"Retten im Norden"

Rettungsschiff United4Rescue

United4Rescue, Chris Grodotzki

"Retten im Norden"
Rundfunkgottesdienst aus Tidofeld (Norden)
22.11.2020 - 10:05
Über die Sendung

 

 

 

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Den Gottesdienstmitschnitt finden Sie auch direkt unter http://www.deutschlandradio.de/audio-archiv.260.de.html?drau:broadcast_id=122

„Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt!“ Diese Worte auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 2019 sind kurz darauf zum Motto des von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) initiierten Seenotrettungsbündnisses United4Rescue geworden. Gesagt hat diesen Satz Pastorin Sandra Bils. Sie predigt im Rundfunkgottesdienst am Ewigkeitssonntag aus der Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld im ostfriesischen Norden.

Der Gottesdienst steht für ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis und erinnert an die Opfer von Flucht, Vertreibung und Migration. Die liturgische Gestaltung des Rundfunkgottesdienstes liegt bei Helmut Kirschstein, Superintendent des Ev.-luth. Kirchenkreises Norden. Der Kirchenkreis ist Mitglied des Trägervereins der Dokumentationsstätte und engagiert sich gemeinsam mit anderen kirchlichen, politischen und gesellschaftlich relevanten Gruppen als „Norder Bündnis“ für United4Rescue. Das Bündnis mit aktuell 654 zivilgesellschaftlichen Partnern hat Spendengelder gesammelt, mit denen das Rettungsschiff SeaWatch 4 gekauft und ausgerüstet werden konnte, allein 26.000 Euro kamen aus Norden. Für die Musik im Rundfunkgottesdienst sorgen Edda Liebermann (Akkordeon) und Jochen Fischer (Keyboard, Saxophon) zusammen mit einzelnen Sängerinnen der Kantorei der Norder Ludgerikirche. Weitere Mitwirkende im Gottesdienst sind Herma Heyken, Lektorin und engagiertes Mitglied im Norder Bündnis United4Rescue; Lennart Bohne, Pädagogischer Leiter der Dokumentationsstätte; Thorsten Kliefoth, Notfallsanitäter und mehrfach im Einsatz für SeaWatch; Joachim Strybny, pensionierter Lehrer und Vertriebener aus Schlesien sowie Dieter Mader, Vorsitzender des Inselmuseums Spiekeroog.


Aufgrund der Corona-Maßnahmen des Landes Niedersachsen und den begrenzten Räumlichkeiten in der Dokumentationsstätte ist der Gottesdienst vor Ort nicht öffentlich.

 

Folgende Lieder werden im Gottesdienst gesungen:

 

Lied 1: Da wohnt ein Sehnen (Freitöne 25,1-2)

Refrain: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zusein. Es ist ein Sehnen, ist ein Durst nach Glück, nach Liebe, wie nur du sie gibst.

1. Um Frieden, um Freiheit, um Hoffnung bitten wir. In Sorge, im Schmerz – sei da, sei uns nahe, Gott.

Refrain

2. Um Einsicht, Beherztheit, um Beistand bitten wir. In Ohnmacht, in Furcht – sei da, sei uns nahe, Gott.

Refrain

Lied 2: Da wohnt ein Sehnen (Freitöne 25,2-4)

Refrain: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zusein. Es ist ein Sehnen, ist ein Durst nach Glück, nach Liebe, wie nur du sie gibst.


3. Um Heilung, um Ganzsein, um Zukunft bitten wir. In Krankheit, im Tod – sei da, sei uns nahe, Gott.

Refrain

4. Dass du, Gott, das Sehnen, den Durst stillst, bitten wir. Wir hoffen auf dich – sei da, sei uns nahe, Gott.

Refrain

Lied 3: Wie mit grimmgem Unverstand (EG 592)

1. Wie mit grimmgem Unverstand Wellen sich bewegen! Nirgends Rettung, nirgends Land vor des Sturmwinds Schlägen! Einer ist's, der in der Nacht, einer ist's der uns bewacht: Christ, Kyrie, du wandelst auf der See.

2. Wie vor unserm Angesicht Mond und Sterne schwinden! Wenn des Schiffleins Ruder bricht, wo dann Rettung finden? Wo denn sonst als bei dem Herrn, sehet ihr den Abendstern! Christ, Kyrie, erschein uns auf der See!

3. Nach dem Sturme fahren wir sicher durch die Wellen, lassen, großer Schöpfer, dir unser Lob erschallen, loben dich mit Herz und Mund, loben dich zu jeder Stund: Christ, Kyrie, ja dir gehorcht die See.

4. Einst in meiner letzten Not, lass mich nicht versinken. Sollt ich von dem bittern Tod Well auf Welle trinken, reiche mir dann liebentbrannt, Herr, Herr, deine Glaubenshand! Christ, Kyrie, komm zu uns auf die See!

Lied 4: Hevenu Schalom alejchem (EG 433)

1. Hevenu schalom alejchem, / Hevenu schalom alejchem,

Hevenu schalom alejchem, / Hevenu schalom alejchem,

Schalom alejchem.

2. Wir wollen Frieden für alle, / wir wollen Frieden für alle,

wir wollen Frieden für alle, / wir wollen Frieden, Frieden,

Frieden für die Welt.

Lied 5: Komm in unsre stolze Welt (EG 428)

1. Komm in unsre stolze Welt,

Herr, mit deiner Liebe Werben.

Überwinde Macht und Geld,

lass die Völker nicht verderben.

Wende Hass und Feindessinn

auf den Weg des Friedens hin.

 

2. Komm in unser reiches Land,

der du Arme liebst und Schwache,

dass von Geiz und Unverstand

unser Menschenherz erwache.

Schaff aus unserm Überfluss

Rettung dem, der hungern muss.

 

3. Komm in unsre laute Stadt,

Herr, mit deines Schweigens Mitte,

dass, wer keinen Mut mehr hat,

sich von dir die Kraft erbitte

für den Weg durch Lärm und Streit

hin zu deiner Ewigkeit.

 
Predigt zum Nachlesen

Sie hatten ziemlich viel für die Überfahrt gezahlt. Eigentlich hatten sie alles dafür verkauft. Alles, was sie sich zuhause aufgebaut hatten und auch ihr ganzes Erbe. Investiert für die Hoffnung auf ein neues Leben.

Andere an Bord kamen aus relativ wohlhabenden Verhältnissen. Man erkannte sie sofort an der Bekleidung. Aber nach ein paar Tagen unterwegs sahen ohnehin irgendwie alle gleich aus.

Vorne hockte eine und hielt ein Kind fest umschlungen. Das Kind weinte unablässig. Neben ihr kauerte ein junger Mann. Vielleicht 18, 19 Jahre alt. Er wimmerte vor Schmerzen. Am Abend zuvor hatte er ihr die Striemen auf seinem Rücken gezeigt. Sie gab ihm ab und an von ihrem Wasser.

Auf der anderen Seite saß ein Arzt. In seinem Dorf durfte er schon lange nicht mehr in seinem Beruf arbeiten. Hatte sich zu kritisch gegenüber der Regierung geäußert. Seine Frau und seinen Bruder hatte er bei der Revolution vor sechs Jahren verloren. Beide totgeschlagen. Er war noch nie am Meer gewesen. Und seit sie abgelegt hatten, übergab er sich in einem fort.

Es war von Anfang an raue See gewesen. Man hatte sie gewarnt, vor der Überfahrt im Herbst. Es würde stürmisch werden. Es wurde auch stürmisch.

Sie merkten, dass das Schiff nur schwer auf Kurs zu halten war. Strömung und Wellen machten es schwer zu steuern.

Viele Schiffe waren hier in der Nähe schon gesunken, in der letzten Zeit. Man sprach von vielen Ertrunkenen.

Am zweiten Tag schwappten zum ersten Mal Wellen an Bord. Es brauch Panik aus, alle hatten Angst zu sinken. Am dritten Tag wurde das Wetter noch schlechter. Es war mittlerweile so viel Wasser im Innenraum, dass viele mithelfen mussten, das Schiff schwimmfähig zu halten. Die Tage vergingen, die Lage spitzte sich immer weiter zu.

Mehrfach drohten sie zu kentern.

Am sechsten Tag auf See verloren 77 Menschen ihr Leben.

Darunter 25 Kinder. Keiner hatte ihnen geholfen. Es gab einfach kein Rettungsschiff.

Dieses Unglück ist 166 Jahre her.

Das Schiff war die ‚Johanne‘. Ein Auswandererschiff, auf dem Weg von Bremerhaven nach Amerika. Es sank am 6. November 1854 in der Nordsee. Direkt vor Spiekeroog. Gar nicht so weit von hier.

Die Schiffsglocke der Johanne haben wir gerade gehört. Sie wurde nach dem Unglück geborgen und erinnert noch heute an die Toten.

Liebe Hörerin, lieber Hörer - hatten Sie gedacht, es ginge um ein Flüchtlingsboot im Mittelmeer?

Nein, nein. Ich wollte Ihnen von einem der Unglücke erzählen, die zur Gründung der Seenotrettung führten – hier bei uns, in der Nord- und Ostsee.

Nach so vielen Unglücken, wie dem der Johanne, schloss man sich in Deutschland zusammen, um die Seenotrettung gemeinsam zu organisieren. Daraus entstand dann die Gesellschaft zur Rettung Schiffsbrüchiger, die auch heute noch Menschen aus Seenot rettet.

Gott sei Dank.

Aber Sie haben schon recht:

Heute, also 166 Jahre später, spielen sich im Mittelmeer vergleichbare Szenen ab.

Fast täglich.

Heute vor zehn Tagen sind bei einem Schiffsunglück vor der libyschen Küste mindestens 74 Menschen ertrunken.

Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn. (Gen 1,27)

Eigentlich ist es doch egal, ob es um Menschen geht, die vor 166 Jahren in Bremerhaven in ein Auswandererschiff in Richtung Amerika gestiegen sind oder heute in ein Schlauchboot mit dem Ziel Europa.

Eigentlich ist es doch egal, ob die Menschen Tarek, Deeqa, Abdel Wahab und Fatma heißen oder Elisabeth, Friedrich, Marie und Carl Wilhelm.

Eigentlich ist es doch egal, ob sie damals aus Deutschland und Österreich flohen vor der Armut, vor den Unruhen nach der gescheiterten Märzrevolution, mit Hoffnung auf Demokratie und ein neues Leben in Amerika. Oder ob sie HEUTE fliehen, aus Syrien, Eritrea, Mali AUCH vor der Armut, AUCH nach Revolutionen, Kriegen und Umstürzen in ihren Ländern, AUCH mit Hoffnung auf Demokratie und eine Zukunft.

Es könnte uns doch echt egal sein. Ob ihre Haut schwarz ist oder weiß. 

Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn. (Gen 1,27)

Es ist uns aber nicht egal.

Mir sind Elisabeth, Friedrich, Marie und Carl Wilhelm, die auf dem Drinkeldoodenkarkhoff, dem Friedhof der Ertrunkenen auf Spiekeroog beerdigt liegen, einfach näher als Tarek, Deeqa, Abdel Wahab und Fatma. In den Nachrichten verschwimmen ihre Schicksale zu einer einzigen großen Zahl in der Statistik. Die Geflüchteten in den Schlauchboten im Mittelmeer, die ab und an in der Tagesschau gezeigt werden, sehen für viele von uns fast alle gleich aus. Nicht so wie wir. Sie bleiben fremd.

Mir liegen einfach die mehr am Herzen, die so sind wie wir.

Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn. (Gen 1,27)

Gott unterscheidet nicht.

Nicht vor 166 Jahren und auch heute nicht.

Gott hat Tarek, Deeqa, Abdel Wahab und Fatma nach seinem Bilde geschaffen.

Und Elisabeth, Friedrich, Marie und Carl Wilhelm auch.

Alle sind wir geliebt. Alle haben wir einen Wert.

Alle: Gottes Ebenbild.

Ich wünsche mir so sehr, ich könnte das von Gott lernen: diesen Blick.

Gott schaut seine Menschenkinder an. Seine Ebenbilder.

Und gibt jeder und jedem einzelnen Wert und Würde.

Alle sind sie Geschöpfe Gottes.

Nicht nur die, die ich automatisch gern habe.

Alle.

„Was ihr den geringsten von meinen Brüdern und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan,“ (Mk 25,40) sagt Jesus.

Weil der sich damit auskennt. Weil der uns selbst zum geringsten Bruder wurde.

Manchmal denke ich: der Jesus, an den ich glaube, mein Herr und Heiland – der käme heute nicht in einer Krippe zu uns, sondern mit einem Schlauchboot.

Wer da vor unseren Augen im Mittelmeer ertrinkt, das sind nicht irgendwelche namenlosen Geflüchteten, alle gleich.

Die da ertrinken – die sind Gottes Ebenbilder.

Es geht eigentlich nicht um Seenotrettung.

Damals, wie heute. In der Nordsee oder im Mittelmeer.

Es geht um die Würde des Menschen.

Den Wert eines jeden Menschen.

Um Gottes Ebenbild.

Amen

 

Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft,

bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserm Herrn.

Amen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.