White Christmas

Einsame Hütte in Schneelandschaft

Gemeinfrei via unsplash/ Todd Diemer

White Christmas
Hartmut Rosa und das Unverfügbare
13.12.2020 - 08:35
10.12.2020
Autor*in
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 "Am Sonntagmorgen" im Deutschlandfunk zum Nachhören und Nachlesen

 
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Weiße Weihnachten! Viele träumen davon. Eine dicke Decke aus Schnee stell ich mir dabei vor, so 30 Zentimeter stark. Sie legt sich auf alle Dächer und Friedhöfe, alle Fabriken und Straßen. Sie überdeckt Streit und Missgunst, Schmerz und Widerwärtigkeit. Und alles Hässliche. Die dicke weiße Decke legt sich über die Todesnacht und vor allem: … über alles Laute. Schnee dämpft den Krach, selbst in der Großstadt. Dann wären weiße Weihnachten vor allem eines: Stille. Und wir befänden uns ganz in der Nähe von „Stille Nacht“.

Der Traum von weißen Weihnachten besteht wohl zum Großteil aus Sehnsucht. Aus der Sehnsucht nach Behütetsein, wenigstens von einem Hut aus Schnee. So gesehen sind „weiße Weihnachten“ ein durchaus frommer Wunsch:

  • dass die Welt und ihre Menschen behütet sind,
  • dass Ruhe einkehrt auf den sonst lauten Straßen und in den unruhigen Herzen.
  • Und Waffenruhe!
  • Und auf Erden Friede.

„Weiße Weihnachten“ - vielleicht ist das in unsern Breiten, wo viele Menschen sich scheuen, überhaupt von Gott zu reden, nur scheinbar eine banale Umschreibung von: Friede auf Erden und den Menschen allen ein Wohlgefallen.

Schnee hat physikalische Eigenschaften mit symbolischer Bedeutung. Schnee ist etwas Scheues, etwas Seltenes, das „uns besuchen kommt, das sich herabsenkt und die Welt um uns herum verwandelt, ohne unser Zutun, als unerwartetes Geschenk." (1) Schnee, meint der deutsche Soziologe Hartmut Rosa, sei noch viel mehr: das Beispiel fürs Unverfügbare. Ja: Schnee sei die Reinform des Unverfügbaren. Mit dem Unverfügbaren meint der Soziologe nun nicht Gott, sondern das, was man nicht machen kann, „nicht herstellen, nicht erzwingen, nicht einmal sicher vorherplanen“. Denn den Schnee kann man sich nicht aneignen. Nimmt man ihn in die Hand, schmilzt er, nimmt man ihn gar ins Haus, fließt er weg, packt man ihn in die Tiefkühltruhe, ist er bald kein Schnee mehr. Dreaming Of A White Christmas - Kinder lauschen, Schlittenglocken im Schnee, das Fest ist verschneit … Erstaunlicherweise singt Frank Sinatra vom Gegenteil heutiger Lebensweise.

In unsrer Welt muss alles verfügbar sein. Erdbeeren zu Weihnachten! Und alles soll nach Plan laufen, nicht nur die Bundesbahn. Und beherrschbar und berechenbar sein. Alles unter Kontrolle! Alles verfügbar! Und Verfügbarmachen bedeutet, möglichst alles sichtbar zu machen, die Nacht, das Weltall oder das mikroskopisch Kleine. Und somit erreichbar und zugänglich, sei es der Mond, sei es die Tiefsee. Und alles muss beherrschbar sein. Nicht allein die Nacht wird durch Beleuchtung erobert und beherrscht, auch die Luft durch das Flugzeug, die Meere durch die Schiffe oder die Körper durch die Medizin. Und es geht nicht nur darum, die Welt unter Kontrolle zu bringen, vor allem soll sie nutzbar gemacht werden. Instrument für eigene Zwecke soll sie sein. Funktioniert dies und die ganze Welt wird zum Nutztier, beherrschbar und erreichbar, zeitigt dies allerdings einen paradoxen Effekt: „Die wissenschaftlich und technisch, ökonomisch und politisch verfügbar gemachte Welt scheint sich uns auf geheimnisvolle Weise zu entziehen und zu versperren, sie zieht sich zurück und wird unlesbar und stumm“ (2).

Sie verstummt, sie sagt mir nichts mehr, die Welt, sie spricht mich nicht an. Die einzelnen empfinden das so: „Das sagt mir alles nichts, es bedeutet mir nichts, ich werde dadurch nicht erreicht und erreiche auch die Welt da draußen nicht mehr: Diese Erfahrung kennzeichnet den Zustand der Depression, indem nichts mehr zu uns spricht.“ Erzählt Hartmut Rosa. Der Grundmodus lebendigen menschlichen Daseins sei etwas ganz Anderes als das aggressive Verfügenwollen. In Resonanz treten ist Hartmut Rosas Zauberwort. „Plötzlich ruft uns etwas an, bewegt uns von außen und gewinnt dabei Bedeutung für uns um seiner selbst willen.“ Und der stumpfe Blick eines Menschen wird plötzlich leuchtend.

Menschen werden von etwas berührt und haben Tränen in den Augen, ein Schauer läuft über den Rücken, Menschen tauen plötzlich aus ihrer Erstarrung auf und werden wieder lebendig. „Lebendigkeit, Berührung und wirkliche Erfahrung aber entstehen aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren. Eine Welt, die vollständig gewusst, geplant und beherrscht wäre, wäre eine tote Welt.“ (3.)

Diese Resonanz jedoch, die lebendige Schwingung zwischen innen und außen, der Welt und mir und sie lässt sich nicht machen, nicht herstellen, nicht kaufen. Rosas Beispiel für solch unverfügbare Resonanz-Erfahrung ist Weihnachten. „Wir machen diese Erfahrung etwa am Weihnachtsabend, wenn wir versuchen, punktgenau den Vorweihnachtsstress abzuschütteln, den Schalter umzulegen und ganz für unsere Lieben da zu sein, uns von der heiligen Geschichte, den weihevollen Liedern, der Stimmung berühren zu lassen; kurz: zu hören und zu antworten.“

Und da hat Rosa Recht. Dass Weihnachten wird, dass man Weihnachten ins Gefühl kriegt, dass womöglich sogar ein Zauber Menschen ergreift - das kann niemand erzwingen. Resonanz kann man nicht machen und Weihnachten auch nicht. Wie rasant jetzt im Advent der Anlauf und wie groß an Weihnachten selbst der Aufwand auch sein mögen, sie garantieren nichts.

Hinzu kommt: Weihnachten ist explosives Gelände. Höchst aufgeladen mit Gefühlen, mit Erinnerungen, mit Erwartungen! An Weihnachten, an der Geburt im Stall, am O-Tannenbaum kleben massive Gefühle. Und Enttäuschungen. Gefühle, die es mit Kindheit zu tun haben, mit Familie, Heimkommen und Heimat.    An „Weihnachten will immer eine Stimme von früher erzählen.“ (4) In explosivem Gelände knallt es gerne. Zur Sicherheit ein Eimer kaltes Wasser im Wohnzimmer - das ist gar nicht so schlecht, nicht allein für den Christbaum. Auch für die Hitzköpfe, wenn sie sich in den uralten Streit von Neuem hineinsteigern.

„Als die Menschenfreundlichkeit Gottes erschien, unseres Heilands, machte er uns selig durch Erneuerung im Heiligen Geist, den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesu Christus.“ (5) Als die Freundlichkeit Gottes erschien im Stall unter Tieren und Heu, „machte er uns selig“. Und mit der Seligkeit ist es wie mit dem Schnee. Sie kommt zu Besuch, senkt sich herab und verwandelt die Welt um uns herum - ganz ohne unser Zutun. Ein unerwartetes Geschenk. Ja natürlich, es gibt auch Dinge, die einen richtig glücklich machen: Seligkeitsdinge. Und manchmal gelingt es, zu Weihnachten Seligkeitsdinge zu schenken. Krippe und Stall erinnern daran, dass es in der Regel nicht die Dinge sind, die Menschen selig machen, nicht das, was man hat, nicht Größe, Macht oder Geld, sondern … tja, das, was man nicht machen kann, nicht herstellen, nicht erzwingen, nicht planen.

Meine Eltern und Großeltern haben erstaunlicherweise immer wieder von Weihnachten 1945 erzählt. Das ist jetzt 75 Jahre her. Obwohl es - wie sie betonten - wenig gab, vor allem kaum Geschenke, aber einen irgendwo ergatterten Baum und ein paar Kerzen, hatte dieses armselige Weihnachten für sie eine besondere Bedeutung. Der spätere Berliner Bürgermeister Heinrich Albertz war Weihnachten 1945 Pastor für tausende damals deutsche Flüchtlinge in Celle, lauter entwurzelte, heimatlos gewordene Menschen aus dem Osten.

Im Sommer und im Herbst 45 sei ihm klar geworden, sagt Heinrich Albertz, wie sehr das Fressen vor der Moral kommt. Besitz sei mit Händen und Klauen verteidigt worden und Wohnraum nur unter äußerstem Druck freigegeben (6). Es gab einen Kampf um die nackte Existenz, um Essen, Wohnung und Kleidung.

Und dann kam Heiligabend.

Ihre Heimat hatten diese Menschen verloren. Aber … so sah es der Kollege Albertz Jahrzehnte später in der Rückschau:

„Niemals in meinem Leben habe ich so deutlich erfahren, wie unabhängig von Besitz und Sicherheit, ja geradezu als eine Art Gegenwelt zu dem Rennen und Laufen um Essen und Schlafen, die Weihnachtsgeschichte unmittelbar und fast wörtlich verständlich wurde, und wie dieses Kind, dessen Geburt wir über Generationen hinweg in gesicherter Bürgerlichkeit gefeiert hatten, nun plötzlich das Gesicht der eigenen Kinder annahm.“ So viel die Menschen auch verloren hatten, „die Lieder waren geblieben. Alles hatte sich verändert, nur die alten Texte nicht. Ja, sie wurden zum ersten Mal wirklich gehört und neu verstanden. Man brauchte kaum etwas hinzuzufügen. Denn das ‚keinen-Raum-in-der-Herberge‘ hatten ja nun alle erlebt.“

Wer weiß, was wir in Jahren oder Jahrzehnten von Weihnachten 2020 erzählen! Dass Weihnachten Menschen berührt, dass die Menschenfreundlichkeit Gottes erscheint, hat nichts damit zu tun, dass Menschen über viel verfügen, über Geld und Platz. Wirkliche Erfahrung, die aufleben lässt, die berührt, entsteht aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren.

Was also tun? Nicht viel. Weihnachten kommen lassen. Selbstverständlich muss das Gästezimmer hergerichtet, der Baum geholt und geschmückt und irgendwann der Tisch festlich gedeckt werden. Natürlich bereite ich das Fest vor. Was denn sonst! Wer feiert denn in schlampiger oder bloß unaufgeräumter Umgebung! Schließlich kommen die erwachsenen Kinder nach Hause, wenn es denn geht, dieses Jahr.  Und doch: Nicht wir sind es, die dieses Fest machen. Weihnachten erscheint - von wo ganz anders her. Und wir brauchen uns bloß anstrahlen zu lassen vom weihnachtlichen Licht und können gelassen bleiben. Dafür, dass die Freundlichkeit Gottes erscheint und uns selig macht, kann ich wenig tun.

Das macht eine windige Größe, der Geist, den wir heilig nennen. Und der weht, wo er will. Von Unverfügbarkeit und Resonanz redet Hartmut Rosa ganz ähnlich wie die Theologie vom Heiligen Geist. Rosa meint: Das Kennzeichen von Resonanz sei es, dass sie sich weder erzwingen noch verhindern lässt. Grad so könnte eine Theologin vom Heiligen Geist reden.

„Als die Menschenfreundlichkeit Gottes erschien, unseres Heilands, machte er uns selig durch Erneuerung im Heiligen Geist, den er über uns reichlich ausgegossen hatte durch Jesu Christus.“

Dass die Freundlichkeit Gottes erscheint und mich selig macht - das muss ich der windigen Größe überlassen, dem Heiligen Geist. Tun kann ich wahrscheinlich nur ein paar vorbereitende Handreichungen - ohne jede Erfolgsgarantie.Ich kann die Türen aufmachen und die Tore weit, mich aufmachen und das ängstliche Herz, das Haus putzen und die alte Krippe aufstellen.

Und beten: „Komm, o mein Heiland Jesu Christ, meins Herzens Tür dir offen ist. Ach zieh mit deiner Gnade ein; dein Freundlichkeit auch uns erschein. Dein Heilger Geist uns führ und leit den Weg zur ewgen Seligkeit. Dem Namen dein, o Herr, sei ewig Preis und Ehr.“

Dass und wie Weihnachten wird, das macht in 11 Tagen jemand anderes.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

Musik dieser Sendung:

  1. Frank Sinatra, Bing Crosby, „White Christmas“, Album: White Christmas
  2. European Jazz Trio, „White Christmas“, Album: White Christmas
  3. European Jazz Trio, „White Christmas“, Album: White Christmas
     

Literaturangaben:
1. Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, Wien 2019, S.7.

2. Rosa, Unverfügbarkeit, S. 25.

3. Rosa, Unverfügbarkeit, S. 8.

4. Kristian Fechtner, Was tun die Engel am Weihnachtsmorgen?, Freiburg i.Br. 2013.

5. Titus 3,4-5

6. Weihnachten 1945, Ein Buch der Erinnerungen, hg. von Claus Hinrich Casdorff, München 1995.

10.12.2020
Autor*in