Vertrauen gewinnt

Lutherische Pfarrkirche St. Marien
Vertrauen gewinnt
Gottesdienst aus der Lutherischen Pfarrkirche St. Marien in Marburg
19.09.2021 - 10:05
Über die Sendung

Mitwirkende: 

PredigerIn

Pfarrerin Andrea Wöllenstein, Propst Helmut Wöllenstein

Musikalische Leitung

Jean Kleeb (Klavier und Chorleitung)

Orgel

Ka Young Lee

Chor

Joy of Life der Kurhessischen Kantorei Marburg (12 Personen)

Mitwirkende

SprecherInnen

Martin Mehl

 

 

Kathrin Pfeuffer-Rooschüz

 

 

Ulrike Paulus Jung

 

Trompete

Philipp Schütz

Homepage der Gemeinde

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Predigt zum Nachlesen
 

Propst Helmut Wöllenstein:

Liebe Zuhörerinnen und liebe Zuhörer, liebe Gemeinde

Die Fähigkeit, Urvertrauen zu entwickeln, bringen wir mit auf die Welt. Ein dickes Paket. Umsonst. Ausstattung für den Weg. Wir Christen sagen: Es ist uns von Gott gegeben. Du wirst geboren und du musst essen und trinken. Du kannst nicht anders, wenn du leben willst.
 

Du bekommst zu trinken. Es ist gut für dich, du spürst es. Es ist mehr als Nahrung: Zuwendung, Wärme, Nähe - vor allem Verlässlichkeit. Denn du bist absolut abhängig als Baby. Du bist stark, vital und attraktiv und doch völlig angewiesen. 

 

Das ist so an jedem Tag, wenn alles ganz normal läuft; und erst recht, wenn es schwierig wird: Du wachst auf aus einem schlimmen Traum. Du schreist. Vater oder Mutter kommen und nehmen dich in den Arm. Sie trösten dich und sagen: Alles ist gut. – Woher wissen sie das? Sie selbst zehren aus dem großen Paket. Du entwickelst dein Vertrauen in den ersten Jahren. Du kannst nicht anders. Auch wenn das nicht ohne Schmerzen abgeht. Du streichelst zum Beispiel deine Katze. Sie schnurrt. Doch ganz unverhofft faucht sie und kratzt.

 

Du lernst vorsichtig zu sein. „Bloß nicht in die Augen fassen“ hat die Mutter gesagt, dann kratzt sie dich. Du liebst deine Katze, sie kommt wieder und schnurrt. Diesmal passt du gut auf.  Du kannst das Streicheln noch mehr genießen. Du weißt jetzt: vorsichtig sein und vertrauen gehören zusammen.

Du lernst, es ist nicht selbstverständlich, dass alles gut geht. Es ist nicht egal wie du dich verhältst. Vertrauen ist zuerst ein Geschenk. Es ist dir gegeben und anderen auch. Du hast es, du brauchst es, du hast es aber nie allein. Es entsteht immer neu zwischen dir und den anderen. Du musst es pflegen, üben, bestätigen, ausprobieren. Du musst es wachsen lassen, ihm Raum geben. Wenn es verletzt wurde, musst du es heilen lassen und dich darum kümmern. Das geschenkte Vertrauen wird größer, wenn du es weiterschenkst.

 

 

Pfarrerin Andrea Wöllenstein:

Ohne Vertrauen geht gar nichts.
 

Ich fahre Auto und vertraue, dass die anderen wie ich die Regeln einhalten. Ich steige in den Fahrstuhl und vertraue dem TÜV, dass er Bremsen und Aufhängung richtig kontrolliert hat.
 

Wir vertrauen den Erzieherinnen in der Kita, den Lehrerinnen und Lehrern in der Schule. Wir vertrauen ihnen unser Wertvollstes an, unsere Kinder. Auch wenn sie es anders machen, als wir es machen würden - oder vielleicht gerade deshalb -ist es gut, Vertrauen zu haben.
 

„Sie brauchen jemand, dem Sie vertrauen“, sagt mir meine Ärztin, nachdem ich verschiedene Kollegen und Internetseiten um Rat gefragt habe. „Und dann müssen Sie das machen, was er oder sie sagt.“
Vertrauen ist in vielen Bereichen des Lebens nötig, damit die alltäglichen Abläufe funktionieren, damit Begegnungen gelingen.
 

Wunderbar, wenn in einer Familie Vertrauen ist. Es ist selbstverständlich und doch besonders.
Bei uns zu Hause war das so. Das Portemonnaie lag in der Schublade. Beim Einkaufen wurde das Geld nicht abgezählt. Wer etwas brauchte, konnte es nehmen. Der Autoschlüssel lag bereit. Nach dem Führerschein durften wir ihn nehmen und fahren, wohin wir wollten. Das Vertrauen unserer Eltern hat uns selbständig gemacht und auch in die Pflicht genommen.
 

Im Kreis der Menschen, mit denen ein Kind aufwächst, wird der Grund gelegt für Vertrauen. Vertrauen zu anderen Menschen, Vertrauen zu mir selbst, Vertrauen ins Leben. Vertrauen auf Gott.
 

Ver-trauen ist verwandt mit den englischen Worten „true /treu“ und: „tree/Baum.“ Etwas, das beständig ist und stark. Gut verwurzelt. Das aufrecht steht und nie aufhört zu wachsen. Kinder vertrauen den Eltern. Eltern vertrauen den Kindern. Trauen ihnen etwas zu. Vertrauen auf den Schatz, den Gott in sie gelegt hat. „Du kannst das! Trau dich, wir sind an deiner Seite. Wir stärken dir den Rücken.“ Erziehen bedeutet:  Kinder stark machen. Nicht an ihnen rumziehen, sondern sie in dem unterstützen, was sie können. Ihnen etwas zutrauen. Wie Gott uns etwas zutraut.

 

Propst Helmut Wöllenstein:

Gottvertrauen ist nicht selbstverständlich. In der christlichen Gemeinde macht sich Enttäuschung breit. Sie sind die erste Generation von Christinnen und Christen. Jesus ist der Messias, auf den das Volk Israel schon lange wartet. Daran glauben sie. Noch zu unseren Lebzeiten wird das Reich Gottes kommen. Darauf warten sie. So haben sie Jesus verstanden. Alles wird gut. Frieden und gerechte Verhältnisse, wie im Himmel. Gott macht das für uns, so dachten sie. Aber nun sind sie alt geworden und sterben - einer nach dem anderen. Eine ganze Generation geht. Und sie merken: Das Reich Gottes ist nicht da. Im Gegenteil. Es wird alles viel schwieriger. Sie werden für ihren Glauben benachteiligt und verfolgt. Gott hat nicht Wort gehalten. Oder haben sie ihn falsch verstanden? Beides ist schwierig: Wie kann man Gott vertrauen, wenn er sein Wort bricht? Wie kann man sich selbst vertrauen, wenn man Gottes Sachen falsch verstanden und sich darauf verlassen hat?
 

Viele würden am liebsten alles hinwerfen. Da schreibt ihnen jemand einen Brief. „Macht das nicht,“ schreibt er ihnen. „Werft euer Vertrauen nicht weg. Habt Geduld. Es lohnt sich!“ „An die Hebräer“ heißt dieser Brief in der Bibel. Der Vers, der heute Predigttext ist, steht im 10. Kapitel: „Werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat“ (Hebr. 10, 35)

 

 

Pfarrerin Andrea Wöllenstein:

Glauben und Vertrauen – in der Bibel gehört das ganz eng zusammen. Im Griechischen ist es sogar das gleiche Wort. Bei der deutschen Übersetzung kann man mit den Worten spielen und lesen: „Dein Glaube hat dir geholfen“ oder: „Dein Vertrauen hat dir geholfen“ (Mt 9,22). „Glaubt an das Evangelium“ oder „Vertraut dem Evangelium“ (Mk1,15).
 

Glauben heißt nicht zuerst, dass ich bestimmte Glaubenssätze für richtig halte. Glauben heißt vertrauen.  Nach biblischem Verständnis ist es das Gegenteil von Furcht. „Was seid ihr so furchtsam?“ fragt Jesus, „habt ihr kein Vertrauen?“ (Mk 4,40) 
 

Der Gegenspieler von Vertrauen ist Angst. Bei den Jüngern war es die Angst vor Wellen und Sturm auf unruhiger See. In der hebräischen Gemeinde die Unsicherheit: Wie geht es weiter? Worauf können wir uns verlassen, wenn das zusammenbricht, worauf wir gebaut haben?
 

Wir kennen solche Fragen in ungewissen Zeiten. In der Pandemie, in Krankheiten, in schwierigen Lebenssituationen: Wie geht es weiter? Wer hilft mir? Was trägt mich, wenn ich den Boden unter den Füßen verliere, wenn ich mein Leben nicht mehr im Griff habe?

 

 

Propst Helmut Wöllenstein:

 Muss ich da nicht viel besser aufpassen? Mit einer gesunden Portion Skepsis, wie man so sagt, gut darauf achten was um mich herum vorgeht. Wenn eine Notiz beim Kollegen offen auf dem Schreibtisch liegt, mal eben drüber schauen. Oder mal sehen, was auf der Startseite vom Handy meines Partners, meiner Partnerin aufpoppt: Wer schreibt da denn so alles was?

Je wichtiger für uns eine Beziehung ist, je mehr eine Sache für mich bedeutet, desto mehr Angst habe ich, wenn sich etwas verändert.

 

Die Corona-Pandemie hat unser aller Vertrauen auf die Probe gestellt wie kaum etwas anderes. Stimmt es überhaupt, dass das Virus so gefährlich ist? Oder soll damit von einer anderen Bedrohung abgelenkt werden, aus der besonders mächtige Menschen heimlich ihren Profit schlagen?  Sind die Entscheidungen, die von den Verantwortlichen in der Politik in der Wissenschaft, besonders in der Medizin getroffen werden, richtig? Werden wir auch gut und ehrlich informiert von den Medien?

 

Es ist und bleibt eine riesige Vertrauensfrage für uns alle, jeden Tag: Wenn wir Freunde treffen, wenn wir einkaufen, Bahnfahren: gehen die anderen verantwortlich mit der Situation um – und tue ich selbst das, was nötig ist? Ist es gut, sich impfen zu lassen? Und die eigenen Kinder? Wie selten sonst sind wir herausgefordert, gut auf die Nachrichten zu hören. Informationen zu beachten, selbst Bescheid zu wissen und mitzudenken. Auch kritische Meinungen zu hören, Widersprüche auszuhalten.

 

Vertrauen heißt niemals naiv sein, blauäugig und gedankenlos in den Tag hinein zu leben. Und trotzdem: Auch wenn ich mich informiere, wach bin und bestmöglich für mich sorge, bleibt es lebenswichtig, Vertrauen zu behalten. Vernunft und Vertrauen gehören zusammen. Meine Vernunft sagt: Pass auf, tue, was du kannst, lass dich impfen. Und doch kann ich es nicht, ohne dass ich der Mehrheit wissenschaftlich medizinischer Experten vertraue.

 

Oder den Politikerinnen, die in den Bedrohungswellen weitgehend gute Entscheidungen getroffen haben für die Mehrheit in unserem Land.  Und so gehe ich auch wählen nächsten Sonntag. Ich vertraue den Vertreter*innen meiner Partei. Ich lese und höre, was sie sagen.

 

Und ich achte darauf, dass sie es tun. Ich vertraue den meisten Menschen, mit denen ich zusammenlebe. Und mehr als allen vertraue ich Gott. Er hat mir die Fähigkeit zu vertrauen geschenkt. Er traut mir zu, dass ich selbst Vertrauen aufbringe. Dass ich sage: Ich schaue nach vorn. Ich wage den Schritt in den offenen Raum.

 

Pfarrerin Andrea Wöllenstein:

Was bringt es, zu vertrauen? Was ist die Belohnung, von der die Bibel spricht? Ein simples Beispiel:
Ich gehe abends zu Bett im Vertrauen darauf, dass ich am anderen Morgen wieder aufwache. Ohne dieses Vertrauen würde ich kein Auge zumachen. Hätte Angst, irgendwann einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen. Ich beginne meinen Tag im Vertrauen darauf, dass es ein guter Tag wird. Dass mir gelingt, was ich vorhabe, dass ich behütet und beschützt bin. Ich habe dafür keine Garantie, nur ein Versprechen: „Gott hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt“.
 

Nicht jeder Tag wird so sein, wie ich ihn mir gewünscht habe. Es gibt Steine auf dem Weg, an denen ich mich stoße - und manchmal mehr als das. Es können sich Abgründe auftun vor meinen Füßen, wo nichts mehr geht. Trotzdem und gerade dann will ich vertrauen. Daran glauben, dass Gott sein Versprechen hält. Es wird gut mit mir und mit meinem Leben. Es ist gut, schon jetzt, auch wenn ich es noch nicht spüre und verstehe. Vertrauen heißt: Nicht weiterwissen, aber alles erwarten.
Die Belohnung ist Freiheit und Gelassenheit. Ich komme raus aus dem Hamsterrad meiner Sorgen und Ängste. Ich lasse los. Ich lasse mich los. Ich verlasse mich auf das, was größer ist als ich selbst. Auf die Liebe, die mich trägt und führt.
 

Das geschieht nicht mit einem Mal. Vertrauen ist ein Weg. Im Glauben genauso wie in Beziehungen zu den Menschen, mit denen ich mein Leben teile. Eine tägliche Entscheidung. Ich entscheide mich gegen Misstrauen und Angst für Vertrauen. Mein Vertrauen kann enttäuscht werden. Aber oft ist es andersherum: Wer vertraut, dem wird auch Vertrauen entgegengebracht. Wer Gott vertraut, kann sich selbst etwas zutrauen. Dem Schatz trauen, den Gott in uns gelegt hat. Und seinem Versprechen: „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein“.

 

Amen

 

Es gilt das gesprochene Wort.