"Ihr plant Böses - und GOTT...?" - Theatergottesdienst

Auferstehungskirche Pforzheim

Vio La

"Ihr plant Böses - und GOTT...?" - Theatergottesdienst
Rundfunkgottesdienst aus der Auferstehungskirche Pforzheim
27.06.2021 - 10:05
17.06.2021
Heike Springshart
Über die Sendung

Mitwirkende: 

Pfarrerin PD Heike Springhart und Lektor:innen der Gemeinde

Intendant Thomas Münstermann

Lilian Huynen (Katharina Kepler), Paul Jadach (Johannes Kepler)

Choristen des Stadttheaters Pforzheim

KMD Heike Hastedt

Sänger:innen des Chores

 

 

Gottesdienst nachhören

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Predigt zum Nachlesen
 

Teil 1
Manchmal begegnen mir Menschen, die haben Schreckliches erlebt. Die tragen Spuren auf ih-rer Seele, mit denen ich nicht gerechnet hätte. Die zupackende Unternehmerin, die noch im Ruhestand die Angst der langen Flucht mit ihrer Mutter nach dem Krieg in der Seele trägt. Der nachdenkliche Konfirmand, der in der Schule Tag für Tag Mobbing erlebt. Die lebensfrohe Studentin, die als Jugendliche von einem Pfarrer missbraucht wurde. Der begnadete Musiker, der noch nach Jahren unter dem Schmerz seiner gescheiterten Ehe leidet.

Wie können wir mit solchen Spuren auf der Seele leben? Auch wenn die Situationen voll Angst und Gewalt längst vorüber sind, kommen die Bilder immer wieder. Vor allem in den Träumen. 

Im Traum kommen die Bilder, die mich nicht loslassen. 
Menschen aus längst vergangenen Zeiten meines Lebens vermischen sich zu eigenartigen Ge-schichten. Ängste werden zu konkreten Szenarien. 
Den Prüfungstermin verpasst. 
Auf der Kanzel merken, dass das Manuskript fehlt. 
Zu spät am Bahnhof für die Abfahrt in den lang ersehnten Urlaub.
Aber auch Sehnsüchte werden im Traum Wirklichkeit. 

Träume haben ihre eigene Macht. 
Josef in der Bibel, Johannes und Katharina in der Musical-Oper haben geträumt. An entschei-denden Stellen ihres Lebens. 
In den Träumen haben sich ihnen die Fenster geöffnet – zum Himmel und in den Abgrund. 
Manche Träume lassen einen ein Leben lang nicht mehr los. 

Johannes Kepler hat so einen lebensentscheidenden Traum geträumt. Einst hatte er als Kind mit seiner Mutter Katharina über den großen Kometen am Himmel gestaunt – und über die Heilkraft, die in den Kräutern auf der Erde steckte. Dass in all dem Gottes Schöpferkraft zu erfahren ist, war für sie beide keine Frage. Ob zarte Schneeflocke oder weit entfernter Stern – die Wunder der Schöpfung lassen Johannes nicht mehr los. Aus dem Staunen wachsen die Fragen und der Forscherdrang. Er lernt, die Welt mit Abstand zu betrachten und zu erforschen. Als säße er auf dem Mond. Wie im Traum. Seine endlosen Fragen ziehen ihn immer weiter zu neuer und tiefer Erkenntnis. 

Johannes Kepler erlebt aber auch: wer tiefer sieht, wird mit Argwohn beäugt. Die Kirche sei-ner Zeit, aber auch sein Forscherkollege war nicht bereit, ihre Sicht auf die Wahrheit in Frage stellen zu lassen. Schon gar nicht waren sie bereit, sich kritisch mit seinen Erkenntnissen aus-einanderzusetzen. 

Auch der Träumer Josef, von dem die Bibel berichtet, hat solchen Argwohn schmerzlich erlebt. Er hat geahnt, dass er einmal große Verantwortung übernehmen wird – und dass auf die sie-ben fetten Jahre im Land sieben magere Jahre kommen. Seine Träume wurden ihm erstmal zum Verhängnis. Er wurde in die Sklaverei verkauft. Vorher hatten seine Brüder ihn in eine Zisterne geworfen. Von allen verlassen, hilflos und ausgeliefert, in Todesangst saß er da. Bilder, die sich ein Leben lang in seine Seele eingebrannt haben. Später wird sich zeigen: weil er das Gefühl des Ausgeliefertseins kannte, wuchs bei ihm die Sensibilität für solche beschämenden Situationen – und er konnte seine Brüder empfangen. Und: so schrecklich es war, dass seine Brüder ihn für tot erklärt haben – für Josef bedeutete das einen Neuanfang, auf dem Segen lag. Im Bösen lag der Keim des Guten. Davon wird das Böse nicht gut. Aber es gibt ein Leben jen-seits des Bösen, das einer erlebt. 

Auch Katharina Kepler hat ein Leben lang Narben auf ihrer Seele getragen. Sie hatte sich nach Liebe gesehnt. Nach dem einen, der sie in seine Arme nimmt. Dann erlebte sie, was unzähli-ge Frauen auch heute erleben: auf Treueschwüre folgte Gewalt. Die zerstörerische Mischung aus Alkohol und Schlägen. Ihr Zuhause wurde für sie zum Gefängnis. Trotz allem zog es sie zu ihm hin. Der Gedanke an ihn und seine brutalen Hände lässt noch nach Jahren die Übelkeit in ihr aufsteigen. Was bleibt, ist die bohrende Frage in ihr: war das die Liebe, nach der sie sich sehnte? 
Sie hat sich von ihm befreit und ihn rausgeworfen. Und dennoch bleiben die Spuren der zer-störerischen Manipulation. Eine unheilvolle Bindung auch nach Jahren. Und ihre Sehnsucht nach echter Liebe bleibt.   

Teil 2
Später träumte auch Katharina. Sie hatten sie ins Gefängnis geworfen. Sie wurde fast irre vor Angst und hatte einen Alptraum. Früher war sie ihrem blindwütigen Mann ausgeliefert, jetzt den Verleumdungen der Leute. Eine hatte das Gerücht in die Welt gesetzt, sie sei eine Hexe. In Windeseile stimmte ein Mob in diese Verleumdung ein. Wir haben es am Anfang gehört. „Brennen, brennen, die Hex’ soll brennen.“  Ein Shitstorm der eigenen Art. Aufgeheizt durch eine Kirche, die sich verrannt hatte in Rechthaberei und in Angst vor der Weisheit von Men-schen wie Katharina und Johannes. Eine Kirche, die sich an die Stelle Gottes gesetzt hatte. 

Im Alptraum spürt Katharina den Schmerz der züngelnden Flammen des Scheiterhaufens. Zer-brechlich und allein. Die Narben auf ihrer Seele und die Angst bemächtigen sich ihrer. Am En-de landet sie nicht auf dem Scheiterhaufen, sondern übersteht die Folter. Sie überlebt, aber in ihr ist etwas gestorben. 
Hilflos und ausgeliefert ist ihre Seele erstarrt. Abgespalten wie die von so vielen traumatisie-ren Mädchen und Frauen. Sie lebt noch eine kurze Zeit weiter, aber ihre Seele ist ermordet. 

Auch Josef, der Träumer aus der Bibel, lebte weiter. Was er in seinen Träumen hatte kommen sehen, war Wirklichkeit geworden. Am Ende machen seine Brüder sich auf den Weg zu ihm. Jetzt haben sie Sorge, dem Bruder ausgeliefert zu sein. Das Entscheidende und Überraschende aber ist: sie erkennen, dass und wie schwer Josef an dem zu tragen hat, was sie ihm angetan haben. 
Als sie ihm das zu verstehen geben, bricht Josef in Tränen aus. Die Anerkennung der Taten durch die Brüder lässt ihn den so lange abgespaltenen Schmerz spüren. Solche Tränen haben heilsame Kraft. Solche Tränen geben der Seele wieder Raum. 

Aber der Bitte der Brüder um Vergebung kann Josef  nicht entsprechen. Und er muss es auch nicht. „Bin ich denn an Gottes Stelle?“, fragt er. 
Josef weigert sich, die Stelle Gottes einzunehmen. Er kann und er muss nicht für die Entlas-tung seiner Brüder sorgen, er kann und er muss ihnen nicht vergeben. Er lehnt die Unterwer-fungsgeste der Brüder ab. „Ihr hattet Böses für mich geplant. Aber Gott hat es zum Guten gewendet.“ Mit dem Abgründigen müssen sie alle leben – Täter und Opfer. Dieser Schmerz bleibt ein Leben lang, in Alpträumen und in Seelennarben. Aber er muss die Seele nicht für immer versteinern. Die alten Wunden können ihre Macht verlieren. Das ist die Weisheit in Josefs Tränen. 
Weinen lernen, den Schmerz spüren – das kann ein Weg sein raus aus der Macht alter Wunden. Nicht nur für die, die Gewalt erlitten haben, sondern auch für die Kirche, die zu tragen hat, dass in ihrem Raum sexualisierte Gewalt geschehen ist und geschieht. 

Es ist nicht die Verantwortung von Josef und Katharina, denen zu vergeben, die ihnen Schreckliches angetan haben. Das können sie und das können wir getrost Gott überlassen. Wir sind nicht an seiner Stelle. Die Opfer von Gewalt müssen den Täterinnen und Tätern nicht vergeben. 

Josef kann nicht vergeben, aber ihm kommt auch keine Rache in den Sinn. Die Macht der Ge-walt ist auch dadurch gebrochen, dass er sich selbst nicht auf das Opfersein festschreibt. Die Schwere der Schuld der Brüder bleibt – aber sie ist der zerstörerischen Macht über Josef be-raubt. Er kann so gelassen und frei mit seinen Brüdern einen neuen Anfang wagen. Er gibt dem Schmerz nicht letzte Macht über sein Leben, denn auch das hat er ja erlebt: „Gott ge-dachte es gut mit mir zu machen.“ Am Ende löst sich die Enge der Angst und Josef kann sich ganz konkret um die Not der Familien seiner Brüder sorgen. Ja, er kann sogar freundlich mit ihnen reden. So eröffnet sich ein gemeinsamer Verantwortungsraum für die Linderung konkre-ter Not.  

Katharina und Josef – beiden sind durch Gewalt und blinde Wut anderer Menschen lebensbe-drohliche Wunden zugefügt worden. 
Beide lenken meinen Blick heute morgen darauf, dass der Geist der Freiheit atmen kann, wenn Menschen sich nicht an Gottes Stelle setzen. 
Damit will ich rechnen: dass meine Wahrheit nicht die letzte Wahrheit ist – und dass es Situa-tionen in meinem Leben gibt, da kann ich die Vergebung getrost in Gottes Hände legen. 
Dann zieht Frieden ein – auch in meine Träume.
 

Es gilt das gesprochene Wort.
 

17.06.2021
Heike Springshart