Kraft des Gebets

Johanneskirche Essen-Bergerhausen

Kraft des Gebets
Live-Übertragung aus der Johanneskirche, Essen-Bergerhausen
14.05.2023 - 10:05
03.01.2023
Superintendentin Marion Greve
Über die Sendung:

Im Gottesdienst aus der Johanneskirche geht es um die Kraft des Gebets. Der fünfte Sonntag nach Ostern lenkt den Blick auf das Gebet und trägt deshalb den Namen „Rogate“ (lat. für „Bittet!“ oder „Betet!“). Zwei Gedanken seien ihr dabei besonders wichtig, erklärt die Essener Superintendentin Marion Greve: „Zum einen ist Beten Protest. Wer betet, gibt angesichts des Unrechts nicht auf, sondern benennt es und bringt seine Forderung nach Gerechtigkeit vor Gott. Insofern ist ein Gebet nie umsonst und hilft gegen Resignation“, sagt die leitende Repräsentantin der Evangelischen Kirche in Essen. „Mein zweiter Gedanke: Wenn ich für andere Menschen bete, stellt mich das in einen größeren Zusammenhang, in eine Gemeinschaft hinein. Ich baue eine Beziehung auf, übernehme Verantwortung für andere und begegne ihnen mit Empathie. Beten verhindert Egoismus.“

Für die Musik im Gottesdienst sorgt die „BE-Sound-Band“, die musikalische Leitung haben Lina Wittemeier und Stefan Glaser, der auch die Orgel spielt. Die Predigt hält die Essener Superintendentin Marion Greve.

Gottesdienst nachhören:

 

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Predigt zum Nachlesen:

I

Heute, am Sonntag „Rogate“, steht im Kirchenjahr das Beten im Mittelpunkt. Kalotta, Luisa und Till haben uns eben von ihren Erfahrungen erzählt. Von ihren Fragen und Unsicherheiten ebenso wie von der Stärkung durch ein Gebet. Mal laut, mal leise klang dabei für mich die eine Frage durch: Bringt es etwas, wenn ich bete?
Dieser Frage will ich weiter nachgehen, ohne Denkverbote – und auch die Zweifel ernst nehmen, ob Beten eigentlich irgendetwas bewirkt. Am besten fangen wir bei uns selbst an. Nehmen Sie sich einen Moment und überlegen Sie, liebe  Hörerin, lieber Hörer, ob Sie einen Draht zum Beten haben: sei es das persönliche individuelle Beten oder das gemeinsame Beten mit anderen...

Nach einer aktuellen Umfrage, dem „Religionsmonitor“ der Bertelsmann Stiftung, sieht es so aus, dass das Gebet, trotz aller Fragen weiter hoch im Kurs steht! Mag sein, in ganz Deutschland gehören nur noch knapp die Hälfte der Menschen einer Kirche an, dennoch: 57 % der Deutschen beten nach wie vor, 17% davon täglich. Die Corona-Pandemie hat wohl dazu geführt, dass viele Menschen das Gebet neu - oder wieder - für sich entdeckt haben. Auch das zeigt die Studie.

Dieser Spur will ich nachgehen – der Spur des Betens. Und dabei eintauchen in die wunderbare Sammlung der Psalmen, eine Sammlung von 150 hebräischen Liedern und Gebeten, die vor etwa 3000 Jahren entstanden sind. Wenn wir heute Psalmen beten, wie eben gemeinsam den Psalm 43, leihen wir uns die alten Gebetsworte Israels. Wir sprechen Israels Gebete mit. Vielleicht lässt sich so lernen, was es mit dem Gebet auf sich hat – von denen, die es als Kraftquelle erlebt haben. Und wenn wir diese alten Worte mitbeten, setzen wir unsere je eigenen Namen ein: wenn wir klagen – danken – bitten oder loben.
Eine Entdeckung ist:  In den meisten Gebeten geht es um eine ähnliche Grunddynamik. Da betet eine: „So ist es! Und so soll es sein! Das und das soll geändert werden.“ (Sölle/Steffensky, Nicht nur Ja und Amen,53). So ist es – ruft die Beterin in Psalm 43 laut heraus. Ich stelle mir eine Frau vor: „verstoßen hast du mich, Gott -- Feinde bedrängen mich.“
Echte Seelennot ist da zu spüren, tiefe Verzweiflung.
Die Beterin hält die eigene Verzweiflung nicht bei sich, schluckt den Schmerz nicht einfach runter, sondern ruft ihn nach draußen – nicht einfach ins Nirwana, sondern zu Gott hin. Sie sucht Gott, spricht mit ihm - und dabei gleichzeitig mit sich selbst, mit ihrer eigenen Seele. Ihren eigenen Gefühlen. Sie ist hin und hergerissen: stehst du, Gott, wirklich auf meiner Seite? Sie betet:

„Schaffe mir Recht, Gott!
Warum hast du mich verstoßen?
Warum muss ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich dränget?
Was betrübst du dich, meine Seele,*
und bist so unruhig in mir?“

Das Gespräch mit Gott und mit mir selbst, der eigenen Seele – das kenne ich auch aus unseren Tagen.
Ich denke an die Friedensgebete, an denen wir an vielen Orten festhalten - seit Putins Überfall auf die Ukraine im Februar 2022. Bei den Friedensgebeten im Essener Dom habe ich vier geflüchtete Frauen aus der Ukraine kennengelernt – die mir von ihrem Schmerz und ihren Erfahrungen mit dem grausamen Krieg erzählt haben.
Alle vier sind Mütter, die mit ihren Kindern zu uns nach Essen geflohen sind.
In der Begegnung mit ihnen wurde mir klarer denn je, wie zerbrechlich und gefährdet unser Leben ist. Sie sind mitten aus ihrem Leben in der Ukraine gerissen worden – sie haben gelebt, geliebt, gelacht, geweint, gearbeitet als Lehrerin oder Bankangestellte – und plötzlich mit dem frühen Morgen des 24. Februars, ist alles anders.
Wir haben uns hier getroffen, lange geredet – und gesucht nach dem, was uns hilft, wenn wir uns Sorgen machen. Bei allen konfessionellen Unterschieden sind wir uns einig: was uns hilft, ist das Beten – allein und mit anderen. Es schafft Ruhe für die unruhige Seele. Weil wir gemeinsam hoffen, es gibt einen, der größer und weiser ist als wir es sind. Weil wir hoffen: es gibt einen, der den Frieden für alle im Blick hält. Und weil wir spüren, dass es leichter ist, gemeinsam mit anderen an dieser Hoffnung festzuhalten.

Also: Bringt das was, so ein Friedensgebet?
Ich denke zurück an die Friedensgebete in der Nikolaikirche in Leipzig 1989, und die Erfahrung der Regierenden damals: „Wir waren auf alles vorbereitet, aber nicht auf Kerzen und Gebete.“ Niemand kann wissen, wohin Gebete führen. Aber wir alle rechnen damit, dass unsere Gebete gehört werden. Und genau das gibt uns Kraft gegen Resignation und kann Unglaubliches bewirken.

 

II

Noch einmal zurück zum Anfang. Fast jeder Psalm beginnt mit einem „So ist es!“ Beten beginnt mit der Anrede Gottes und den Erfahrungen, die wir vor Gott bringen: Ich sage dir, Gott, was mich freut oder was mein Leben schwer macht. Wofür ich dankbar bin oder worüber ich verzweifle. Beten beginnt, wo wir dafür eine Sprache finden. Und gerade mit Blick auf Klagegebete gilt:
Beten ist Revolte. Wer betet, sagt nicht: „So ist es und Amen. Er oder sie sagt: So ist es! Und so soll es sein! Und das und das soll geändert werden!“
Es ist die Theologin Dorothee Sölle, die die Power, die Kraft, die im Gebet steckt, so wunderbar auf den Punkt bringt. Und damit das Beten aus der staubigen Ecke der Vorurteile holt, nach dem Motto: Wer betet, zieht sich aus der Welt zurück.
Ganz anders hier: Beten als Revolte! Heißt doch: wenn ich bete, ziehe ich mich nicht raus aus der Verantwortung für das Leben – nein, wenn ich bete, bin ich mittendrin im Leben. Ich spüre die Lücke zwischen dem, wie es ist und wie es sein sollte. Und docke an die Hoffnung an. So wie die Beterin in unserem Psalm:

„Schaffe mir Recht, Gott … Sende dein Licht und deine Wahrheit, dass sie mich leiten und bringen zu deinem heiligen Berg und zu deiner Wohnung – dass ich dir, Gott, wieder danken kann.“
Die biblische Beterin träumt von der großen Wallfahrt auf dem heiligen Berg. Sie hofft auf ein großes lebendiges Fest im Jerusalemer Tempel. Sie ist noch nicht da. Das Fest hat noch nicht begonnen. Aber sie sieht schon das Licht und den Weg dorthin.
Vor meinen Augen entstehen dabei Bilder von großartigen Festen.
Der Kindergeburtstag: übermütiges Lachen, Spielen, Toben, viel zu viel Schokolade - Leben im Hier und Jetzt.
Die Party in der Nachbarschaft, Musik auf volle Lautstärke, kein Ende finden - Beste Freundinnen!
Die Hochzeitsfeier: Tanzen bis zum Umfallen, Oma und Opa mittendrin, ein Hoch auf die Liebe!
Ich spüre die Kraft, die von solchen Festen ausgeht.
Ja - Beten ist auch Revolte. Wer betet, sagt nicht: „So ist es und Amen. Er sagt: So ist es! Und so soll es sein! Und das und das soll geändert werden!“

Die Beterin in Psalm 43 setzt auf Gott als ihren Verbündeten. Sie öffnet sich einer Welt, die nicht allein das Schwere sieht. Sie hält fest an ihrer Vision von Gerechtigkeit und Frieden. Wenn wir zu Gott beten, machen wir es genauso. Wir hoffen, dass da jemand ist, der größer und weiser ist als wir es sind.
Ob unser Friedensgebet im Essener Dom ein Jahr nach Kriegsbeginn etwas bringt und nützt? Oder die vielen öffentlichen Friedensmahnwachen auf den Plätzen unserer Städte?

Vielleicht bewirkt es nur, dass jemand vorbeigeht und abends zu Hause erzählt, er habe Menschen gesehen, die für den Frieden beten. Und dann kommt er beim Abendessen zu Hause ins Gespräch über Gewalt und Gerechtigkeit. Ob es was nützt? Keine Frage, denn mit diesem Gebet wird sowohl der Schmerz an der unperfekten Welt als auch der Protest wachgehalten. Das Gebet macht, dass wir Gottes Verheißung auf Frieden zu spüren bekommen, „dass Friede und Gerechtigkeit sich küssen“ - dass wir einander zu spüren bekommen - und dass wir uns selbst spüren. Beten ist in diesem Sinn eine aufrichtige Beziehung zu Gott und die Bereitschaft, zu empfangen.

 

III

Es sind die Fürbittengebete, die in diesen Tagen für mich besonders leuchten. Gebete, mit denen ich nicht nur eine Verbindung mit Gott suche, sondern mit denen ich mich auch mit anderen verbinde: mit den Pfleger:innen und Ärzt:innen im Corona Lock down – mit den Überlebenden in den Kriegen dieser Welt – mit den Opfern von Gewalt und Terror – mit Kindern und Alten – mit gesunden und kranken Menschen. Die Fürbitte stellt uns alle in eine Gemeinschaft miteinander und mit Gott – das große Wort „Solidarität“ wird plötzlich konkret und erlebbar. Wir können stellvertretend für jemand anders beten, auch und gerade dann, wenn der es selbst nicht mehr kann.
Dabei bin ich sicher, dass diese Fürbittengebete Folgen haben. Für den Betenden selbst, der sich mit dem Gebet eine kleine Aus-Zeit nimmt und sich daran erinnert: Ich verdanke mein Leben nicht nur mir selbst, sondern Gott. Für die Gesellschaft als Ganze: da denkt jemand an andere und begrenzt damit den Egoismus. Für die ganze Welt, denn die Energie, die tief aus dem Herzen des Betenden kommt, wird in die Welt hinausgetragen.
Unterschätzen wir nicht die Kraft des Gebetes!

Der Zen-Mönch Thich Nhat Hanh beschreibt das Wesen und die Wirkung des Betens aus einer buddhistischen Perspektive. Für ihn ist das Gebet die Keimzelle aller Spiritualität, unabhängig von einer bestimmten Religion. Es mobilisiert Kräfte, die uns heilen und wachsen lassen und die positiv nach außen wirken.
Er schreibt: wenn wir „unsere Großmutter, einer älteren Schwester oder einem jüngeren Bruder unsere Energie der Liebe zukommen lassen, dann bringen wir eine neue Energie hervor. Diese Energie öffnet augenblicklich unser Herz.“ (Thich Nath Hanh, Tief aus dem Herzen, 20) Und wir wecken unsere Achtsamkeit und unser Mitgefühl.

Führe ich diesen Gedanken weiter, ist allen Menschen das Gebet möglich, auch wenn sie nicht an Gott glauben.
Als ich vor vielen Jahren drei Monate durch Nepal reiste, faszinierten mich die großen Plätze mit ihren riesigen Freiluft-Buddha-Statuen, inmitten der turbulenten Städte. Dort thronte ein in meditativer Haltung sitzender Koloss – seit Jahrhunderten Wind und Wetter, Hitze und Kälte ausgesetzt. Ich sah Menschen kommen – und bleiben. Als ob sich die Stille und die Kraft des „Großen Buddha“ auf die Menschen übertrug. Trotz des Lärms außen vor dem Platz war hier kein Laut zu hören. Die Menschen schwiegen, gesammelt, ergriffen. Falteten die Hände, verneigten sich ehrfurchtsvoll. Und ich lernte: Beten ist keine Spezialität von Christinnen und Christen. Beten ist im Herzen eines jeden Menschen angelegt, damit wir die Sterne sehen und atmen können.

Zurück zu unserer Frage: Bringt das etwas mit dem Beten?
In der Bibel erzählen viele Geschichten davon, dass Menschen beten. Sie beten für das vollkommen Unmögliche – wie Paulus und Silas es tun. Bis ein Erdbeben folgt, die Gefängnismauern wanken und schließlich einstürzen, ohne dass jemand verletzt wird. Paulus und Silas kommen frei.
Klar, ein Wunder – aber eines, dass von der persönlichen Erfahrung getragen ist, dass unsere Gebete nicht folgenlos bleiben.
Jesus selbst hat uns gesagt: Bittet, so wird euch gegeben - er ist der Weg, der uns Christinnen und Christen mit Gott verbindet.
Wenn wir mal nicht wissen, wie wir beten sollen, dann haben wir ihn, Jesus, der uns ein Gebet gegeben hat, dass wir immer beten können: das Vaterunser. Ein Gebet aus biblischer Zeit, in das ich mich hineinfallen lassen kann. Nicht immer geht mir jedes Wort leicht über die Lippen. Aber ich kann mich in die poetische Sprache hineinfallen lassen, in die Tradition der Mütter und Väter. Jesu Gedanken und Gebete ruhen auf dem jüdischen Schatz des Glaubens – und damit auch auf dem Schatz der Psalmen, von denen wir heute Psalm 43 kennengelernt haben. Vielleicht wählen Sie auch einen anderen eigenen Psalm aus den 150 Psalmen aus. Ich erlebe in meinem Alltag, wie tröstlich am Kranken- oder Sterbebett die Gebete der Psalmen sind. Wenn es mir die Sprache verschlägt, dann leihe ich mir die Worte aus Psalm 23:

„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln… Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“
Eine betet, wenn sie traurig ist. Einer betet immer, wenn er Angst hat. Eine andere, wenn das Herz hüpft vor Freude und Glück.
Ob das Beten etwas bringt?
Probieren Sie es einfach aus. Da uns Rituale helfen: wählen Sie einen Zeitpunkt am Tag, vielleicht vor dem Schlafengehen. Mir selber hilft es, einen ruhigen Ort zu suchen. Tief ein- und auszuatmen. Auf meinen Herzschlag zu hören.
Wählen Sie einen Moment, der zu Ihrem Lebensrhythmus passt und sprechen Sie zu Gott: „So ist es, Gott… und so geht es mir jetzt. Das will ich dir anvertrauen. Und um das bitte ich dich, für mich – oder für andere.“ Machen Sie sich auf die Suche nach Ihrer Gebetsform und Ihrer Gebetszeit. Es ist wie mit der Meditation: auch Beten braucht Übung – haben Sie Geduld mit sich. Aber wagen Sie den Anfang, das erste Gebet – vielleicht heute Abend.
Ich bin mir sicher: Ihr Gebet wird nie vergeblich sein.

Amen

 

Es gilt das gesprochene Wort.

03.01.2023
Superintendentin Marion Greve