Was ist heute geboten?

Luisenkirche in Berlin-Charlottenburg

Foto: Kirchengemeinde der Luisenkirche in Berlin-Charlottenburg

Was ist heute geboten?
Live-Übertragung aus der Luisenkirche in Berlin Charlottenburg
08.10.2023 - 10:05
10.05.2023
Pfarrerin Anne Hensel
Über die Sendung:

 

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Predigt zum Nachlesen:
I

Wo soll es langgehen? fragen sich viele von uns und ich gehöre dazu.

Meister, was soll ich tun, dass ich Leben finde? Leben, das Bestand hat, Zukunft hat, zum ewigen Leben wird?

fragt der reiche Jüngling Jesus.

Liebe Predigthörende, auf der Suche nach gelingendem Leben, nach Sinn, und nach Ruhe - nach der Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein (denn das lässt ruhig sein) - …das sind wir wohl fast alle. Eine Lebensaufgabe ist diese Suche, sie ist lebenslänglich.

Was hilft, mich zu orientieren? Welche Wegweiser gibt es? Wohin weisen sie? Was ist geboten? „Was unserem Leben eine Richtung gibt“ – ist eins der vier vorgeschlagenen Themen für die Sendereihe Denkfabrik 2024 hier im Deutschlandfunk und es geht dabei um diese Frage:

Was gibt uns Halt, und was macht das mit unserer Gesellschaft, wenn alle ihr eigenes Paradies suchen?

Solche Fragen haben sich Menschen schon immer gestellt, das ist nichts Neues. Nur dass die Anzahl der Wegweiser und die Anzahl der Richtungen, auch die Anzahl der Orientierungshilfen extrem gestiegen und unübersichtlich geworden ist. Nichts ist mehr selbstverständlich oder vorgegeben oder einfach schlicht geboten… Nicht leicht, das Leben in der Vielfalt der Möglichkeiten eigenverantwortlich zu gestalten.

Und die Bedingungen dafür sind nicht einfacher geworden. Denn das Klima ist in der Krise, nicht nur buchstäblich. Das gesellschaftliche Klima ist sozusagen ein Reizklima: viele sind völlig überreizt und reizempfindlich zugleich. Auch das verunsichert. Und die anderen, die wirtschaftlichen und technischen Parameter? Nicht mehr verlässlich. Außer Kontrolle geraten. Klimakrise an allen Orten! Gegenwind von beträchtlicher Stärke bläst (mir) ins Gesicht. Niederschläge gibt es in verschiedener Form, viele sind niedergeschlagen. Ich werde überflutet von Informationswellen und Eindrücken. Was ist richtig und was falsch? Wo geht es lang? Viele fühlen sich im Regen stehengelassen. Es hagelt Kritik, an allem und jedem. Ein Funke genügt zur Übersprungshandlung, um einen Flächenbrand auszulösen…

Lustig in die Welt hinein gegen Wind und Wetter! – wie wir es in Schuberts Winterreise gehört haben – das stammt wohl aus einer anderen, fernen Zeit, sollte wohl ermutigend sein.

Aber… Haben wir diesen lustigen Mut? Sind solche Zeiten nicht vorbei? In einem aber ist dieses Schubertlied topaktuell: Mit der Frage und Aufforderung: Sind wir selber Götter!? Denn nahezu alles scheint ja heute an uns selber zu liegen. Wir müssen etwas tun, um Krisen und Herausforderungen zu meistern. Und sehen doch ständig, dass es nicht reicht. Und oft sind wir auch überfordert. Und manchmal auch verzweifelt und zunehmend hoffnungslos.

Wie in einem Nebel: Die Aussicht, die Perspektive ist begrenzt. Da sind Wegweiser schlecht zu erkennen. Was ist geboten?

 

II

Was ist geboten? Wo geht es lang? Jeder und jede von uns muss seinen eigenen Weg finden. Die vorhandenen Wegweiser und Leitplanken sind da schon ganz hilfreich… So weiß es ja auch der junge Mann, der Jesus aufsucht. Er fragt nach dem, was er tun soll, und kann beflissen antworten, dass er die Gebote, die Weisungen, einhält. Er kennt sie also. Und lebt danach. Pflichtbewusst und strebsam. Er scheint aber zu ahnen, dass das noch nicht ausreicht. Deshalb fragt er weiter: Meister, was soll ich tun, dass ich Leben finde?

Er will eine persönliche Antwort: Was ist mir geboten? Was muss ich tun?

Und Jesus eröffnet ihm das Gebot der Stunde. Oder vielmehr: sein persönliches Gebot. Was dir geboten ist, du direktes, du persönliches Gegenüber, der du mich fragst - Ich sage es dir, aber es wird dir wehtun.

Will Jesus in der Wunde bohren? Zeigen: da bist du noch nicht perfekt, das ist deine Schwäche? Da musst Du noch mehr erreichen?

Nein. Jesus blickt ihn an, den jungen Mann, und es steht da der zentrale Satz, auf den es ankommt: Es heißt: er gewann ihn lieb.

Weil Jesus diesen Menschen auf der Suche liebt, möchte er sein Vertrauen. Möchte ihm helfen, seinen Weg zu finden. Möchte ihn befreien. Er sagt ihm, was ihm im Weg steht. Weil er sein Herz daran gehängt hat.

Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott, sagt Martin Luther.

Deshalb fordert Jesus den jungen Mann auf: Verschenke alles, was du hast, dann kannst du mir nachfolgen. Und er meint damit: Lass los, was dich festhält: Dein Sicherheitsbedürfnis, deinen Geltungsdrang, deinen Machtanspruch. Mach dich leicht. Erleichtere dich.

Und er, der Jüngling? Geht traurig von dannen.

 

III

Was ist jetzt geboten? Die Frage steht da mitten in der Wüste. Die Israeliten mit Mose an der Spitze sind einigem entkommen. Was haben sie alles hinter sich gelassen! Sklavenarbeit, prekäre Lebensverhältnisse, Unterdrückung, Flucht.

Und was passiert jetzt? Großes Kino: Die Einsetzung der Zehn Gebote passiert inmitten erschreckender Wetterereignisse auf dem Berg Sinai, im Donnergrollen. Und unter den Menschen: brechen Kontroversen und Streitigkeiten aus, es gibt Unzufriedenheit und Unsicherheit und eine rückwärtsgewandte Sehnsucht nach dem Motto: Früher war alles besser. (Die Fleischtöpfe Ägyptens…) Ziemlich viel Gegenwind, schlechtes Klima. Die Israeliten in der Wüste - sie brauchen Wegweiser, Leitplanken, Orientierungshilfen. Sie müssen lernen, in der neuen Freiheit zu leben. Sie brauchen Regeln für ihr Miteinander, Regeln zum Schutz und zur Klärung. Was also ist geboten? Und was bietet Gott an?

Überraschend: Er beginnt mit einer Liebeserklärung, genauso wie Jesus.

Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Sklavenhaus geführt hat. DEIN GOTT.

Ich habe dich befreit aus allem, was dich gefangen gehalten, geknechtet, versklavt hat. Weil ich dich liebe, und weil du einzigartig für mich bist. Deshalb: begib dich nicht in andere Abhängigkeiten, in andere Gefangenschaften. Du musst nicht selbst Gott sein wollen. Du musst auch niemand anders zum Gott machen, vor nichts und niemand auf die Knie fallen oder dich unterdrücken lassen. Niemandem musst du Macht oder Herr-Schaft über dich einräumen.

Ich bin der Herr, dein Gott.

Wenn du das akzeptierst, dann bist du wirklich frei.

Die Zehn Gebote sind im Hebräischen großartig formuliert, weil sie verschiedene Möglichkeiten der Übersetzung offen lassen. Uns ist Luthers dominantes „Du sollst nicht“ im Ohr. Aber es kann auch ganz anders heißen:

Du wirst nicht… Du musst nicht… Du kannst nicht… Tu es nicht… Du brauchst nicht…

Und ursprünglich heißt es auch gar nicht Gebote oder Gesetze oder Weisungen. Zehn Worte (hebräisch debarim) heißt es einfach. Das kann auch „Sachen“ oder „Angelegenheiten“ oder „Betreffendes“ heißen. Debarim werden nicht gesagt, sondern sie geschehen. Es sind Taten. Und es sind zehn: du kannst sie also leicht an deinen Fingern abzählen, diese Angelegenheiten, diese Wegweiser, diese Richtungsanzeiger.

So kannst du sie dir auch leicht merken.

Du wirst nicht! Du brauchst nicht mehr anderen und dir selbst das Leben schwer zu machen. Du brauchst nicht mehr zu lügen oder deinem Nächsten zu neiden, was er hat. Weil dich Gott befreit hat von dem, was dich fesselt, von dem, was dich festhält. Und auch von dem, was dich plagt.

Die zehn Plagen - welche waren das eigentlich bei dir? Die Israeliten werden sich noch gut erinnern an tierische Sticheleien und anderes Ungeziefer, an verseuchte Gewässer oder Hagel und Finsternis.

Der Rückblick lässt erschauern. Was haben sie alles hinter sich gelassen! Was ging dem Aufbruch voraus! Wie viel musste passieren, damit sie den Aufbruch wagten! Und: Wieviel Freiheit haben sie schon erlangt! Und nun sind sie noch auf dem Weg ins Neue, noch in der ortlosen Wüste, und brauchen dabei Orientierung, Hilfe, Wegweiser. Wir auch.

Ein unwiderstehliches Angebot macht Gott: Ich liebe dich und ich befreie dich. Entdecke, was dich fesselt und festhält und davon abhält, so zu leben, wie du es eigentlich kannst und willst. Lasse ich mich darauf ein? Was ist es? Bei mir, bei dir?

Diese Frage kann nur jeder für sich beantworten. Und Gott bietet an, dabei zu helfen.

Weil er dich liebt.

Der Friede Gottes, der höher und weiter ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne!

Amen

 

Es gilt das gesprochene Wort.

10.05.2023
Pfarrerin Anne Hensel