Zwischen Heute und Morgen

Zwischen Heute und Morgen

Gemeindefest in der Sternkirche. Foto: D.H. Gürtler

Zwischen Heute und Morgen
Die Sternkirche in Potsdam
03.05.2020 - 08:35
30.01.2020
Hans-Dieter Rutsch
Über die Sendung:

Wer im Hochhaus gegenüber wohnt, kann von oben herab auf den Altar sehen. Die Sternkirche in Potsdam will als Gemeindezentrum Lebensort für den ganzen Stadtteil sein. Die Erfahrung der Gemeinde ist: Ob jemand bleibt und wiederkommt, diese Entscheidung beginnt bereits beim Betreten der Kirche...

 
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Eine belebte Kreuzung am Rand Potsdams - kurz vor dem kleinen Jagdschloss Stern. Die Hohenzollern ritten hier einst auf sandigen Wegen zur Jagd. Seitdem nennen die Potsdamer diese Landschaft DEN STERN. Kurz dahinter beginnt Berlin.

 

In den 1970er Jahren planierten auf Beschluss der DDR-Regierung Raupenfahrzeuge AM STERN Wälder und Äcker. Kräne schoben sich in die Höhe. Neben ihnen begann die Montage von Häusern aus Stahl und Beton. Ein Lebensort für fast zwanzigtausend Menschen entstand. Ich wurde einer von ihnen.

 

Die Berlin-Brandenburgische-Landeskirche entschloss sich AM STERN zu einem Wagnis: Sie beauftragte einen Pfarrer und eine Mitarbeiterin, mitten in diesem sozialistischen Neubaugebiet eine evangelische Gemeinde aufzubauen. Ein Kirchengebäude konnte sie nicht bieten. Das Gemeindeleben sollte in Hauskreisen beginnen. Mit diesem spartanischen Angebot zog der Pfarrer Joachim Jeutner treppauf und treppab und erlebte Dankbarkeit, dass die Kirche sich bei den Bewohnern Am Stern persönlich meldete.

 

Joachim Jeutner:

Das andere war, dass Leute, die eben nicht kirchlich gebunden waren, sagten, naja, guck mal an. Und dann ließen wir meist irgendetwas da zum Weiterlesen. Andere sagten, nee, schönen Dank. Ich habe es nicht einmal erlebt, dass ich abgewiesen wurde oder unfreundlich behandelt worden wäre.

 

Eines Tages las ich in der Zeitung, die Sterngemeinde würde eine eigene Kirche erhalten. Die Regierung der DDR habe nach langem Zögern zugestimmt, denn das Geld kam zu einem beträchtlichen Teil aus der Bundesrepublik. In dieser Zeit zog ich vom STERN weg - die Wohnung war zu klein geworden für meine gewachsene Familie.

 

Später nahm ich erst aus der Straßenbahn das bescheidene Gebäude wahr. Kleiner als die Wohnhäuser aus Stahl und Beton ringsherum. Kein Turm, kein Glockenklang markiert den Ort.

 

Die ungewöhnliche Gestalt der Sternkirche zog mich an. Teile des sternförmigen Daches - angehoben und mit Glas ausgefüllt. Wer im Hochhaus gegenüber wohnt, kann von oben herab auf den Altar sehen. Was für eine Idee von offener Kirche. Die Sterngemeinde hat sie sich erstritten, mit geformt und gestaltet. Sie will als Gemeindezentrum Lebensort für den gesamten Stadtteil sein. In der Grundstein-Urkunde ist dieser Vorsatz biblisch dokumentiert: „Da sie den Stern sahen, waren sie hocherfreut und gingen in das Haus.“

 

An ganz normalen Sonntagen kann es geschehen, dass auch der letzte freie Stuhl besetzt ist. Kein Mitgliederschwund ist zu beklagen. Immer wieder finden sich Neue ein und bleiben. Ist dieser bescheidene Ort eine Perspektive, ein STERN, eine Option für die Kirche überhaupt?

 

Seit zwei Jahren rollt eine junge Frau auf dem täglichen Weg zur Arbeit an der Sternkirche vorbei. Sie lebt noch nicht lange in der Hauptstadt Brandenburgs. Sie kam aus den Niederlanden.

 

Und auf dem Weg von zuhause nach Arbeit bin ich immer an der Sternkirche vorbeigefahren. Und ich dachte so in der ersten Arbeitswoche, da musste auch mal rein, wenn ich da schon jeden Tag daran vorbeifahre. Und ja, da bin ich an einem Sonntagmorgen da reingekommen. Ich wurde sofort begrüßt, willkommen geheißen. Und ich habe mich einfach sofort willkommen gefühlt, weil eine Frau (an der Kirchentür) meinte: hey, ich kenne dich noch nicht. Wo kommst du denn her? Ja, das war so schön, so echt, so direkt: willkommen in der Familie.

 

Die neu zur Gemeinde kommen, bleiben aus den verschiedensten Gründen. Gegen den Trend. Denn nicht nur aus weltanschaulicher Skepsis verlassen Christen ihre Kirchen. Mitunter sind es die Entscheidungen der Kirchenleitungen, die zu Unmut führen. Wo sich der religiöse Alltag finanziell nicht mehr „trägt“, verschwinden Pfarrstellen und Gemeinden fühlen sich allein gelassen. Manch einer muss nach einer Alternative suchen zur bisherigen Gemeinde. Jaromir erinnert sich, wie seine Familie davon betroffen war.

 

Jaromir:

Dann haben uns Bekannte hier in die Sternkirche eingeladen. Dann sind wir einmal hingefahren und fanden sie gleich so einladend und familiär, dass wir dann mehr oder weniger beschlossen haben wieder zu kommen und hierher zu wechseln. Seitdem kommen wir fast jeden Sonntag hier in die Kirche.

 

Pfarrer und Gemeindekirchenrat haben eine Erfahrung gemacht: ob jemand bleibt und wiederkommt, diese Entscheidung beginnt bereits beim Betreten der Kirche. Das führte zu einer prinzipiellen Entscheidung: bei jedem Gottesdienst heißen Ehrenamtliche die Gemeindeglieder und Gäste willkommen. So wird deutlich: Es ist die Kirche der Gemeinde. Gisela Kahle gehört zu jenen, die an der Kirchpforte begrüßen.

 

Gisela Kahle:

Mir hat vor einer Woche erst eine Frau erzählt, sie ist in diese Kirche gekommen und hat gleich gespürt, dass die Menschen einander zugewandt sind, sich anlächeln und dass man auch angesprochen wird. Ja, sagt sie, das hat sie in den anderen Kirchen, die sie besucht hat, nicht erlebt und war ganz glücklich.

 

 

Das Wort „glücklich“ fällt oft, wenn Gemeindeglieder erzählen. Sie fühlen sich wohl in ihrer Kirche und spiegeln das jenen, die neu kommen. Pfarrer Andreas Markert ermutigt, sich in diese Gemeinschaft einzubringen.

 

Andreas Markert:

Ich denke, dass wir das probieren als Gemeinde, als Gemeindekirchenrat, dass wir da dran sind: Du bist willkommen wir sehen Dich, wir nehmen Dich wahr, Du kannst jetzt schauen, wie Du dich einbringst, wir freuen uns auf dich. Das ist ein Motto.

 

Ungewöhnlich ist die Atmosphäre in der Sternkirche. Im Sommer durch Jalousien vor der Sonne geschützt, im Winter beheizt. An den Wänden - wechselnde Kunstausstellungen. Ein Lebensort mit Garderobe - er lädt ein zum Verweilen. Horst Gürtler erlebt die Skepsis der „Neuen“ gegenüber solcher Art Kirchenleben.

 

Horst Gürtler:

Leute, die zum ersten Mal kommen, denen kann man zwei Mal sagen, eine Garderobe gibt es da im Flur: „Nee, nee, wir behalten unseren Mantel an. So ein Stück weit: wir müssen erst mal sehen, was uns hier erwartet. und wir müssen - hat mir mal einer gesagt - er muss gleich auf dem Sprung sein nach Hause, falls es ihm nicht gefällt. Und da hat er mir hinterher gesagt: das war so schön - nächstes Mal zieht er seinen Mantel aus.

 

Der Gottesdienstraum ist die architektonisch gestaltete Mitte des Gemeindezentrums. Vom Dach fällt Licht auf den schlichten, aus Ziegeln gestalteten Altar. Ein Kaminzimmer steht für Familien zur Verfügung. Die Bestuhlung und auch die Wände sind variabel. Die Kirche ist ein Sehnsuchtsort für viel Leben.

 

Im Chor singt Joachim Jeutner. Er gehört als Pfarrer im Ruhestand noch heute zur Gemeinde, inspirierte einst den Kirchbau und war dem Architekten lange streitbarer Partner.

 

Joachim Jeutner:

Wir haben jeden Kubikmeter miteinander durchdiskutiert, auch am Zeichenbrett hin und her geschoben, denn: wir haben einen Grundsatz verwirklicht und manchmal auch im Streit durchgehalten: Funktion geht vor Ästhetik. Das hört ein Architekt natürlich nicht so sehr gerne. Und der andere Grundsatz war: in diesem Objekt geht es um Integration der Räume und nicht um Addition.

 

Jedem Gottesdienst am Sonntag gehen in der Woche Treffen der Jungen Gemeinde voraus, Eltern singen in der Woche gemeinsam mit ihren Kindern, der Gospelchor probt, die anonymen Alkoholiker treffen sich, ein Frauenkreis debattiert, Gebetskreise kommen zusammen, der Kontakt zu Partnergemeinden in Russland und den Niederlanden wird gestaltet, der Adventsmarkt für den Stadtteil organisiert. Bis zu den Kontaktbeschränkungen durch die Corona-Pandemie stand an keinem Tag in der Woche die Kirche leer. Pfarrer Andreas Markert ist dieser Alltag der Gemeinde wichtig:

 

Andreas Markert:

Kirche als Versammlungsort von Gemeinde ist mehr als Gottesdienst. Ist ein Austausch, ein Wahrnehmen des anderen, eine Möglichkeit zu sagen, wie es mir geht, ein Hören auf den Anderen, ein Begegnen auf Augenhöhe, ein Gespür dafür, wir sind miteinander unterwegs auf einem Weg. Auf diesem Weg ist dieser Sonntagvormittag Treffpunkt der Vergewisserung auf dem Weg. Wir sind miteinander auf dem Weg. Ich bin nicht allein. Ich kann hier Menschen sehen, sprechen, hören, die mit mir auf dem Weg sind.

 

Wie auch jene, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen. In der Sternkirche sind sie nicht die Fremden, sondern Gleiche unter Gleichen. Sie gehören zur Gemeinde - so wie sie sind. Am Eingang der Sternkirche steht ein Regal mit Bibeln in mehr als zehn verschiedenen Sprachen. Damit man im Herzen und im Glauben zueinander findet. Wer bleibt, lässt seine Kinder taufen.

 

Sieben tolle Menschen sagen heute JA zu Jesus. Wir wollen jetzt im Gottesdienst taufen.

 

Eines der Kinder ist das kleine Mädchen Melina. Geboren in Deutschland. Seine Eltern Maryam und Mehdi kamen aus dem Iran. Dort schrieb Mehdi als Christ für eine große Tageszeitung über Außenpolitik und Atomkraft. Bis zu jenem Tag, als der Geheimdienst ihm signalisierte: Verschwinde, oder wir tun es. So kam Mehdi nach einer langen Reise in Deutschland an. Seine Sprachkenntnisse ermöglichen ihm inzwischen, über seine Gefühle zu sprechen.

 

Mehdi:

Wenn ich hier mit anderen Leuten bin, zum Beispiel mit Detlev oder anderen Leuten, ich fühle mich gar nicht fremd. Diese Religiosität macht uns eng zusammen. Wir haben gemeinsame Gefühle. Wir haben gemeinsame Gedanken.

 

Detlev Hille übernahm die Patenschaft für Mehdis Tochter Melina. Aus dem Begegnen auf Augenhöhe ist nach und nach ein Miteinander gewachsen - typisch für die Gemeinde am Stern.

 

Detlev Hille:

Es ist, wenn neue Leute kommen, ja genauso spannend für die, die zu uns kommen wie auch für uns. Man kennt sich ja nicht, aber man entdeckt sich. Und das ist ja eine ganz spannende Sache. Es ist immer die Frage, wie offen man miteinander umgeht. Ich denke, das ist für beide Seiten bereichernd. Und es gibt viele, die erst später in die Gemeinde gestoßen sind, die jetzt so integriert sind, und so viel machen - das ist schon phantastisch.

 

 

Janine lebt mit Behinderungen und hat es schwerer als andere, ihren Platz im Alltag zu behaupten. Ein Leben ohne Sternkirche kann sie sich nicht vorstellen.

 

Janine:

Dieses besondere Gefühl, dass Du einfach weißt, hier ist jemand, hier bin ich mit Gott verbunden, hier passt halt alles. Und da ist es auch gerade heute für die Menschen wichtig, dass sie sich auf etwas verlassen können, und dass sie halt wissen, da ist jemand - die Gemeinde ist für mich wie ein zweites Zuhause.

 

Die Corona-Pandemie setzt der offenen Sternkirche enge Grenzen.

Die Kirche ist nur für Einzelne betretbar.

Die Gemeinde darf in größeren Gruppen nur noch virtuell zusammenkommen.

Soziale Distanz, Abstand zueinander soll sie leben – das ist ein Problem.

Doch mit ihrem Motto ist die Gemeinde voller Hoffnung.

Da sie den Stern sahen, wurden sie hoch erfreut und gingen in das Haus.“

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:
(1) MOSAIC, Patrick Hawes, MOSAIC

(2) LOOK INWARD, Patrick Hawes, CINEMATIC INDIE Vol. 1

30.01.2020
Hans-Dieter Rutsch