Das geht unter die Haut

Evangelischer Rundfunkgottesdienst

Liebfrauenkirche Neustadt am Rübenberge

Das geht unter die Haut
Rundfunkgottesdienst aus der Liebfrauenkirche Neustadt am Rübenberge
03.11.2019 - 10:05
29.08.2019
Marcus Buchholz
Über die Sendung

Das Motto des Gottesdienstes ist in diesem Fall durchaus wörtlich zu nehmen. Es geht darin unter anderem um Tattoos, Tätowierungen, gestochene Bilder auf der Haut.

In der Liebfrauenkirche ist eine Ausstellung zu sehen, die Bilder von Menschen und ihren Tattoos zeigt. Diese Hautbilder erzählen von Trauer und Verlust. Und sollen helfen, die Trauer zu bewältigen. Das Gesicht des verstorbenen Sohnes, ein Kinderbild der verunglückten Tochter. Wer sich darauf einlässt, kann das Wesentliche spüren – neben den Tränen auch das empfundene Glück, mit dem verstorbenen Menschen ein großes Stück Leben miteinander geteilt zu haben.

In diesem Gottesdienst erzählen Kerstin Hau und Martina Otto von dem Verlust ihrer Kinder und davon, wie so ein Tattoo helfen kann. Der Tätowierer Jan Hagemann erklärt, was es mit einem Tattoo heutzutage so auf sich hat. Sabine Behm und Gisela Rahlfs vom Hospizdienst Dasein werden die Lesung und die Fürbitten gestalten. Pastor Marcus Buchholz hält die Predigt. Mi Young Jeon, Orgel, und Keiji Takao, Horn, sorgen für die musikalische Gestaltung.

 

Folgende Lieder werden im Gottesdienst gesungen:

"Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt", EG Nr. 585

"Gott gab uns Atem, damit wir leben", EG Nr. 432

„Von guten Mächten“, EG Nr. 65, 1.2.5.6

"Da wohnt ein Sehnen tief in uns", Lied aus den "Lebensweisen", ein Beiheft zum Evangelischen Gesangbuch, Nr. 19

 

 

Gottesdienst nachhören

 

Den Gottesdienstmitschnitt finden Sie auch direkt unter Gottesdienste im DLF

 

Predigt zum Nachlesen
 

Liebe Gemeinde!

 

Ein Tattoo ist wie eine Wunde. Eine Nadel sticht in die Haut. Tinte saugt sich in Hautzellen fest. Ein Bild auf der Oberhaut entsteht. Ein Schmetterling, ein Gesicht, ein Kreuz. Ein Tattoo ist für manche Menschen ein Symbol für eine Wunde in ihrem Leben. Eine Wunde, die nicht so recht wieder zuheilt, sichtbar bleibt, für sich und für andere. So wie bei Kerstin Hau. Kurz vor seinem vierten Geburtstag ist ihr Sohn Charlie gestorben, er ist erstickt, in ihren Armen. Eine Wunde fürs ganze Leben. Auf dem rechten Arm trägt sie einen Handabdruck ihres Kindes – als Tattoo.

 

Kerstin Hau: „Charlie hatte diesen Handabdruck eigentlich für eine Kindergärtnerin gemacht. Nach seinem Tod schenkte sie mir den Handabdruck. Mit seinen kleinen Kinderhänden ist er in meine Ärmel reingeschlüpft und hat mich gekniffen, gekratzt und gekitzelt. Er musste immer irgendwie meine Haut berühren. Deshalb war mir auch gleich ganz klar: Der Handabdruck muss auf meinen Arm, denn hier war er immer mit seinen Händen. Ich lege auch oft meine Hand darauf. Das ist wie eine Berührung.“

 

Auch der Jünger Thomas muss die Wunden von Jesus berühren – als Beweis dafür, dass Jesus wirklich von den Toten auferstanden ist. Denn das will Thomas so einfach nicht hinnehmen. Wie soll denn ein Mensch wieder zum Leben erweckt werden? Das gab es noch nie, das ist nicht möglich! – Ganz gleich was seine Freunde erzählen, die glauben eh nur blind.

 

Thomas bleibt skeptisch: „Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich's nicht glauben.“ Die skeptische Einstellung des Thomas ist sprichwörtlich geworden: als „ungläubiger Thomas“ ist er in den Sprachschatz eingegangen. Thomas will handgreifliche Beweise. Wie menschlich. Und Jesus akzeptiert die Zweifel des Thomas. Jesus versteht, dass das was ihm passiert ist über die menschliche Vorstellungskraft hinausgeht. Die Geschichte mit dem ungläubigen Thomas ist bodenständig. Diese Erzählung geht nicht einfach über das menschliche Verlangen nach echten Beweisen, echten Zeichen, echtem Erleben hinweg. Sie ist nüchtern und gibt mit der Figur des Thomas der Skepsis und dem Zweifel Raum. Christlicher Glaube ist ein Glaube, zu dem der Zweifel gehört. Der Zweifel ist die Schwester des Glaubens. Die Zweifel des Thomas werden nicht „gelöscht“. Der Unglaube des Thomas wird nicht durch eine fromme Endredaktion des Evangelisten gestrichen. Nein! Der Evangelist Johannes weiß um die Brüchigkeit im Leben. Menschen fällt es schwer, an die Auferstehung zu glauben, ja, an etwas Übernatürliches zu glauben. So wie Kerstin Hau:

 

Kerstin Hau: „Das Tattoo ist ein Erinnerungsmal für mein größtes Glück mit meinem Sohn Charlie und gleichzeitig die tiefste Wunde. Es schafft Verbundenheit mit dem Menschen, den ich am meisten liebe. Und das Tattoo, der Handabdruck, hält ihn im Leben. Durch Charlies Tod musste ich mich mit Gott und meinem Glauben auseinandersetzen. Ich kam für mich zu dem Schluss, dass ich an einen allmächtigen Gott nicht glauben kann. Dafür geschieht zu viel Unheil auf der Welt. Obwohl ich Mitglied in der Kirche bin, glaube ich nicht an einen Gott wie er in der Bibel steht. Aber ich glaube an eine große Kraft, die habe ich in den dunkelsten Stunden gespürt, und nenne sie Gott, weil ich keinen anderen Namen dafür kenne. Ich glaube an die bedingungslose Liebe, an etwas, das größer ist als unsere Vorstellungskraft. Und ich glaube daran, dass mit dem Sterben des Körpers, der Geist nicht vergeht. Die Seele ist unsterblich.“

 

Der Handabdruck ist wie ein Mal der Erinnerung auf der Haut von Kerstin Hau. Male der Erinnerung, die hatte auch Jesus sichtbar auf seiner Haut als er bei seinen Jüngern, seinen Freunden auftaucht. Jesus trifft seine verunsicherten Freunde für die eine ganze Welt zusammengebrochen ist. Für ihn haben sie zu Hause alles stehen und liegen lassen, Ihre Jobs aufgegeben, ihre Familien verlassen. Hat dieser Jesus sie nur um die Nase herumgeführt? Jesus stellt sich der Situation. Er steht neben ihnen mit Wundmahlen in den Händen, eine tiefe Wunde unter der Rippe – die Haut von Jesus zeigt wie grausam sein Tod war: Am Kreuz angeschlagen die Hände und Füße mit Nägeln durchbohrt, ein Speer stach in seinen Oberkörper. Male der Erinnerung nach dem Tod.

Wie Thomas seinen Glauben in Frage stellt, so tun das viele Christinnen und Christen irgendwann einmal. Die Gewissheit eines Dietrich Bonhoeffer, der sich auch in den finstersten Zeiten im Konzentrationslager von guten Mächten treu und still umgeben wusste, behütet und getröstet wunderbar, sie kann einem dabei abhanden kommen. Wie soll eine Mutter noch einen an guten Gott glauben, wenn Ihr Kind stirbt? Martina Otto hat das erlebt:

 

Martina Otto: „Mir ist das Schlimmste passiert, was einem passieren kann. Der Tod eines Kindes ist eine Amputation bei vollem Bewusstsein, der Wegbruch der Zukunft. Juliane litt seit ihrem 10. Lebensjahr an Diabetes Typ I, daran ist sie mit 21 Jahren gestorben. Ich war es, die sie gefunden hat – tot. Meine Schreie höre ich heute noch, meine seelischen Schmerzen spüre ich immer noch, meine Sehnsucht nach meiner Tochter hört nie auf. Der Tod meiner Tochter – besser gesagt das Verhalten meines Umfeldes – ließen mich krank werden. Schwerste Panikattacken führten dazu, dass ich im Oktober 2012 zu einer 7-wöchigen psychosomatischen Reha musste. Das eingerahmte Bild meiner Tochter nahm ich mit. Jeden Tag stand eine Rose neben ihrem Bild – wie auch zu Hause.“

 

Wie Jesus am Kreuz kann sich eine Mutter oder Vater bei solch einem Verlust nur von Gott verlassen fühlen, nur verzweifelt nach dem Warum fragen. Der Glaube gibt darauf keine Antwort, auch nicht die vielen Geschichten in der Bibel. All das ist zu einfacher Trost. Was aber die Geschichte des Thomas erzählt, ist: Jesus ist in dieser Welt mitten drin, mitten in den Tragödien, Krisen, Sorgen und schlaflosen Nächte, die Menschen erleben. Thomas ist darum einer der wichtigsten Jünger in der Gruppe um Jesus: Denn er ist Stellvertreter für all die Menschen, die nicht mehr glauben können oder wollen. Er ist Zweifler und Suchender zugleich. Und Jesus findet ihn, unterhält sich mit ihm, gibt ihm einen Beweis. Endlich mal eine Geschichte in der Bibel, die die menschliche Natur ernst nimmt. Hier tritt ein Jesus auf, der sich mit allen Menschen auf eine Ebene begibt: „Berühre mich, sagt er zu Thomas. Taste meine Wundmahle, meine Tattoos des Todes ab.“

 

Jesus zeigt sich ganz menschlich mit Händen, an denen das Blut getrocknet ist. Als einer, der alles erlebt hat: den Tod und den Himmel zugleich. Er war ganz unten und wieder ganz oben. Er war Gott ganz fern am Kreuz und Gott ganz nah als er am dritten Tag wieder auferstanden ist. Jesus hat kein weißes Gewand an, trägt kein goldenes Haar oder einen Heiligenschein: Sondern er ist verwundet – an Leib und Seele. Das ist echt, aufrichtig, ehrlich. Er leugnet nicht das Grauen, das er erlebt hat. Aber er bringt auch etwas Neues mit: Frieden! Mitten in der Dunkelheit sagt er zu seinen Jüngern: „Friede sei mit euch. Thomas, reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ Thomas tut es, legt seine Finger auf die Wunden und sagt ganz erstaunt: „Mein Herr und mein Gott!“ Jesus ist nicht tot. Er ist zurück ins Leben gekommen. Und plötzlich ist Jesus Stellvertreter für das Leben. Er hat sich verwandelt wie eine Raupe in einen Schmetterling – das Symboltier für Verwandlung und Unsterblichkeit.

 

Für Martina Otto ist diese Art der Verwandlung ein wichtiger Bestandteil ihres Glaubens. Auf ihrem linken Unterarm trägt sie ein Tattoo, einen schwarzen Schmetterling. Das Lieblingstier ihrer Tochter Juliane.

 

Martina Otto: „Nun ist ihr Name seit 6 Jahren für alle sichtbar: an meinem linken Unterarm mit dem Krafttier Schmetterling als Symbol der Wiedergeburt und Unsterblichkeit. Die Reaktionen auf das Tattoo waren sehr unterschiedlich: vom Kopfschütteln bis hin zu Umarmungen mit Tränen in den Augen. Dieses Tattoo hat mich seelisch stark gemacht. Ich gehe mittlerweile meinen Weg, aber nur mit Menschen, die mich so nehmen, wie ich jetzt bin. Ich habe eine Tochter mit dem Namen Juliane: Sie lebt in meinem Herzen. Sie wird nie vergessen. Und wer den Mut dazu hat, hört sich die Geschichte zum Tattoo an.“

 

Martina Otto bekennt mit ihrem Statement: Gott ist uns stets unendlich nahe und unendlich fern. Nur wenn wir beides erfahren, wissen wir wirklich um ihn. Jesus, der alles hinter sich hat, er lässt die Jünger in dem Moment, in dem sie sich von Gott verlassen fühlen, wieder neu hoffen. Hoffnung auf ein Leben voller Frieden. Er sagt: „Freut euch aber, dass eure Namen im Himmel geschrieben stehen.“ (Lukas 10.20b). Für mich heißt das: Jeder Name von uns ist auf Gottes Haut eintätowiert. Denn diese Macht, von der die Bibel erzählt; dieser Gott, er hält zu uns: im Tod. Und im Leben sowieso.

Amen

 

Es gilt das gesprochene Wort.

29.08.2019
Marcus Buchholz