Europa!

Rundfunkgottesdienst aus der Stadtkirche Schwetzingen
Europa!
Rundfunkgottesdienst aus der Stadtkirche Schwetzingen
14.07.2019 - 10:05
13.06.2019
Steffen Groß
Über die Sendung

„Europa!“

So lautet der Titel des Rundfunkgottesdienstes, den der Deutschlandfunk am Sonntag, 14. Juli 2019, aus der Stadtkirche in Schwetzingen überträgt.

Die Kurfürsten der Kurpfalz hatten in Schwetzingen ihre Sommerresidenz und zogen Musiker und Wissenschaftler aus ganz Europa an. Diese Weltoffenheit ist in der Stadt bis heute lebendig, auch in der Evangelischen Kirchengemeinde. Dort sind Menschen aus ganz unterschiedlichen europäischen Ländern aktiv. Drei von Ihnen, eine Deutsch-Französin, ein Niederländer und ein Russe, werden im Gottesdienst zu Wort kommen und ihre Sicht auf den europäischen Kontinent vorstellen.

Pfarrer Steffen Groß geht in seiner Predigt den Fragen nach, wie das Zusammenleben in Europa gelingen kann in einer Zeit, in der sich Nationalismus und Abgrenzung mit Macht zurückmelden; und was der christliche Glaube zu einem friedlichen und partnerschaftlichen Miteinander beitragen kann.

Das Schwetzinger Blechbläserensemble unter Leitung von Ralf Krumm spielt zwei Sätze der zeitgenössischen Komponistin Andrea Csollány sowie traditionelle und neue Choralmusik. Alexander Levental an der Orgel und Aart Gisolf am Saxophon steuern ein Stück von Maurice Ravel bei.

 

Folgende Lieder werden im Gottesdienst gesungen:

„Die güldne Sonne“, EG 449, Strophen 1, 2 und 6

„Vertraut den neuen Wegen“, EG 395

„Nun danket alle Gott“, EG 321

"Komm, Herr, segne uns", EG 170

 

 

Gottesdienst nachhören

 

Den Gottesdienstmitschnitt finden Sie auch direkt unter http://www.deutschlandradio.de/audio-archiv.260.de.html?drau:broadcast_id=122

Predigt zum Nachlesen
 

Liebe Gemeinde,

Nordfrankreich, irgendwann im 2. Weltkrieg. Dr. Wilhelm Voß ist als Oberstabsarzt der Wehrmacht an der Westfront eingesetzt. Wenn er nicht als Pathologe Dienst tut, lässt er es sich gut gehen: Bilder zeigen ihn mit anderen Offizieren in Partylaune: Der Champagner fließt, die Luft ist vom Rauch der Zigarren geschwängert. Das süße Leben – auf Kosten der französischen Zivilbevölkerung. Nach allem, was wir wissen, war der Champagner konfisziert worden.

Dr. Wilhelm Voß war mein Großvater.

 

Ostpolen, 1940, im 2. Weltkrieg. Günter Tzschoppe ist als Offizier bei der Besatzung des Landes eingesetzt. In einem Brief berichtet er: „Wir fühlen uns hier in diesem Dreck wie in den Kolonien in Afrika, nur dass statt der Schwarzen hier zerlumpte und dreckige Juden und Polen herumlaufen“. Später wird er in Stalingrad gegen die Rote Armee kämpfen und den Siegeszug der Wehrmacht bis Stalingrad mitmachen.

Günter Tzschoppe war mein Patenonkel.

 

Es waren ihre Taten, nicht meine. Aber es ist meine Familiengeschichte. Eine von so vielen, mitten in Europa. Von solchen dunklen Geschichten kommen wir her. Ich glaube: Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, auf welchen Trümmern Menschen wie de Gaulle und Adenauer die Europäische Union begründet haben. Es ist wichtig, dass wir uns erinnern, welche Verbrechen deutsche Soldaten in Polen, Russland und anderswo im Osten begangen haben – und welch Geschenk es ist, dass seit 74 Jahren Frieden herrscht zwischen Russland und Deutschland.

 

Heute feiern wir gemeinsam Gottesdienst. Wir haben die Statements eben gehört: Von Louisa Ludwig, der Tochter einer Französin und eines Deutschen. Von Alexander Levental, dem russischen Organist und Liebhaber Deutschlands. Und auch von Aart Gisolf, dem Niederländer – noch ein Land, das das Dritte Reich mit Krieg überzogen hat.

 

Heute sind wir Freunde. Wir leben Tür an Tür. Wir knüpfen Beziehungen durch ganz Europa – ganz besonders zu unseren Freunden in Lunéville, der französischen Partnerstadt von Schwetzingen. Dort wird heute wie in ganz Frankreich der Nationalfeiertag begangen.

 

Wir feiern gemeinsam Gottesdienst. Für mich ist das ein Wunder.

 

Vor diesem Hintergrund mutet es aberwitzig an, dass heute wieder politische Kräfte unterwegs sind, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen. Dass es viele Menschen aus der Mitte der Gesellschaft gibt, die sich wünschen, dass die Grenzzäune wieder hochgezogen werden. Die predigen, dass das Heil im Nationalstaat liege. Sie raunen von der Überlegenheit einiger Menschen über andere.

Sie machen den Hass wieder salonfähig. Als hätte der Hass nicht zwei Mal Europa fast den Untergang gebracht.

 

„Ein Europa, in dem die Grenzen wieder zugemacht werden, will ich mir nicht vorstellen“, hat Louisa Ludwig eben gesagt. Und genau so ist es.

 

Wir haben so viel zu verlieren.

 

In den Diskursen der Rechten wird gern das christliche Abendland beschworen. Was das genau ist, wissen deren Sprachrohe dann selten zu sagen. Ja, Europa hat christliche und auch viele jüdische Wurzeln. Aber von einer christlichen Einheitskultur kann keine Rede mehr sein, wenn es sie denn jemals gab.

Mein Begriff vom christlichen Abendland ist ein anderer. Ich frage: Was können wir als Christinnen und Christen tun, damit das Zusammenleben in Europa in Zukunft funktioniert? Was können wir aus unserer wichtigsten Quelle schöpfen, aus der Bibel?

 

Es war „der Zweifler“ Aart Gisolf, der mich auf die Spur zu einer Antwort gesetzt hat: „Wir müssen immer wieder einüben, einander zu lieben und die Unterscheidung zwischen „ich“ und „die anderen“ zu überwinden“, hat er eben gesagt. „Denn diese Unterscheidung sitzt tief.“

Aart Gisolf ist kein Träumer. Er redet nicht einer allgemeinen Verbrüderung das Wort. Aart Gisolf redet von harter Arbeit. Von der Arbeit der Nächstenliebe.

„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, sagt Jesus. Er macht unsere Selbstliebe zum Maßstab der Liebe, mit der wir anderen begegnen. Ein geschickter Schachzug: Diese Verknüpfung verhindert, dass Selbstliebe und Nächstenliebe gegeneinander ausgespielt werden – wenn die Selbstliebe größer wird, muss auch die Nächstenliebe wachsen.

Gleichzeitig löst Jesus alle Bedingungen unserer Liebe für andere auf: Es geht nicht darum, dass wir Menschen unsere Liebe zukommen lassen, die uns besonders sympathisch sind, von denen wir uns einen Vorteil erhoffen. Es geht darum, wer unsere liebende, uneigennützige Zuwendung braucht. Der Nächste – das kann jeder Mensch in einer konkreten Notlage oder in unmenschlichen Strukturen sein. Wir können ihn uns nicht aussuchen. Gott stellt ihn uns vor die Augen – egal, ob dieser Nächste uns auf der Straße begegnet, auf Reisen oder in den Weiten des Internets. Der Mensch am anderen Ende der Welt kann mir manchmal näher sein als der Nachbar hinter der nächsten Tür.

Wir sollen und wir können unseren Nächsten lieben, weil er genauso Gottes Geschöpf ist wie wir. Egal ob er oder sie Franzose ist oder Russe, Niederländer, Afrikaner oder Syrer. Alle sind wie zum Bilde Gottes erschaffen. Eigentlich wissen wir das. Aber tun wir es auch?

Unser christlicher Glaube kann uns helfen, die Entfernung zwischen „ich“ und dem „anderen“ immer wieder neu zu überbrücken Beide haben wir den gleichen Ursprung in Gott. Beiden kommt uns die gleiche Würde zu. Beide sind wir Beschenkte. Wie könnte sich einer über den anderen erheben?

Ich bin überzeugt davon, dass unser Gott sich etwas dabei gedacht hat, als er die unendliche Vielfalt der Menschen, Kulturen, Weltsichten und Sprachen erschuf. Ich glaube: Er wollte uns neugierig machen auf diese Vielfalt. Sie ist sein Geschenk. Und der beste Weg, diese Vielfalt zu gestalten und zu bewahren, ist die Nächstenliebe, die Jesus Christus uns so ans und ins Herz gelegt hat. Die Botschaft dieser Nächstenliebe in die Debatte um Europas Zukunft einzuspeisen, ist unsere bleibende Aufgabe als Christen.

Für mich als Christen ist die Nächstenliebe untrennbar mit der Gottesliebe verbunden. Was aber ist dann mit Zweiflern wie Aart Gisolf, was mit unseren muslimischen Mitmenschen oder Mitmenschen anderen Glaubens in Europa und darüber hinaus? Wie kann das Zusammenleben gelingen zwischen Menschen, die völlig anders glauben oder überhaupt nicht?

Auch hier liegt der Schlüssel in der Begegnung zwischen ganz unterschiedlichen Menschen. Es müssen nicht alle Christen werden – aber wir Christen müssen im Gespräch der Weltanschauungen die Nächstenliebe stark machen. Auch jeder andere Gesprächspartner muss darüber Rechenschaft ablegen, woran er oder sie glaubt und auf welchen Grundlagen das eigene Denken und Handeln beruht. Erst danach können wir nach Schnittmengen suchen – und sie finden. Die Menschenwürde dürften so eine Schnittmenge zwischen Kulturen und Religionen sein, wahrscheinlich sogar die wichtigste überhaupt. Wenn alle die Karten auf den Tisch legen, werden wir merken, wie groß die Schnittmengen sind. Und dann ist es bis zum gelungenen Miteinander nur noch ein kleiner Schritt.

 

Das klingt alles nach harter Arbeit und trockenen Diskussionen? Das muss nicht so sein. Hier in der Kurpfalz, mitten im Herzen Europas, ist das Ringen um ein liebevolles Miteinander nicht denkbar, ohne gemeinsam das Leben zu genießen. Die Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen geprägten Menschen lassen sich bei einem Glas Wein und einem guten Essen besonders leicht entdecken. Martin Luther hat das schon vor uns gewusst:

„Siehe, also fließt aus dem Glauben die Liebe und Lust zu Gott und aus der Liebe ein freies, williges, fröhliches Leben, dem Nächsten umsonst zu dienen.“

Ein williges, fröhliches Leben – das passt zu unserem Lebensgefühl, und das kann vielleicht unser Beitrag für das Zusammenleben in Europa insgesamt sein: Liebe und Leben in der Kurpfalz sind meistens eine fröhliche Sache. Liebe ist manchmal auch ein hartes Brot, aber beim gemeinsamen Feiern, Musizieren oder Beten wird eine Delikatesse daraus. So leben und feiern wir gemeinsam –, 74 Jahre nach dem Krieg. Gott sei Dank! Amen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

13.06.2019
Steffen Groß