"Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"

Chorus Vicanorum / Bela Wiesenberg

"Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"
Gottesdienst-Live-Übertragung aus der Dorfkirche Wildenbruch
20.11.2022 - 10:05
01.08.2022
Pfarrer Michael Dürschlag
Über die Sendung:

Evangelischer Rundfunkgottesdienst am Ewigkeitssonntag, 20. November 2022 aus der Dorfkirche in Wildenbruch live im Deutschlandfunk ab 10.05 Uhr. 

Am 18. November 1922 starb der französische Schriftsteller Marcel Proust. In seinem siebenbändigen Roman À la recherche du temps perdu macht er sich auf die Suche nach vergangener Lebenszeit und stellt dabei fest: „Sehr oft … haben wir im richtigen Augenblick nicht die nötige Aufmerksamkeit auf Dinge verwendet, die uns damals schon wichtig hätten erscheinen können, wir haben einen Satz nicht ganz richtig gehört, eine Bewegung nicht festgehalten oder alles beides vergessen.“  
Wie verändert die Erfahrung von Vergänglichkeit den Blick auf das Leben? Inwieweit prägen Verlusterfahrungen das Zeitempfinden? Wie erinnern Angehörige und Freunde ihre Verstorbenen? Diesen existentiellen Fragen geht der Gottesdienst nach. Anlässlich des 100. Todestages des Schriftstellers verbindet er Prousts Texte mit der biblischen Hoffnung auf erfülltes Leben in Gottes Ewigkeit. Es erklingen dabei Lieder von Zeit und Ewigkeit.
Der Gottesdienst wird musikalisch gestaltet vom Chorus Vicanorum unter der Ltg. von Kantorin Elke Wiesenberg (Orgel) sowie Instrumentalsolisten, die Predigt hält Pfarrer Michael Dürschlag. 

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Predigt zum Nachlesen
 

I

Alles ist in der guten Macht Gottes - aufgehoben - geborgen -
in der Gegenwart ist die Vergangenheit zwar nicht mehr unmittelbar zugänglich,
sie hat sozusagen aufgehört zu sein
und doch ist sie bei Gott aufgehoben
vorsichtig bewahrt in seiner guten Macht
an einem besonderen Ort  - wie Jesus es im Johannesevangelium sagt.
Luther übersetzt das griechische Wort mit Wohnung. Ein ganz sinnliches Bild: eine Wohnung im Haus Gottes – ein Bild für die Ewigkeit. Jesus sagt seinen Freunden:

Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich! In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen, viele Orte. Wenn’s nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten? Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, auf dass auch ihr seid, wo ich bin.

 Im Haus Gottes sind viele Wohnungen - nichts und niemand geht verloren. Alles ist bei Gott aufgehoben. Hat seinen Ort – seine Wohnung gefunden. Ist angekommen. Ist zuhause.

In der Erinnerung betreten wir für vielleicht nur wenige Momente diesen Ort, von dem Jesus im Johannesevangelium spricht: In der Erinnerung öffnen wir die Tür für einen Spalt, sehen hinein, spüren die Atmosphäre, die Wärme und das Licht wie in einem Raum, den wir betreten: Die Wohnungen Gottes - in denen alles, was war, aufgehoben ist. Auch die Menschen, die wir lieben.

Lebendige Erinnerung verbindet uns mit dem, was war. Sie lässt Zeiten, Orte und Menschen wieder erstehen, die längst schon bei Gott geborgen sind. Für einen Moment sind sie tröstend lebendig.

Lebendige Erinnerung ist ein unendliches Geschenk,
die alte Sprache des Glaubens nennt dieses Geschenk GNADE -
die wir empfangend zulassen –
Wenn sich diese lebendige Erinnerung
Einstellt, ereignet sich wunderbares – tröstliches! Bonhoeffer hat genau das erlebt und beschrieben:

Doch willst du uns noch einmal Freunde schenken - so woll‘n wir des Vergangenen gedenken, dann gehört dir unser Leben ganz

II

Liebe Gemeinde, heute ist Ewigkeitssonntag. Wir denken an unsere Verstorbenen. Machen uns auf die Suche nach ihnen – in der Erinnerung.
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – so beschreibt Marcel Proust diesen Prozess. Vor 100 Jahren starb er – noch vor Vollendung seines Romans, aus dem wir Texte in diesem Gottesdienst hören. 
Diese Suche – das Erinnern geht nicht so einfach. Es ist kein willentlicher Prozess. Erinnerung kommt unverhofft, ist ein Geschenk

Die Gnade des Erinnerns lässt sich nicht erzwingen.
Und doch, das können wir von Proust lernen, können und wollen wir uns auf den Weg der Erinnerung begeben
- langsam und aufmerksam,
- geduldig wie in seinen großen Roman in mehreren Bänden versunken,
– durchlässig, transparent werden für die Erinnerungen, die kommen wollen!
Dazu lädt der Ewigkeitssonntag ein.

Marcel Proust ließ die Erinnerung in sich zu, als er ein , sein Madeleine zum Tee aß – ein Geschmack aus der eigenen Kindheit. Ein Auslöser für die Erinnerung. Wir suchen Orte auf, an denen wir gemeinsam waren. Hören ein Lied, das uns verband. Stöbern in Briefen und Fotos. Streichen über ein Kleidungsstück, das der Partner getragen hat. Schießen die Augen.
Es hilft, aufmerksam zu sein für die Auslöser der eigenen Erinnerung zu sein. Es können sich jederzeit Erinnerungsfenster öffnen – und Einblick geben in die Wohnungen Gottes. Ein flüchtiges Schauen in himmlische Räume. Eine zarte Spur der Ewigkeit.

III

Wir sind auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Heute am Ewigkeitssonntag. Immer dann, wenn sie so schnell vergeht und wir sie halten möchten. Immer dann, wenn wir an unsere Vergänglichkeit denken. Immer dann, wenn das Leben so kostbar und so schön ist.
Können wir die verlorene Zeit heraufbeschwören? Was können wir tun, um sie wiederzufinden? Wie kann das gehen – dieser Proustsche Moment?

Es geht. Manchmal passiert es. Nichts Großes. Eher etwas Alltägliches. Und plötzlich betreten wir himmlische Räume – Räume der Erinnerung, die sich auftun und uns einlassen. Nur kurz. Von einem eigenen Erinnern kann ich Ihnen erzählen.

Seit einigen Jahren esse ich mein Frühstücksei mit Maggi. Ich hatte das mal gesehen und seither mache ich es so. Es schmeckt mir und macht mich zufrieden, oft sogar glücklich. Aber warum eigentlich?

Ich hatte noch diesen Satz von Marcel Proust im Ohr: „N`allez pas trope vite"
Geh langsam, dachte ich, nicht so schnell:
Ich ging also langsam -
tatsächlich aß ich mein Frühstücksei nun
ganz bedächtig und langsam -
erstmal passierte nichts,
was nicht auch schon immer geschehen war,
aber dann ganz zufällig –
plötzlich - stieg mir der Geruch der Würzsauce in die Nase -
und ich spürte: Da ist was -
und indem ich bei diesem Gefühl Da ist was dran blieb
war sie auf einmal da –
die Erinnerung
die Würzpaste roch wie die Immortellen  -
die unsterblichen Blumen - auf einer Düne am Atlantik –
Duftendes
Maggi oder Currykraut,
wie oft hatte ich es gerochen
und auf einmal war sie da die Erinnerung,
mit Händen zu greifen
Es war heiß, es war Sommer -
so oft bin ich über diese Düne gegangen - das Meer war da
und ich hörte die Brandung -
das Salz der Luft hatte ich auf der Zunge –
und es war plötzlich da:
das Glück eines Sommers - morgens auf dem Weg zum Meer -
und in einer tieferen Schicht das Meer,
das mir meine Eltern als sechsjährigem zeigten –
das unendliche Glück etwas so phantastisches sehen und erleben zu können
und mit diesem Glück stellte sich eine tiefe Dankbarkeit
in mir ein - der Dank diese Zeiten mit meinen Eltern erlebt zu haben.
ihre Liebe und Fürsorge
die tiefe Dankbarkeit sie gehabt zu haben.

Lebendige Erinnerung an verloren geglaubte Zeit. Seit fünfzig Jahren in der Ewigkeit versunken und aufgehoben.
Erinnern in die Zukunft.

Heute sind meine Eltern tot –
kühler Novemberwind weht über ihrem Grab -
In der tiefen Dankbarkeit und Freude
bleibt die Traurigkeit des Verlusts
doch ich habe in diesem Moment gespürt:  alles ist bei Gott an einem guten Ort aufgehoben:
meine Eltern, unsere Liebe zueinander, unsere gemeinsame Zeit
nicht verloren – aufgehoben.
Aus der Erinnerung ist zugleich auch eine Erinnerung
nach vorn in die Zukunft geworden
Sie trägt mich. Sie stärkt mich. Sie bewegt mich.

Lebendige Erinnerung ist eine Erinnerung in die Zukunft –
Wir werden uns wiedersehen!

Bei Marcel Proust klingt das so :

Eine aus der Ordnung der Zeit herausgehobene Minute hat in uns, damit er sie erlebe, den neu von der Ordnung der Zeit freigewordenen Menschen wieder neu geschaffen, der Vertrauen zu seiner Freude fasst, Vertrauen zur freudigen Erinnerung, für den das Wort Tod keinen Sinn mehr hat, was könnte der erinnernde Mensch, der Zeit enthoben, für die Zukunft fürchten!

Was war, ist nicht verloren, sondern bei Gott aufgehoben.
Das Erinnern in die Zukunft schenkt Hoffnung.
Sie hebt uns aus der Traurigkeit und schenkt die Freude, die hilft weiter zu gehen –

Und sie ahnen es schon – sie können Ihr Frühstücksei weiterhin essen wie sie wollen, sie müssen keine Madeleines kaufen, nicht mal Proust lesen, was sie vielleicht doch tun sollten
Aber: Gehen sie nicht zu schnell - „N`allez pas trope vite"
Scheuen Sie nicht die Erinnerung – nicht den Tag der heute ist – Ewigkeitssonntag. Tag der Erinnerung an die, die mit uns waren und die nicht mehr bei uns sind. Nehmen Sie sich Zeit für die Berührung mit ihnen.

Gehen sie langsam –
denn, was und wer zu ihnen kommen will
ist schon längst da
gut aufgehoben
bei ihm.

Amen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

01.08.2022
Pfarrer Michael Dürschlag