Himmel, Erde, Luft und Meer

Ordenskirche Bayreuth

Himmel, Erde, Luft und Meer
Live-Übertragung aus der Ordenskirche St. Georgen, Bayreuth
30.07.2023 - 10:05
10.05.2023
Pfarrerin Angela Hager
Über die Sendung:

Wie können wir noch Loblieder singen in Zeiten, in denen so viel in der Welt aus dem Gleichgewicht geraten ist und wir uns sorgen um „Himmel, Erde, Luft und Meer“? Im Gottesdienst aus der Ordenskirche St. Georgen in Bayreuth rückt neben dieser Frage das Staunen über die Schöpfung und das Miteinander der Geschöpfe ins Zentrum. Pfarrerin Dr. Angela Hager und Kirchenmusikdirektor Michael Lippert meditieren im Wechselspiel von Wort und Musik den Choral „Himmel, Erde, Luft und Meer“ aus dem 17. Jahrhundert.
Neben Klangimprovisationen und Gemeindeliedern erklingt unter anderem ein Kyrie aus der „Messe des Kosmos“, die im Juni beim Deutschen Evangelischen Kirchentag uraufgeführt wurde. Unter der musikalischen Gesamtleitung von Michael Lippert gestalten den Gottesdienst die Solisten Robert Vandré und Bernd Rothammel, ein Vokalensemble der Hochschule für evangelische Kirchenmusik Bayreuth unter der Leitung von Magdalena Simon sowie Professor Lucas Pohle an der Orgel.
Biblische und andere Lesungen trägt Dr. Jürgen Raithel vor.

Gottesdienst nachhören:
Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage! 
 
Predigt zum Nachlesen:

Ein Sommernachmittag vor gut vier Jahrzehnten:
Ich sitze am Schwimmbecken im Garten bei einem Kindergartenfreund, vier, fünf Jahre alt bin ich damals. Vor mir im Wasser zappelt eine Fliege, die Flügel kleben eng am Körper, die Beinchen strampeln. Die anderen Kinder toben hinten bei den Bäumen. Ich strecke vorsichtig meine Hand ins Wasser. Ein Rettungsboot, komm, wir schaffen das. Behutsam hebe ich die kleine Fracht in die Luft. Wir haben Zeit. Allmählich löst sich der schwarze Klumpen, der erschöpfte Fliegen-Körper scheint nicht fassen zu können, was geschieht – zurück im Leben.
Er zittert leicht, schüttelt sich, entfaltet einen Flügel, dann den anderen, erste tastende Schritte über meine Kinderhand. Wie gebannt schaue ich zu, bis er – oder sie – davonfliegt. Ich habe ein Leben gerettet. 
Dann fällt mein Blick erneut ins Becken: Da zappelt noch eins. Und noch eins. Ich kann sie nicht alle herausholen. Die anderen Kinder werden ungeduldig, neugierig: Wo bleibst du? Was machst du da? Gutmütiger Spott, als sie entdecken, womit ich beschäftigt bin: Fliegen retten? Im Ernst? Mein Stolz verfliegt. Ich schüttle das Wasser von der Hand und renne schnell hinter den anderen her, weg vom Becken, hin zu den Bäumen.    

Dieser Nachmittag hat sich mir eingeprägt. Es war das erste Mal, dass ich gesehen habe, wie jemand – und sei er noch so klein – um sein Leben kämpft. Ich bin so glücklich gewesen, als das Insekt seinen ersten Flug gewagt hat nach der Rettung – und dann ist dieses Glücksgefühl einer Verunsicherung und Ernüchterung gewichen: Sisyphus am Schwimmbecken.

Ich habe schnell gelernt:
Dass man nicht alles und jeden retten kann,und manche Bemühungen uferlos sind.
Dass Tiere unterteilt werden in Haustiere, Nutztiere und Insekten - und unterschiedlich behandelt werden. Ich konnte bald unterscheiden, welche Pflanzen zu den Kräutern und welche zu den Un-Kräutern zählen, und dass gefördert wird, was dem Menschen nutzt, was ihn ernährt.
Kurz: Ich habe gelernt, was nicht zuletzt die biblische Überlieferung, der Auftrag „macht Euch die Erde untertan“ über Jahrhunderte in unserer Kultur begründet hat.

Die Erinnerung an die Szene am Schwimmbecken aber ist mir als ein Stachel, eine Anfrage geblieben an unsere so selbstverständlichen Einteilungen. Nur ein kleines Tier? Oder: „Leben inmitten von Leben, das leben will“ wie der Theologe Albert Schweitzer sagt.
Nur ein Insekt? Oder: ein Klang in einem „sehr schönen Lied, das dahinfließt gemäß äußerst schöner Harmonien“.
Ein Mystiker beschreibt so das Zusammenspiel der Geschöpfe: als eine einzigartige Sinfonie des Lebens. Akkord für Akkord: das Rauschen des Meeres, der Wind in den Weiden. Note für Note: das Lied der Amsel, das Hummelgebrumm. Pianissimo: der Flügelschlag der Fliege, ihr leichtes Zittern. Hier die Menschen, dort die Natur und ihre Gewalten? Oder: Bruder Wind, Bruder Feuer und Schwester Wasser.

 

II

Himmel, Erde, Luft und Meer.
Es ist im Jahr 1680, als Joachim Neander diese Verse veröffentlicht. Noch im selben Jahr stirbt er nach kurzer schwerer Krankheit im Alter von dreißig Jahren. 
Joachim Neander: ein begnadeter Dichter und Komponist, ein reformierter Theologe mit Ecken und Kanten, der nie Pfarrer wird. Ohne Frau, ohne Kinder, ein besonderer, auch sonderbarer Mensch. Geboren wird er kurz nach Ende des Dreißigjährigen Krieges. Nichts ist sicher in dieser Zeit, im Leben nicht und auch nicht im Glauben.
Die Reformation ist noch nicht lange her. Die jungen Konfessionen üben sich in Abgrenzung, definieren, was richtig ist und was nicht, es ist das Zeitalter der Orthodoxie. Neander ist mittendrin.
Dann aber, durch eine Predigt erschüttert, fängt er Feuer für eine neue Glaubensbewegung, den Pietismus. Auf einmal wird ganz anderes wichtig für ihn: Wer ist Gott für mich, ganz persönlich? Wo finde ich ihn?
Misstrauisch beäugt von der Amtskirche kommen Neander und andere in kleinen Zirkeln zusammen, beten, tauschen sich aus, singen die Lieder, die Neander dichtet.

Joachim Neander – ein Mensch auf der Suche: Nach sich selbst. Nach Gemeinschaft. Nach Gott.
Wo er fündig wird, immer wieder: In einem Gebirgstal in der Nähe von Düsseldorf, es wird später sogar nach ihm benannt: das Neandertal, das lange nach ihm durch die dort gefundenen Knochen eines Urzeitmenschen Geschichte schreibt.
Zu Neanders Zeiten liegt ein wild-romantischer Zauber über dem Tal: Hohe Felsen, die eine tiefe Schlucht bilden. Grotten, Klüfte, Wasserfälle und ein reißender Waldstrom. Höhlen, geformt von der Natur im Laufe von Millionen von Jahren. Neander bedichtet, was er sieht, er erfindet heilige Spiele mit der Natur, schreibt Echolieder, in denen er mit dem Widerhall der Berge ins Zwiegespräch tritt. Hier, inmitten von schroffem Gestein und sattem Grün, scheint Neanders Sehnen zum Ziel zu kommen.

Himmel, Erde, Luft und Meer: Ist diese Welt nicht wunderschön?
So schön, dass es schon fast wieder weh tut. Ach, mein Gott, wie wunderbar, stellst du dich der Seele dar: Für mich schwingt da auch Schmerz mit: Schmerz über die Vergänglichkeit des Lebens. Abschiedsschmerz. Als ob Neander ahnt, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt auf dieser Erde. Als ob er vorhersieht, dass die verwunschenen Höhlen seines Tales im Zuge der Industrialisierung rücksichtslos abgebaut werden, um daraus Zement und Steine herzustellen. Verlorenes Paradies.

Wie sorgsam der Dichter die Natur beschrieben hat! Begeistert, werbend. Seine Verse klingen, als wolle er die Geschöpfe Gottes zum Tanz auffordern: zu einem heiteren Tanz miteinander und mit ihrem Schöpfer. Heute scheint daraus ein Totentanz geworden zu sein, in den der Mensch die Schöpfung zwingt. Unerbittlich. Unbarmherzig.

Drücke stets in meinen Sinn, was du bist und was ich bin.

Mit diesem Satz endet das Lied.
Was du bist, Gott: Der, der am Anfang und am Ende der Zeit steht. Größer, als wir denken können. Oft auch unbegreiflich: Joachim Neander wäre gerne noch geblieben auf dieser Welt. Ein Freund, der ihn im Sterben begleitet, berichtet von seinem Hadern mit dem
drohenden Tod. Und doch sollen seine letzten Worte gewesen sein:
Berge sollen weichen und Hügel hinfallen,
aber meine Gnade will ich nicht von dir nehmen.
Ein Versprechen, uns allen ins Herz geschrieben.   

Was bin ich, was sind wir?
Die Antwort des Evangeliums für diesen Sonntag:
Licht der Welt. Salz der Erde.
Es steckt ein grenzenloses Vertrauen in diesen Worten: Ihr könnt es: Leuchten. In Gottes Sinn auf dieser Erde leben, so, wie es die Geschichten unseres Glaubens erzählen. Ich lese sie vor allem als eine zärtliche Verlockung zum Leben – zu einem Leben, das im Einklang steht mit der Schöpfung. Zu lange waren vor allem die Überlieferungen zu hören, die aus einer Zeit stammen, in der das Zähmen der Natur notwendig war zum Überleben.
Die Worte „macht euch die Erde untertan“ haben eine verhängnisvolle Geschichte. Mehr denn je brauchen wir andere Worte, Worte, die uns ins Staunen ziehen über das Wunder Leben. 

Es ist höchste Zeit: Der Abbau der Höhlen, in die Joachim Neander sich einst zurückgezogen hatte, steht symbolisch für unzählige Orte, die zerstört wurden, um sie für den Menschen nutzbar zu machen. Die Natur wird immer weiter zurückgedrängt, fast die Hälfte der Siedlungs- und Verkehrsflächen in Deutschland sind bebaut, betoniert, asphaltiert oder anderweitig versiegelt.

Ich denke an das Kind am Schwimmbecken, wie es den Finger ausstreckt, um eine Fliege zu retten. Vier Jahrzehnte später hat die Menge der geflügelten Insekten in Deutschland um zwei Drittel abgenommen. Wer hat ihnen die Hand ausgestreckt? 
Es ist, als würden wir nach und nach die Details aus dem Wimmelbuch des Lebens ausradieren.
Und hinter den vielen kleinen Verlusten stehen die großen erschreckenden Veränderungen.
Es geht um die Zukunft unserer Erde.
Es gibt diesen Spruch: „Wenn du ein Schiff bauen willst, beginne nicht damit, Holz zusammenzusuchen, Bretter zu schneiden und die Arbeit zu verteilen, sondern erwecke in den Herzen der Menschen die Sehnsucht nach dem großen und schönen Meer.“

Es braucht nicht zuerst ein Regelwerk, um die Erde zu bewahren, sondern: die Sehnsucht nach einem Miteinander in diesem bunten Garten. Die Liebe zur Schöpfung lässt sich nicht verordnen, ich kann nur versuchen, sie wachzuhalten, immer wieder:  Ich stehe früh auf und schaue zu, wie das Morgenrot aufzieht, berückend schön. Ich suche an einem heißen Sommertag dankbar den Schatten des Waldes auf. Ich bleibe stehen und bewundere den schillernden Käfer am Wegesrand. Es braucht die Verbundenheit, um den Schrei der geschundenen Kreatur zu hören,um den Schmerz zu spüren, der mit dem Verlust verbunden ist. Was ich liebe, zerstöre ich nicht. Was ich schützen will, bringt mich ins Handeln. Wir können dabei voneinander lernen, alte und junge Menschen. Und nicht zuletzt lerne ich auch von dem Kind, das ich einmal war: von seiner Gabe, hinzusehen und sich anrühren zu lassen vom Leben. Bedingungslos.

Ob wir es schaffen: die Erde bewahren, ihre Vielfalt, ihre Schönheit? Ich hoffe es so. Ich weiß es nicht. Und Gott hat nicht gesagt, dass er die Antwort ist auf solche Fragen. Aber: Er ist der Weg. 
Und auf diesen Weg schickt er uns mit einem klaren Auftrag und großem Vertrauen: Geht – in meinem Namen, in meinem Sinn. Leuchtet! Füreinander. Für alles, was lebt.
Er weicht nicht von uns, Gott, voller Leidenschaft für das Leben:
für das fünfjährige Mädchen und den sterbenden Dichter,
für die Felsenklüfte und die Quecke am Wegesrand
für den wilden Sturm und das sanfte Rauschen,
für Himmel, Erde, Luft und Meer. Für uns alle.

Amen

 

Es gilt das gesprochene Wort.

10.05.2023
Pfarrerin Angela Hager