Gutes bewirken

Altarraum Friedenskirche Berlin-Charlottenburg

Friedenskirche Berlin-Charlottenburg (Baptisten)

Gutes bewirken
Gottesdienst aus der Friedenskirche Berlin-Charlottenburg
17.10.2021 - 10:05
14.10.2021
Hendrik Kissel
Über die Sendung

Mitwirkende: 

Salim Buamam (Kontrabass), Burkhard F. Fabian (Flügel), Lotta Skogvall (Gesang), Finn Seemann (Drums), Bruno Bode (Saxophon)

Robert Spitzner (Lesung, Fürbitte, Interview), Phyllis Rettinger (Fürbitte, Interview), Faouzi Akhazi (Fürbitte, Interview)

Hendrik Kissel (Predigt)

 

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Predigt zum Nachlesen
 

Jesus reitet durch das Brandenburger Tor in Berlin, inmitten des Mauerfalls, inmitten eines Durchbruchs. Das zeigt das große und farbenfrohe Wandbild im Altarbereich hinter mir. Es erinnert an die Wende.

Auf dem Bild sieht man das Brandenburger Tor, links das ehemalige Westberlin vor der Mauer und auf der rechten Seite Ostberlin - hinter der Mauer. In der Mitte des Bildes fällt die Berliner Mauer.

Es sieht so aus, als ob Jesus vor 30 Jahren nach Berlin durch das Brandenburger Tor einzieht. Die Mauer stürzt dabei ein und die vielen Menschen werden frei.

Wer noch genauer hinsieht, erkennt auf der rechten Bildhälfte die vielen, vielen Kirchen Ostberlins. Sie erinnern an das viele Gute, was sie innerhalb ihrer Kirchenmauern getan und bewirkt haben. Sie öffneten ihre Türen für die verschiedensten Menschen: die vielen Umweltschutzgruppen der DDR, die politischen Initiativen, die Punks und auch für queere Menschen.

 

Die abgebildeten Kirchen in Ostberlin – und natürlich viele andere - orientierten sich an dem, was der Wochenvers sagt:

Was gut ist und der Herr von dir fordert; nämlich: Gottes Wort halten und Liebe üben.

 

Aus dem Hören des Wortes Gottes öffneten sie ihre Kirchengebäude. Sie ließen innerhalb ihrer Kirchenmauern Menschen leben, die in den westlichen Kirchen seltener anzutreffen waren und eher außerhalb der Kirchenmauern bleiben mussten.

Wie gut, dass die Kirchen der damaligen DDR Gottes Wort gehalten haben und Gutes bewirkt haben!

 

Unsere Bibellesung handelte vom Einzug Jesu in Jerusalem und ist Grundlage für dieses Wandbild. In der Geschichte hörten wir die Frage der damaligen Zeitgenossen Jesu: „Wer ist dieser?“

Nicht jeder hatte damals in seiner Person Gutes oder gar einen Retter sehen können. Wie konnte jemand all seine Hoffnungen auf diesen Reiter setzen? Was ist das denn für einer, dem Hinz und Kunz, ja alle Welt nach… mehr noch: entgegenläuft?! Kann der ein Retter, eine Hilfe Gottes sein?

 

Im Bild hinter mir ist dieser Reiter nur schemenhaft und für die Betrachtenden unscharf gemalt.

Die Betrachter des Bildes fragen im Grunde auch: „Wer ist dieser?“

Ohne Austausch, ohne Erklärung oder ohne Kenntnis der biblischen Geschichte wird es nicht erfahren.

 

Information und Willen allein reicht nicht, um eine Person zu kennen. Wir benötigen Begegnungen und Erfahrung mit einem Menschen. So ist es auch mit dem Reiter Jesus: Wirklich verschwinden wird die Unschärfe des Reiters, wenn Menschen diesen Jesus persönlich erleben.

 

Kennenlern-, ja, Erlebensversuche sollen christliche Gottesdienste sein. Die Zusammenkünfte sind Treffen mit Menschen, die erfahren haben und erfahren wollen, wer dieser Jesus für ihr Leben ist. In jedem Gottesdienst geht es um diese Frage. Sein in der Bibel beschriebenes Leben und Wirken ist sichtbares „Reden Gottes“, sozusagen ein Erleben der „Worte Gottes“.

Dieses sonntägliche Suchen und Fragen wird durch den menschlichen Gottesdienst im Alltag ausgelöst. Von Montag bis Samstag leben Menschen nämlich ihren Dienst an und in der Welt und ihren Menschen.

Jedes Miteinander von Christen will für diese Art zu leben Orientierung geben.

Orientierung geschieht durch die Beschäftigung mit dem Leben und Reden Jesu, dem „Wort Gottes“ - wie es die Bibel nennt. Sie schärft das unklare Bild von dem Reiter in dem Wandbild der Friedenskirche. Die Beschäftigung mit ihm lässt mehr und mehr Kontur entstehen. Je mehr ich von ihm erkenne, desto mehr gewinnt, ja fasziniert Jesus mich. Ich blicke dadurch nicht mehr nur auf mich und meine Interessen, sondern werde in die Freiheit, in die Begegnung mit ihm geführt.

Diese Erfahrung hat mir schon oft Mut gemacht, wegen Gott und für die Menschen etwas zu bewegen. Immer war es die Hoffnung, Gutes bewirken zu können. Oft war es so, dass ich abwägen musste: Soll ich es wirklich wagen oder lass ich‘s lieber sein?

 

Nicht weil ich das Gute tun müsste, um als guter Christ zu gelten oder mir die Hilfe Gottes zu verdienen. Als wenn der Reiter nur zu den Guten käme. Nein, er kommt zu mir als Mensch, nimmt mich so an, wie ich bin.

Hin und wieder erlebe ich Momente in meinem Leben, wo mich diese Tatsache ganz tief berührt. Dabei vergleiche ich mich mit anderen Menschen, stelle mich und die Umstände in Frage. Ich benenne diese Momente Begegnungen mit Jesus selbst. Vor oder auf diesem Hintergrund wird dann der Wochenvers meine Lebensantwort. Ich will mehr erfahren, von Jesus, dem Wort Gottes und seiner Sicht zur mir und meinem Leben. Ich will sozusagen lesend hören oder im Austausch mit anderen Menschen ihn anders kennenlernen und eben auch christliches Gottvertrauen ausprobieren. Und im gemeinsamen Engagement.

 

Diese Art zu leben lockt immer wieder meine Blicke weg von mir. Zieht mich in die Beschäftigung mit dem Leben und Reden des Reiters.

 

Für mich sind das „Gottesbegegnungen“, weil ich in der Tiefe meines Lebens einen Glauben an mich, an Gott und seine und auch meine Möglichkeiten wahrnehmen kann. Ich werde frei, Gottes Sicht der Menschen und der Welt von Herzen zu glauben und teilen zu können. Oder anders ausgedrückt: zwecklos Gutes zu tun oder es zumindest zu erhoffen.

 

Jeder, der sich engagiert und natürlich jede, die das zu glauben versucht, weiß:

Gottes Wort halten und wagen ist oft nicht leicht. Wir wissen allzu oft, „was gut ist und der Herr von uns fordert“, aber wagen es nicht.

Hier in unserer Kirchengemeinde begegnet uns dies als der teilweise schmerzliche Verlust von gewohnten Glaubensvorstellungen und kirchlichen Selbstverständlichkeiten.

 

Es war selbstverständlich, dass nach dem Gottesdienst gemeinsam Kaffee getrunken wurde. Tatsächlich aber war nur ein Teil der Gemeinde dabei.

Nun befindet sich das Kirchenkaffee inmitten des Gottesdienstes, als ein bewegliches Friedenszeichen kurz vor der Predigt. Alle haben die Möglichkeit zur Begegnung und zum Austausch, auch die, die am Ende des Gottesdiensts sofort gehen müssen. Diese Zeit des Miteinanders „tut so richtig gut“, so sagen es mir immer wieder Menschen. Für sie ist es – trotz der ungewohnten Unruhe vor der Predigt - eine ganz wichtige Zeit geworden, weil es innerhalb der Woche viel zu wenig solcher zweckfreien Begegnungen gibt. Gleichzeitig ist diese Zeit der Begegnung auch ein Anreiz, sich auch innerhalb der Woche auf und mit Menschen einzulassen. Solche Zeiten tun einfach gut.

 

Selbstverständlich waren bei uns schon immer auch Menschen mit queeren Lebensentwürfen. Ihr Engagement bei uns, ihre Zeit und auch ihr Geld war kein Problem. Unsere Herzen sagten Ja, aber unser Kopf ... Aus dem gemeinsamen Auf-das-Wort-Gottes-Achten fassten wir als Freikirche Mut. Wir verstanden, dass wir ihnen Gottes unmissverständliches Ja nicht mehr verwehren müssen. Denn Gott liebt jeden Menschen. Gott segnet sie und uns durch sie, dann wir auch, in seinem Namen.

Es war und ist immer noch schmerzlich, dass seitdem nicht mehr alle mit uns und ihnen beten können. Einige langjährige und treue Mitglieder können sich das seitdem nicht mehr vorstellen.

 

Ja, es ist nicht immer leicht, aber der christliche Glaube verspricht das an keiner Stelle.

Hörerinnen und Hörer des Wortes Gottes wagen es trotzdem – denn sie wollen weiter Gottes Wort halten und für die Menschen Gutes bewirken. Um Gottes Wort zu ringen, es zu verstehen und im eigenen Leben umzusetzen, das gehört zum Glauben dazu. Dazu macht der Reiter allen Menschen Mut und Hoffnung.

 

Er ist mit und bei den Menschen, die sich bewegen, und auch bei denen, die müde davon geworden sind. Er ist beiden ganz nahe. Die Begegnung mit Jesus ist wie Kraftstoff für solche Zeiten.

Manchmal begegne ich dem Reiter in anderen Menschen, denen ich oder die mir Gutes tun. So macht der Reiter im Wandbild mir deutlich: Es sind viele, ich glaube und hoffe nicht allein.

Es gibt noch andere, die mit darauf achten, dass der Reiter in das Leben einziehen kann. Gerade dann, wenn‘s schwer wird auf dem Weg des Hörens und bei dem Versuch, Gutes zu bewirken. Gerade dann ist es gut zu merken: Anderen fällt es grad leichter. Sie ziehen und tragen mit, indem sie anrufen oder Nachricht schreiben und fragen, wie es geht. Mit anderen Menschen gemeinsam ist´s leichter, schöner und besser.

 

Wer ist dieser?

Das ist die Frage unseres Bibeltextes und des Wandbildes.

Die Menschen der Friedenskirche und ich beantworten diese Frage mit unserer Erfahrung: Ja.

Jesus ist einer, so sagen wir, der in Momenten, wo die Kraft, zu glauben, zu hoffen und Gutes zu tun, fehlt – der dann kommt, einzieht und bewegt, damit es für einen selbst und für andere gut wird. Mal kommt er unsichtbar, mal in anderen Menschen. Amen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

14.10.2021
Hendrik Kissel