Mach mal lauter! - Unerhörtes wahrnehmen

Dom St. Petri in Bautzen

Foto: Holger Hinz

Mach mal lauter! - Unerhörtes wahrnehmen
Live-Übertragung aus dem Dom St. Petri, Bautzen
27.08.2023 - 10:05
10.05.2023
Pfarrer Christian Tiede
Über die Sendung:

Wie laut muss es sein, um Gehör zu finden? Wann beginnt das Hören, wann das Zuhören und wann das Verstehen; und wann nimmt ein Mensch zu Herzen, was er wahrnimmt, auch im Glauben? Diesen Gedanken geht Pfarrer Christian Tiede in seiner Predigt nach.

Gottesdienst nachhören:

Wann beginnt das Hören, wann das Zuhören und wann das Verstehen; und wann nimmt ein Mensch zu Herzen, was er wahr-nimmt, auch im Glauben? Im Gottesdienst aus dem Dom St. Petri in Bautzen geht es um die Lautstärke.

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Predigt zum Nachlesen:

Liebe Gemeinde zu Haus und hier im Dom St. Petri,

Wie angewurzelt steht er dort oben.

Das Schwert in der rechten Hand hat er längst sinken lassen. Vielleicht versucht er noch, sich darauf zu stützen. Irgendwie Halt zu finden. Die linke Hand hält ein Buch schützend vor seine Brust.

Viel kann man nicht erkennen von hier unten. Dass sein Kopf nach oben gerichtet ist, kann man sehen. Und dass der Blick in den Himmel geht. Oder in das weite Gewölbe.

Paulus. Der große Apostel. Kerzengerade steht er als lebensgroße Holzskulptur hoch oben in unserem Dom.

Am Beginn des 20. Jahrhunderts, im Jahr 1909, wurde die große Eule-Orgel eingeweiht. Damals wurde auch die Empore im Stil der Zeit erneuert. Ganz am äußersten östlichen Ende der Empore, auf dem Pfeiler einer Wendeltreppe steht seither der Apostel Paulus.

Es ist ein eigentümlicher Ort. So weit oben, dass er sogar die Empore um einige Meter überragt. Hier ist Paulus nur noch den Klängen der Orgel ausgesetzt. So intensiv wie niemand sonst im Dom. Umtost von der Musik, wenn alle Register gezogen sind. Aber auch die leisesten Töne können ihm hier nicht entgehen.

Von weitem erinnert er mich an eine Wegemarke. Oder an ein Ausrufezeichen. Über allem, worum es hier unten im Dom geht, tagein, tagaus.

Aber eigentlich kann man so nicht stehen. Der Pfeiler der Wendeltreppe ist viel zu schmal, als dass irgendjemand dort Halt finden könnte. Er ist so filigran, dass die Füße des Paulus keinen Platz auf ihm finden und über seinen Rand hinausragen. Ein unmöglicher Standpunkt ist das.

Wie hält Paulus nur die Balance, frage ich mich. Wie gelingt es ihm, nicht den Halt zu verlieren, nicht hinabzustürzen in die Tiefe, die ja nach allen Seiten droht. Was ist das für eine Tiefe? Und wer hält ihn jetzt dort oben?

Denn Paulus war ja zu Boden gestürzt! In der Apostelgeschichte bekommt er zu hören: „Steh auf und geh in die Stadt. Da wird man dir sagen, was du tun sollst.“

Mir scheint, es ist dieser Moment, als Jesus ihm begegnet vor Damaskus, als sich alles für Paulus ändert, welcher in den Dom eingetragen ist. Als sein Leben, so wie es bisher war, all seinen Halt verliert. Als alles für ihn ins Wanken gerät und er drei Tage lang nicht weiß, wie es weitergehen soll.

Ein erstaunliches Denkmal. Aufrecht und fragil zugleich. Die Augen zum Himmel. Aber als er die Augen aufschlug, sah er nichts, heißt es in der Apostelgeschichte. Drei Tage lang.

So steht er seither in unserem Dom. Umspielt von den Klängen der Orgel. Den vollen Tönen, die man bis nach draußen hört und den leisen, für die man ganz besonders hinhören muss. Umspielt vom Leben. Von all seinen Fragen. Die Augen sehen nichts. Im Hören sucht Paulus.

Und es ist, als wäre das Echo der Begegnung von damals hier im Raum. Die Frage: „Herr, wer bist du?“ Und die Antwort Jesu: steh auf und geh in die Stadt.

Vieles ist besonders in unserem Dom, der ältesten und größten Simultankirche Deutschlands. Die evangelische und die katholische Gemeinde teilen sich das Gotteshaus seit 500 Jahren. Ein hüfthohes Gitter trennt den einen Teil vom anderen. Es gibt zwei Öffnungen, durch die man hindurchgehen kann. Die Türen im Gitter stehen immer offen. Heute ist es ein gutes Miteinander der beiden Gemeinden und der Dom ist längst ein Zeichen für die Vielfalt des Glaubens und der Menschen in unserer Stadt. Wer in die Geschichte schaut, weiß aber, dass das nicht immer so war. Über die Jahrhunderte haben sich die beiden Konfessionen hier im Dom misstrauisch beäugt und mit sich selbst beschäftigt.

Dass der Glauben an den einen Gott trennen kann - auch das ist in seinen Mauern eingetragen. Das erhobene Schwert der selbstgewissen Antworten. Das Beharren auf dem eigenen Standpunkt. Der Versuch, die Augen zu verschließen vor den anderen. Über Jahrhunderte war das Gitter bis zu vier Meter hoch. Zeitweise war es sogar mit Teppichen verhängt. Als 1909 die Eule-Orgel errichtet wurde, kamen nur Klänge von hier nach dort. Erst ein halbes Jahrhundert später wurde das Gitter auf seine jetzige Höhe abgesägt und eine Tür eingebaut.

Über all dem steht Paulus da. Hoch über dem Leben und es scheint, als könne ihn niemand und nichts von seinem Standpunkt fortbewegen. Ein Ausrufezeichen des Glaubens. Eine einzige große Antwort. So klar und unüberhörbar, wie eine Orgel, die aus allen Registern spielt. Und die man bis nach draußen hört.

Aber es ist der Moment, als Paulus nichts mehr sehen konnte, als alle Gewissheiten mit ihm zu Boden gestürzt sind, der über uns hier im Dom steht. Ein Standpunkt, der alles andere ist, nur nicht fest. Die Augen, zum Himmel gerichtet, aber gerade jetzt unfähig zu sehen. Keine Antwort. Sondern eine einzige Frage: „Herr, wer bist du?“ Eine Frage, die Schutz braucht. Und Halt. Die Frage des Glaubens, schlechthin.

Eine Orgel, die aus vollen Registern spielt, habe ich oft gehört. An unserer Orgel faszinieren mich die leisen Töne. Nie hätte ich gedacht, dass ein so großes Instrument so wundervoll zart klingen kann. Ich muss mich konzentrieren, will ich sie vernehmen und muss genau hinhören. Als Paulus vor Damaskus steht, nur für sich, als er nur noch fragen kann: „Herr wer bist du?“, ist das eine leise Frage. Wer bist du für mich? Wer bist du in meinem Leben? Und so, wie er jetzt in unserem Dom steht, stelle ich mir vor, sind die leisen Töne der Orgel das Echo seiner Frage.

Die Frage, wer Gott ist in unserem Leben, verbindet uns als Glaubende, als Suchende, nicht nur hier im Dom. Aber hier im Dom ist sie eingetragen in der Figur des Paulus, der nicht mehr anders konnte als zu fragen. Dann, drei Tage später konnte er wieder sehen. Neu sehen.

Was damals noch geschehen ist vor Damaskus, dazu schweigt die Apostelgeschichte. Die Antwort, die sich Paulus vielleicht erhofft hat auf seine Frage nach Gott, erhält er nicht.

Was er hört, ist dies: „Steh auf und geh in die Stadt. Da wird man dir sagen, was du tun sollst.“

Deshalb sind für mich die Türen, die sich öffnen am Ende eines Gottesdienstes hinaus in die Stadt oder das Dorf noch immer Teil des Gottesdienstes. Vielleicht sogar der Teil auf den alles hinausläuft.

Amen

Ohren gabst du mir, hören kann ich nicht

Das soll unser nächstes Lied sein. Es steht im Evangelischen Gesangbuch unter der Nummer 236.

 

Amen

 

Es gilt das gesprochene Wort.

10.05.2023
Pfarrer Christian Tiede