Aus der Sicherheit in die Weite

Innenansicht Sankt Lukaskirche Oldentrup

Bild: Andreas Darkow

Aus der Sicherheit in die Weite
Gottesdienst aus der St. Lukaskirche in Bielefeld-Oldentrup
03.03.2019 - 10:05
03.01.2019
Benjamin von Legat
Über die Sendung

Ein Sonntagsfrühstück, Brötchen und Frühstückseier, eine Kerze dazu und ein paar Blumen. Sicher wohnen. Sicher zur Arbeit und zur Schule kommen. Sicher reisen. In Frieden leben ohne Krieg. Sicherheit ist wichtig. Schon in der Bibel steht ein Gebet: „Gott, sei mir ein starker Fels!“ Doch zu viel Sicherheit schränkt ein. Ich muss auch etwas wagen, die Komfortzone verlassen, mich selbst neu erfinden, neue Verhaltensweisen ausprobieren. Damit ich weiten Raum unter die Füße bekomme. Die Frage ist: Wieviel Sicherheit brauche ich und wann hindert sie mich an der Freiheit? Wann schneide ich mich selbst von Weite und Vielfalt ab? In diesem Gottesdienst geht es um Gott, wie er beschützt und um die Weite, in die er mich stellt.

 

Es predigt Pfarrer Benjamin von Legat von der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Bielefeld-Heepen. Musikalisch gestalten den Gottesdienst der evangelische Posaunenchor Heepen unter der Leitung von Sonja Ramsbrock sowie Ulrich Maßner am Klavier und an der Orgel. Zu hören sind Werke der zeitgenössischen Komponisten Stefan Mey, Traugott Fünfgeld und Martin Westphal. Solist ist Bodo Kerker.

 

Die Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Heepen liegt im Osten von Bielefeld in Nordrhein-Westfalen. Die St. Lukaskirche in Oldentrup stammt aus dem Jahr 1972 und ist im Innern schlicht mit hellem Klinker und farbigen Fenstern ausgestattet.

 

Informationen:

Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Heepen:

https://www.kirche-bielefeld.de/.cms/62

Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Oldentrup:

https://www.kirche-bielefeld.de/.cms/64

 

 

 

Gottesdienst nachhören

 

Den Gottesdienstmitschnitt finden Sie auch direkt unter http://www.deutschlandradio.de/audio-archiv.260.de.html?drau:broadcast_id=122

Predigt zum Nachlesen
 

Sie blickt ihrem Gegenüber tief in die Augen, blinzelt nicht. „Kinderspielchen“, hatte sie anfangs gedacht. Aber es war nötig! Es ist nötig, dass ihr Gegenüber die Augen zuerst niederschlägt und, wenn er wieder aufblickt, immer noch ihren durchdringenden Blick spürt.

 

Lange hat sie gekämpft, kämpfen müssen, dass die Menschen „Marta“ zu ihr sagen. „Herrin“. Noch mehr Härte war nötig, dass sie sie auch als „Marta“ anerkannten. Marta, das ist eigentlich ein Titel. Aber für sie ist es zu ihrem Namen geworden. Sie ist Herrin.

 

Dafür muss sie streng sein: Zuallererst gegen sich selbst; aber auch gegen ihren Diener und die Geschäftspartner. Eine Frau gilt sowieso schnell als leichte Beute: „Lasch in Verhandlungen.“, heißt es dann. „Nicht hart genug.“ Alles Unsinn. Aber eine Frau muss das beweisen. Es reicht einfach nicht, als Herrin geboren zu werden. „Marta“, „Herrin“ muss eine Frau auch werden.

 

„Marta, Marta“. Der Ruf des Dieners, wenn er etwas Wichtiges zu sagen hat, die Anrede der Nachbarn und ihrer Geschäftspartner – all das zeigt ihr, dass sie angekommen ist. Dass niemand mehr das Mädchen in ihr sieht, das noch vor ein paar Jahren zu Füßen des Vaters gesessen hat, um seine Befehle entgegenzunehmen.

 

Heute gibt sie die Anweisungen. Nur streng zu sein, reicht allerdings nicht. Harte Arbeit gehört auch dazu. Denn ohne Erfolg ist das Ansehen rasch dahin. Das hat sie oft genug gesehen bei ehemals einflussreichen Männern im Dorf. Kein Mensch sagt noch „Herr“ zu jemandem, der gerade so über die Runden kommt.

 

Manchmal ist sie natürlich müde. Es kostet Kraft, Herrin zu sein. Es kostet Kraft, sein Leben im Griff zu haben. Aber so ist das Leben: Lass los – und du fällst. Das hat sie gelernt.

 

„Marta, Marta!“ Sogar Maria, ihre Schwester spricht sie so an. Manchmal. Ein Zeichen dafür, dass alle sie so nennen, auch wenn sie selbst nicht dabei ist. Keine Frage, sie ist „Marta“ geworden.

 

Manchmal ertappt sie sich, wie sie Maria beneidet. Ihre Schwester schaut zwar ihr herauf – aber sie lebt leichter. Ihre Schwester trägt nicht die Last der Verantwortung, sondern Maria ist einfach eine Frau im Haus.

 

Für Martas Geschmack hat ihre Schwester Flausen im Kopf. Trotzdem hat ihre verträumte Art, ihr Leben im Hier und Jetzt etwas Ansteckendes. Wenn Maria vom Leben spricht, seiner Schönheit und Tiefe, dann würde Marta ihr gern glauben – weil es einfach schön klingt. Marta hätte Maria gern geglaubt, gerade weil ihrem Leben diese Leichtigkeit abgeht und die Sorgen sie manchmal um den Schlaf bringen.

 

 

Maria dagegen würde – wenn sie könnte – Haus und Hof verschenken. Festhalten am Besitz – nicht nötig. „Bittet, so wird euch gegeben“, hat sie gehört (bei einem Prediger). „Suchet, so werdet ihr finden!“ Schön hört sich das an, das findet auch Marta. Schön wäre eine solche Welt. Natürlich ist es Maria, die solche Sprüche und Lehren von draußen mitbringt. Und sie hat Marta damit erreicht, hat etwas in ihr angesprochen. Vor allem dieser eine Satz: „Suchet, so werdet ihr finden!“ Und Marta sucht.

 

 

Sie schaut dem Fremden an ihrer Tür in die Augen. Er hält ihrem Blick stand. Mehr noch, er schaut Marta an. Bei ihm ist es kein Kräftemessen. Er schaut ihr freundlich in die Augen. Nicht anzüglich, trotzdem hat sie ein Gefühl, als stehe sie ihm ungeschützt gegenüber. Geradezu nackt. Wie gesagt, kein Kräftemessen, kein böser Wille liegt in seinem Blick. Und so tut Marta etwas, das sie sich lange abgewöhnt hat. Sie schlägt (für einen kurzen Moment) die Augen nieder.

 

„Marta, wir kommen zu dir und zu deiner Schwester Maria!“ …. Und so lässt Marta Jesus und seine Schar ein. Ein bisschen ist es Maria zuliebe. Wenn sie ganz ehrlich ist: auch ein bisschen, weil sie Marias Flausen schön findet. „Suchet, so werdet ihr finden! Klopfet …“ Dieser Mann hat geklopft – und sie hat aufgetan.

 

Irgendetwas ist in Marta ins Rutschen gekommen. Sie weiß nicht, ob das ein gutes Zeichen ist, aber es verunsichert sie. Darum ist sie ganz froh, dass es feste Regeln gibt, wenn Gäste ins Haus kommen. Marta weist den Diener an, Schüsseln zum Händewaschen hereinzubringen und Kissen zu holen. Auch sie selbst wird umtriebig. Sie legt die Kissen aus, holt Brot und Käse aus der Küche. Sie legt Oliven in eine Schale und gießt Öl in eine Schüssel. Dann holt sie Krüge und Wein, sogar den guten für besondere Gelegenheiten.

 

Ganz schön groß ist die Schar, die dieser Jesus da mitbringt. Marta hat einiges zu tun. Und sie ist ganz dankbar dafür. Denn noch immer weiß sie nicht, woran sie mit dem Fremden ist. Genau genommen weiß sie nicht, woran sie mit sich selbst ist – ganz anders als ihre Schwester Maria.

 

Das ist ja fast schon peinlich, wie sie Jesus, einem fremden Mann!, an den Lippen hängt. Sie sitzt zu seinen Füßen und hört ihm zu. Ärger steigt in Marta auf. Oder ist es, weil sie Maria versteht, sich selbst aber nicht dazu durchringen kann, sich diesem Moment hinzugeben. Auch Marta hätte gern die schönen Worte gehört, die man sich von ihm erzählt. Wenn sie an den Blick denkt, mit dem er sie angeschaut hat, dann weiß sie: Sie würde ihm glauben, wenn er zu ihr sagen würde: „Suchet, so werdet ihr finden!“

 

Gerade diese Worte kommen nicht über seine Lippen. Ein Hauch Enttäuschung macht sich in Marta breit – obwohl sie gar nicht weiß, was sie sucht. Ihr Ärger wandelt sich in Zorn: Über Maria, die da so ungehemmt sitzt und einfach zuhört, es genießt, dass der Meister hier sitzt und schöne Worte spricht. Einen feuchten Dreck kehrt sich Maria darum, dass Marta hier die ganzen Hausarbeiten macht.

 

Wer ist denn hier „Marta“? Wer ist hier die Herrin?

Marta weiß selbst, dass ihr Ärger nicht souverän ist und ungerecht, weil er ihrer Unsicherheit entspringt. Trotzdem ist ihr Zorn echt. Und weil Maria keinerlei Anstalten macht, selbst Essen aufzutragen, die Gäste zu bedienen, einfach ihre Rolle im Haus einzunehmen, wie es sich gehört, wendet Marta sich direkt an den Gast: „Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen?“

Noch beim Aussprechen merkt sie, dass sie in ihrer Unsicherheit schärfer geworden ist, als sie eigentlich wollte. Eine Entgleisung, die ihr sonst nicht passiert. Trotzdem tut es gut, den Ärger nicht länger aufzustauen, sondern frei herauszusprechen.

 

 

Der Fremde guckt sie an. Und obwohl sie noch aufgebracht ist, verwirrt, dass sie so aus der Rolle gefallen ist, schaut sie ihm in die Augen. „Du hast viel Sorge und Mühe.“, fährt der Fremde fort und ist ihr im selben Moment nicht mehr fremd. Er hat das ohne Wertung gesagt. In knappen Worten fasst er ihre Unruhe zusammen. Vielleicht liegt darin sogar Anerkennung? Für das, was sie schafft, was sie ist. Sie weiß es nicht. Es verblüfft sie, dass sie das nicht verunsichert. Aber in seinem Blick liegt so viel Nähe, dass es sie nicht stört. Im Gegenteil, in diesem Moment ist es unwichtig. Wichtig ist, dass dieser Mann sie erkannt hat. Marta kommen Worte aus Kindertagen in den Sinn …die Worte des Erzvaters Jakob, „Ich sah dein Angesicht, als sähe ich Gottes Angesicht. Und du hast mich freundlich angesehen!“ (1. Mose 33,10b)

 

In all ihrer Geschäftigkeit, in den Zwängen des Alltags und ihrer Rolle als Herrin, die sie auch sein will, hat sie dieser Mann freundlich angesehen.

Marta ist, als blickte sie Jesus schon eine kleine Ewigkeit in die Augen. Es kann aber nur ein Augenblick gewesen sein; denn Jesus spricht ohne Pause weiter: „Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt.“

 

In einem einzigen, winzigen Satz drückt er aus, was Marta selbst schon gefühlt hat. Diese Leichtigkeit ihrer Schwester, sie ist nicht nur schön, etwas, das Marta auch gern hätte, dem sie sich aber nicht hinzugeben traut, sondern diese Leichtigkeit ist wirklich etwas Gewichtiges. „Nötig“, hatte Jesus gesagt. Ein Gedanke, der vielleicht schon in ihr geschlummert hat, den sie aber noch in der größten Müdigkeit und Erschöpfung nicht zugelassen hätte.

Es hat, weiß Gott, viel Kraft gekostet, Marta, Herrin, zu werden. Nie, nie hätte sie das in einem Moment der Schwäche aufs Spiel gesetzt.

 

Und jetzt kommt dieser Mann und ohne es richtig zu merken, nickt sie. Der Fremde rückt sie zurecht, ohne ihr ihre Stärke abzusprechen, ohne sie selbst infrage zu stellen; ohne ihr Leben und ihre Leistung zu entwerten. Sondern er spricht sie als „Marta“, als „Herrin“ an. Wieder schwirren Worte aus Kindertagen durch ihren Kopf: „Gott sagt: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“ (Jesaja 43,17) Ja, sie ist Marta, Herrin, das ist ihr Leben – teuer genug erkauft. Aber es ist ihr Leben. Dieser Fremde lässt ihr das – und gleichzeitig reißt er sie aus ihrer Geschäftigkeit und Unsicherheit.

Immer noch ruht ihr Blick an seinen Augen. Wieder ist ihr, als sei eine kleine Ewigkeit vergangen, dabei spricht Jesus ohne große Pausen.

 

„Maria hat das gute Teil erwählt. Das soll nicht von ihr genommen werden.“ Marta begreift – mehr noch – sie fühlt, sie erkennt die Wahrheit dieser Worte. Und dieses Blicks.

Dieser Augenblick ist zart und leicht, aber unzerstörbar – außerhalb der Zeit. In Marta geht etwas auf, das über diesen Moment hinausreicht. Sie fühlt selbst: Diesen Augenblick, in dem dieser Mann bei ihr eingekehrt ist, diesen Augenblick, den kann ihr niemand nehmen. Nicht in Zeit und Ewigkeit.

 

Eigentlich wäre es jetzt Zeit, den Blickkontakt zu lösen, von ihm oder von ihr. Aber Marta kann nicht – denn sie will nicht. Der Moment ist zu schön für Geschäftigkeit, für Anstand oder Sitte. Das ist ihr heiliger Moment.

 

„Aus solchen Augenblicken“, denkt Marta, „ist das Leben.“ Mehr braucht es nicht. Nicht einmal dieser schöne Satz: „Suchet, so werdet ihr finden!“, auf den sie so gewartet hat, hätte diesem Tag noch etwas hinzugefügt. Denn Marta hat gefunden. Weil sie gefunden wurde.

Und noch im hohen Alter wird sie gern an diesen Tag denken, an dem die Ewigkeit sie besucht hat und zu ihr gesagt hat: „Marta, Marta“ .

 

Das ist schön erzählt. Und ich kann mit Marta mitfühlen. Aber etwas in mir sagt auch: „Das ist ein bisschen zu glatt!“
Natürlich habe ich gehört, wie es in Marta arbeitet.

Aber da ist diese starke Frau, die sich ihren Platz erkämpfen musste. Und auf einmal soll die so aus der Rolle fallen? Auf einmal zeigt sie sich schwach.
Natürlich gibt es Menschen, die immer aus der Rolle fallen. Aber das ist dann deren Rolle. Und es gibt Menschen, die ihre Schwäche immer nach außen kehren.
Aber das ist dann ihr erprobtes Leben, das ihnen Sicherheit gibt.
Ich frage mich, ob es das wirklich gibt, dass Gott bei mir anklopft und mich aus der Sicherheit in die Weite führt.

 

Das ist vielleicht der Punkt, an dem Marta mir am nächsten ist, in dem Gefühl: Ich muss die Kontrolle behalten. Ich muss die Regeln beachten. Wie eine Straßenbahn, die jeden Tag denselben Weg fährt.

Und genau das ist mein Wunsch, dass da jemand anderes kommt und mir die Weichen neu stellt, damit ich auch einmal neue Wege erprobe.

 

Vielleicht ist die Geschichte doch nicht so glatt. Sie erzählt ja vom Wagnis, eine andere zu sein – die zu sein, die sie nie gewagt hat zu sein. Sie schildert Martas Mut, den Fremden und überhaupt das ihr Fremde einzulassen. Das ist schwere Arbeit.

 

Für mich erzählt sie von Hingabe. Vom Mut, den ich brauche, loszulassen und mich hinzugeben. Mich hingeben und loslassen – und wenn es auch nur für einen Augenblick ist. Und so die Kontrolle, die mir Sicherheit gibt, gegen Freiheit und Weite tauschen. An Martas Ärger auf ihre Schwester sieht man ganz schön, welche Angst sie davor hat.

 

Vielleicht ist die Geschichte wirklich nicht zu glatt. Sie lügt nicht darüber, dass ich auch die andere brauche, die mir die Hand reicht. Weil ich bei aller eigener Willensanstrengung auch den anderen brauche, der meine Füße auf weiten Raum stellt.

 

Und mir reicht heute diese Geschichte die Hand.

Amen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

03.01.2019
Benjamin von Legat