiesparen. Ein bisschen Licht muss sein, das findet auch Kim und strafft die Schultern. Jetzt bloß stark sein. „Ach stark“, sagt Oma, „immer diese olle Stärke. Wem willst du was beweisen? Guck mich an: Ich schaffe es nicht mal mehr, meine Kaffeetasse zu heben. Willst du etwa, dass ich so tue, als sei ich morgen wieder topfit? “ Kim schaut auf Omas dünne Handgelenke und die gläserne Haut und denkt: „Nee. Das wäre ja noch schwerer auszuhalten.“ „Siehste“, sagt Oma, weil ihre Superkraft schon immer Gedankenlesen war. „Kind“, sagt sie, obwohl Kim natürlich längst kein Kind mehr ist. „Ich sag dir eins: Wenn du glücklich sein willst, tu nicht immer so, als sei alles in Butter. Stärke ist eine Illusion. Such dir eine andere Superkraft.“ Dann lächelt sie ihr Omalächeln. „So, und nun sing mir was vor.“ Kim kann nichts singen außer „Alle Jahre wieder“. Das mussten sie in der vierten Klasse mal auswendig lernen. Bei „Geht auf allen Wegen // Mit uns ein und aus“ stirbt Oma, aber Kim singt tapfer weiter.

Samstag vorm ersten Advent wird Oma begraben. Im Ganzen, so hat sie das gewollt. Ein letztes Mal das Ausgehkleid tragen, mit Silberbrosche und dem geerbten Fuchsschwanz. „Wird ja auch wirklich Zeit, dass der endlich unter die Erde kommt“, hatte Oma gelacht. Vielleicht ist Humor auch eine Superkraft, denkt Kim und wirft einen Schokonikolaus ins offene Grab. Vollmilch natürlich. Bitteres gibt es ohnehin schon genug. Dann gehen alle zum Kaffeetrinken. Auf den Tischen stehen Adventsgestecke und wer will, kriegt Glühwein. Kim trinkt fünf Becher, und mit jedem Schluck legt sich ein Weichzeichner auf die Welt. Schließlich ist doch Advent! Die Zeit, wo alles heil wird oder? Wo traurige Gedanken keinen Platz haben. Irgendwann muss doch mal gut sein

Am nächsten Morgen ist nichts gut. Draußen ist es dunkelgrau. Kims Schädel dröhnt und die Zunge fühlt sich pelzig an. Im Radio spielen sie „All you need is love“. Die Moderatorin lacht nach jedem Satz, als fürchte sie, jemand könnte herausfinden, wie sehr die Welt im Argen liegt. „Also Advent“, denkt Kim. „Kerzen, Kitsch und Konsum. Wie ich auf all das in diesem Jahr überhaupt keine Lust habe.“
Draußen läuten die Glocken, im Radio beginnt ein Gottesdienst. Jemand liest mit enthusiastischer Stimme: „Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst…“ „Albern“, denkt Kim und schaltet das Radio aus. „Was bitte soll die Superkraft eines Babys sein?“
„Finde es heraus“, sagt eine andere Stimme. Sie gehört einem Engel. Aber weil Kim nicht an Engel glaubt, hört Kim sie nur im Kopf. Und das ist auch okay.

In den nächsten Tagen sind hundert Dinge zu erledigen, und als auf der To-Do-Liste „To-do-Liste-schreiben“ steht, fällt Kim die Sache mit der Superkraft wieder ein. Die wäre jetzt gut. Aber woher nehmen?
„Finde es heraus“, sagt der Engel zum zweiten Mal. Die wenigsten hören sofort. Engel sind das gewohnt. Sie scheuen keine Wiederholungen. Und dieses Mal bleibt der Satz hängen: Kim beschließt, Feierabend zu machen und ab jetzt jeden Mittwoch mit Einbruch der Dämmerung auf die Suche zu gehen.
Auf die Suche nach etwas, an dem man sich festhalten kann. Das trägt ohne aufzutragen. Das erlöst und rettet. Eine Superkraft eben. Kim beginnt in einer Kirche. Dort sind sie doch Profi in solchen Sachen oder?
Auf dem Altar steht ein Adventskranz, aber es brennt keine Kerze. Vielleicht gibt es die nur sonntags. Oder der Brandschutz hats verboten.
Kim war noch nie hier. Der Pastor trägt so ein Hemd mit weißem Stehkragen. Das gibt ihm etwas Strenges, Distanziertes. Am Telefon war er geschäftsmäßig freundlich und hat ein Treffen vorgeschlagen. Kim beginnt von Oma zu erzählen und davon, nicht mehr stark sein zu wollen, sondern glücklich und von dem Baby-Fürst im Radio und der Frage, wie das alles zusammenhängt. „Was ist denn so besonders an diesem Kind?“
Der Pastor strafft die Brust. „Dieses Kind wurde ohne Sünde gezeugt. Deshalb kann es deine Sünde tragen.“ „Welche Sünden denn?“, fragt Kim. „Das weißt nur du, und wenn du in dich gehst, wirst du es herausfinden.“ Kim setzt sich in eine Bank und schließt die Augen. Innendrinn ist es dunkel, zugegeben. Auf Kims Herz liegt ein Gewicht, eine riesengroße Traurigkeit, die nicht raus darf. Daneben Sehnsucht. Wenn das nicht so ein abgenutztes Wort wäre. Sehnsucht nach einem Ort, um sich zu verkriechen. Darunter leuchtet etwas. Ein warmes Gefühl, wenn Kim an diese eine Person denkt, deren Name gut versteckt ist. Aber Sünde? Was davon sollte Sünde sein? Kim fröstelt, weil die Kirche nicht geheizt ist und auch sonst. Der Raum ist viel zu groß. Dabei ist niemand hier außer ihnen. Kim schaut nach oben, wo die Säulen irgendwo im Halbdunkel enden und fühlt sich plötzlich klein und verloren. Größe ist keine Superkraft.

Am folgenden Mittwoch geht Kim zu einer Coachin. Sie nennt sich Coachin für Inneres. Das klingt zwar nach Internistin und Krankenhaus, aber Kim hat beschlossen, die Suche nach der Superkraft möglichst vorurteilsfrei anzugehen. Beim Eintreten riecht es dann auch nach Lavendelöl statt nach Desinfektionsmittel. „Du musst dein Inneres Kind finden“, rät die Coachin. „Stille deine Bedürfnisse. Wir denken dauernd an andere. Jetzt bist du an der Reihe.“ Sie präsentiert ein Sortiment blauer Flaschen. „Diese Achtsamkeits-Öle zum Preis von 89 Euro 90 helfen dir dabei.“ Achtsamkeit, das klingt so sanft. Nach einer Welt, in der Menschen höflich die Türen aufhalten und einander nach ihrem Befinden fragen. Wer achtsam ist, pöbelt nicht, hasst nicht, liebt die Nächsten wie sich selbst. Allerdings hat Kim ganz schön oft Leute erlebt, die von Achtsamkeit reden und dann vor allem auf sich selbst achten. „Ich weiß nicht“, denkt Kim, „wenn jeder Mensch sich selbst der Nächste ist, dann haben Babys schlechte Karten.“ Egoismus ist auch keine Superkraft.

Die Tage vor Weihnachten sind wie immer gefüllt mit allerlei Besorgungen, Verabredungen und letzten Vorbereitungen. Und dem Versprechen, im nächsten Jahr auf jeden Fall früher anzufangen. Gerade als Kim sich fragt, ob Tante Irma einen batteriebetriebenen Taschenwärmer aus Ökofilz braucht, tritt der Engel ein drittes Mal auf den Plan. „Hast du vergessen, was du suchst? Hier ist ein Zeichen: du wirst finden ein Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und du kannst sicher sein: In diesem Kaufhaus ist es nicht.“ Kim sieht sich um, aber niemand anderes scheint die Stimme zu hören. Obwohl sie gar nicht lieblich sondern ziemlich durchdringend ist. „Also: Mach dich vom Acker und finde, wonach du suchst!“
Prokrastination ist erst recht keine Superkraft.

Auf dem Nachhauseweg schiebt sich Kim durch die Menschenmenge. In der Fußgängerzone ist Weihnachtsmarkt und Nikolaus hat sein Kommen für 17 Uhr 15 angekündigt. In den Nebenstraßen ist es dunkel. Die Weihnachtsbeleuchtung reicht in diesem Jahr nur für die Hauptroute. Kim kickt einen Stein vor sich her. Braucht man überhaupt eine Superkraft? Ist „super“ nicht eine Angeberin? Die sich über alle anderen stellt? Aber wer über allem steht, ist allein. Kim will nicht allein sein.
Vor einer Halle stehen Leute. Viele Leute. Beim Näherkommen hört Kim Satzfetzen in einer fremden Sprache. „Welcome“ steht auf einem selbstgemalten Schild und darunter: Helfer*innen gesucht. Ohne nachzudenken geht Kim durch die Tür und sagt: „Tag. Ich dachte, ich könnte helfen.“ Drinnen herrscht ein ziemliches Gewusel. Brötchen werden verteilt, Betten aufgebaut. Eine Frau hält in der rechten Hand ein Klemmbrett und im linken Arm ein Baby. Es ist winzig, so winzig klein, als sei es gerade erst ein paar Stunden alt. „Dich schickt der Himmel. Hier, halt mal.“ Die Frau drückt Kim das Baby in den Arm. Kim schreckt zurück. Der Engel sagt: „Fürchte dich nicht. Dir ist heute der Heiland geboren.“ Kim sieht das Baby an und hat fürchterliche Angst, es fallen zu lassen. „Du Winzling. Was willst du heil machen? Du kannst doch nichts.“ „Du musst es warmhalten“, sagt der Engel. „Du musst es wiegen und beschützen.“ Kim hält das Kind ganz vorsichtig, seine Haut ist weich und riecht nach Milchreis und Zimt und ein bisschen auch nach Rosenblättern. Kim atmet ein, atmet aus. Ganz einfach. „Sieh“, sagt der Engel. „Das hab zum Zeichen: Dieses Kind kann nichts, außer da sein. Zart sein. Verwundbar sein. Dieses Kind braucht euch. Und ihr braucht dieses Kind. Denn welcher Mensch könnte Krieg führen, könnte schießen, könnte hassen, der ein solches Kind im Arm hält?“ 

Liebe Oma, ich bin gerade nach Hause gekommen und habe eine Kerze angezündet. Draußen ist es dunkel. Mein Gesicht spiegelt sich im Fenster. Siehst du mich von der anderen Seite? Du hast gesagt, ich solle mir eine andere Superkraft suchen, eine, bei der es nicht darum geht, immer stark zu sein.
Ich habe keine gefunden. Und weißt du was? Ich will auch keine. „Geliebt wirst Du einzig, wo Du schwach Dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.“ Das hat Adorno gesagt, aber es könnte auch von dir sein.
Du hast mir gezeigt, wie das geht, und ich hatte es fast vergessen: zu vertrauen, dass man aufgefangen wird, wenn man springt. Etwas tun ohne vorher zu fragen, ob es gelingt. Einen Stift ansetzen, eine Blume, ein Haus, einen Löwen malen ohne zu denken: das kann ich nicht. Mich nicht zu schämen. Nicht mal dafür, mich manchmal falsch zu fühlen. Zum Beispiel, weil ich die Träume anderer Menschen nicht erfülle. Mich nicht zu schämen, eine Gänsehaut zu haben, weil mir so Vieles zu Herzen geht.
Von dir habe ich gelernt, dass Rücksicht die schönste aller Tugenden ist. Irgendwer muss anfangen. Irgendwer, hast du gesagt, ist unser zweiter Vorname. Flucht ist keine Schande. Man muss nicht alles aushalten. Du hast meine Tränen abgewischt und nie, kein einziges Mal gesagt: Reiß dich zusammen. Manche Sachen konntest du heil machen: Mit Geduld und Spucke. Scherben hast du nicht aufbewahrt – wozu auch? Wunder gibt es im Märchen, hast du gesagt und dann hast du ein Märchen erzählt, und ich habe mich an einem Strohhalm festgehalten. Zusammen haben wir einen Stern daraus gemacht.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Jan Simowitsch: Alle Jahre wieder.
  2. John Bayless: All you need is love (für Klavier), CD-Titel: Bach meets the Beatles - Improvisations on Beatle melodies in the style of J. S. Bach.
  3. Jan Simowitsch: Maria durch ein Dornwald ging.
  4. Reiner Regel, Jan Keßler: Wie soll ich dich empfangen (trad.), CD-Titel: SacreFleur blanc, Track Nr. 5.
  5. Reiner Regel, Jan Keßler: Hört der Engel helle Lieder (trad.), CD-Titel: SacreFleur blanc, Track Nr. 6.
  6. Christof Lauer, Norwegian Brass: Die Nacht ist vorgedrungen (trad.), CD-Titel: Heaven.
  7. Nils Landgren: Maybe this Christmas (Ronald Eldon Sexsmith), CD-Titel: Nils Landgren – Christmas with my friends.
01.08.2022
Susanne Niemeyer