Autismus

Autismus. Eine Herausforderung für Schulen

Gemeinfrei via unsplash.com (Hector J. Rivas)

Autismus
Eine Herausforderung für Schulen
01.05.2018 - 07:05
25.01.2018
Susanne Lohse
Über die Sendung:

Die Betroffenen wünschen sich oft am stärksten: Normalität. Viele Asperger besuchen deshalb eine Regelschule. Dort allerdings stoßen sie schnell an ihre Grenzen – und an die ihrer Umwelt.

 

Sendung nachhören

 

Sendung nachlesen:

Der Rückblick auf ihre Schulzeit löst bei Deborah, Paul und Johannes Nachdenken aus.

 

Deborah:

Das war unglaublich laut, und sich da zu konzentrieren, ich glaube, das würde jedem schwer fallen und natürlich einem Aspi noch viel schwerer…“

 

Paul:

„Schützen kann man sich sehr schwierig, weil halt so was wie vorbei fliegende Vögel oder Lautstärke, die sind in der Schule einfach immer gegeben.“

 

Johannes:

„Die Regelschulen sind prinzipiell auf Leistung ausgelegt, das ganze Schulnotensystem, was wir haben, dass man einfach nur am Ende des Schuljahres nach den schriftlich fixierten Leistungen beurteilt wird und eben nicht nach sonstigen Leistungen, die man erbracht hat.“

 

Deborah, Paul und Johannes haben das Asperger-Syndrom, eine Sonderform von Autismus. Ihre Wahrnehmung ist anders als die gewöhnlicher Menschen. Ihr Gehirn kann Reize und Informationen nicht filtern. Eine Landschaft, eine Situation ist wie tausend Puzzleteile auf einmal, die es zusammen zu setzen gilt. Anders als gemeinhin bei Autisten angenommen, sind Asperger normal bis hoch intelligent und sie können sprachlich gut kommunizieren. Dennoch fällt ihnen die Bewältigung des Alltags schwer. Deborahs Mutter Sabine wie auch die Mütter des 13-jährigen Marc und des 17 Jahre alten Pavel, die selbst nicht ans Mikrofon wollten, Gesina und Lisa, erinnern sich, dass ihre Kinder von klein auf anders waren als andere Kinder.

 

Sabine:

Sie war nie sehr belastbar, einerseits stark und voller Willen und dann auch wieder müde, weil sie sich immer so verausgabt hat. In allem, was sie macht oder tut, gibt sie alles, 300 Prozent…“

 

Gesina:

„Die Grundschulzeit lief für ihn sehr gut ab. In den Vormittagsstunden, wo eben nach Stundenplan unterrichtet wurde und er genau wusste, erst kommt dieses Fach, danach kommt jenes Fach und diese Lehrerin und jene Lehrerin, lief es wunderbar. Schwierig war es eher im Hort, wo es eine offene Gruppe gab…“

 

Lisa:

„Wenn er zuhören kann, nimmt er alles auf und speichert auch, was er da hört. Das Problem ist aber, dass er meistens nicht mal den Satz zu Ende hört, ohne abgedriftet zu sein.“

 

Für Lehrer und Mitschüler stellen Asperger eine große Herausforderung dar. Sie verstehen das Verhalten der anderen Kinder nicht, ihnen fehlt das intuitive Wissen, was Lehrer im sozialen Umgang von ihnen erwarten. Das führt dazu, dass Asperger oft isoliert sind. Mit ihrem auffälligen Verhalten ecken sie schnell an. Hinzu kommt: kein Autist und auch kein Asperger gleicht dem anderen. Die Schulleiterin Elke Imberi aus Karlsruhe musste das selbst erst lernen.

 

Elke Imberi:

Zuallererst haben wir die Erfahrung gemacht, dass das Asperger-Syndrom ganz, ganz viele Schattierungen hat, ganz, ganz viele Seiten hat. Von den vier Kindern, die wir an der Schule hatten, glich keines dem anderen. Jedes Kind hatte eine andere Ausprägung und auch einen anderen Schwerpunkt.“

 

 

 

Auf 1.000 Menschen kommen sechs Autisten, sagt die Statistik. Das bedeutet, auf die Bevölkerung von Deutschland hochgerechnet, leben zwischen 300.000 und 400.000 autistische Menschen unter uns. Jeder kennt vermutlich einen. Männer sind häufiger betroffen als Frauen. Fachleute schätzen zudem, dass viele, vor allem Aspergerautisten, zeitlebens unerkannt bleiben. Der Psychologe Rolf Seemann leitet in Karlsruhe das Autismus-Beratungszentrum und sammelt seit fast 20 Jahren Daten und Fakten zu Menschen mit Autismus.

 

Rolf Seemann:

„Es gibt sicher eine Dunkelziffer von Menschen mit Autismus, die auch wirklich so durchs Leben kommen und die wir nie sehen. Die das vielleicht für sich wissen oder erahnen, die nie Hilfe brauchen. Die wird‘s auch geben. Dann haben sie sich eine Welt gestaltet, die für sie selbst passt. Das ist dann ja auch in Ordnung so.“

 

Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung und zählt zum Kreis seelischer Behinderungen. Eine Krankheit im Sinne der Krankenkassen ist Autismus nicht. Wegen der Breite der Erscheinungsformen spricht man heute vom Autismus-Spektrum. Die neuen Diagnosekriterien könnten eine Erklärung sein, warum Autismus scheinbar zugenommen hat. Von einer Modediagnose will der Psychologe Rolf Seemann nicht sprechen. Bislang seien noch gar nicht alle Autisten erfasst. Die Psychologin Ulla Mosthaf macht weitere Gründe für die gefühlte Zunahme aus.

 

Ulla Mosthaf:

„Man könnte sich überlegen, dass unsere gesellschaftlichen Bedingungen heutzutage mit dazu beitragen, dass ein Kind, was eine autistische Ausstattung hat, eher besondere Verhaltensweisen entwickelt oder eher problematisch wird oder eher auch leidet an der ganzen Situation. Dadurch, dass es heute sehr vielen schulischen Anforderungen ausgesetzt ist, sehr viele sozialen Fähigkeiten auch von ihnen auch erwartet werden und auch in der Regel der Nachmittag, das Wochenende sehr anspruchsvoll ist, durchstrukturiert, und es selber nicht mehr so viele Möglichkeiten hat, sich zu regenerieren, was vielleicht früher, wo Kinder den Nachmittag oder das Wochenende zur freien Verfügung hatten, eher mal möglich war.“

 

Wie Autismus entsteht, liegt noch im Dunkeln. In der Diskussion sind Erklärungsmodelle, die genetische Faktoren, das Alter der Eltern sowie andere die Schwangerschaft beeinflussende Umstände heranziehen. Aufnahmen aus der Magnetresonanztomographie zeigen, dass die Nervenzellen im Gehirn von Autisten im Zentrum für Sprache, Kommunikation und soziale Kontakte anders verschaltet sind als bei Nicht-Autisten. Autismus und somit auch das Asperger-Syndrom sind daher nicht heilbar. Ziel einer frühzeitig einsetzenden Therapie ist es dennoch, eine normale Alltagskompetenz zu erlernen. Die Diagnostik machen Kinder- und Jugendpsychiater anhand von beobachtbarem Verhalten. Für Betroffene wie für Eltern bedeutet die Diagnose nicht selten eine Erleichterung.

 

Sabine:

Einer der emotionalsten Momente meines Lebens…“

 

Paul:

„Die Diagnose war damals für mich ein Segen, weil ich endlich eine Antwort hatte und mir geholfen werden konnte…“

 

Sabine:

„Ich war so erleichtert, weil ich jetzt wusste, was sie ausmacht, dass das jetzt einen Namen hatte. Es war für mich auf der anderen Seite aber auch so erschütternd, indem ich mir so Vorwürfe gemacht habe. Vorwürfe, wie ich meine Tochter 28 Jahre lang unter Druck gesetzt habe und immer versucht habe, sie normal zu machen.“

 

 

 

Die Betroffenen wünschen sich tatsächlich nichts weniger als Normalität. Viele Asperger besuchen deshalb eine Regelschule. Dort allerdings stoßen sie schnell an ihre Grenzen – und die ihrer Umwelt. Zu viel, zu laut, zu unstrukturiert – so ließe sich die Schulsituation aus Sicht der Aperger etwas verkürzt zusammenfassen. Zu verträumt, zu unselbstständig, zu labil die Situation aus Sicht der Lehrer. Die Schulleiterin Elke Imberi und der Sonderpädagoge Jörg Götz-Hege kennen die Konflikte.

 

Elke Imberi:

„Ein Schüler hatte ganz große Probleme, wenn es darum ging, sich in Reihen zum Beispiel aufzustellen, was manchmal im Sportunterricht vorkommt. Der geriet regelrecht außer Fassung, wenn sich jemand plötzlich vor ihn stellte, und seiner Meinung nach unabgesprochen…“  

 

Jörg Götz-Hege:

„Dann gibt es eine Menge Unruhe in der Klasse, denn sowohl die Mitschülerinnen und Mitschüler fühlen sich dann oftmals gestört, wie auch eine Orientierung ausbleibt auf den Unterricht.… „

 

Elke Imberi:

„Ein anderer brauchte ab und zu die Ruhe oder es gab Dinge, die bei ihm so praktisch Trigger waren, die so ein Verhalten auslösten. Also Feueralarm oder eine gewisse Lautstärke konnte der überhaupt nicht ertragen. Das hat ihn dann geängstigt und dann ist er zum Beispiel ausgeflippt, fing selber an zu schreien. Nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus dem eigenen Angstgefühl raus.“

 

Der Schlüssel zur besseren Beschulung von Aspergern heißt Schulbegleitung. Das bedeutet, das Aspergerkind bekommt einen Helfer an die Seite, der ihn durch den für ihn chaotischen Schulalltag lotst.

 

 

Elke Imberi:

„Wir hatten auch ein Mädchen, die brauchte manchmal eine Handführung, weil sie auch im feinmotorischen Bereich einfach Schwierigkeiten hatte…“

 

Jörg Götz-Hege:

„Ich denke, Schulbegleitungen sind zunächst einmal notwendig, um sie dann auch sukzessive wieder abzubauen. Also in nicht wenigen Fällen ist das auch gelungen. Aber man muss im Prinzip über die Schulbegleitung den Einstieg finden, um das also schrittweise dann auch wieder abbauen zu können.“

 

Schulbegleiter gibt es erst seit rund zehn Jahren. Davor schickte man Asperger wegen ihres auffälligen Verhaltens zunächst auf Sonderschulen, also Schulen für Menschen mit einer geistigen Behinderung, später zur besseren Förderung auf Sprachheilschulen oder Schulen zur Förderung emotionaler und sozialer Entwicklung. Viel hängt von der Qualität des Schulbegleiters ab. Die Erfahrungen mit dem Schulbegleiter sind bei Eltern wie auch bei Lehrern unterschiedlich. Was als Hilfestellung gedacht war, entpuppt sich im Alltag leicht als zusätzliches Konfliktfeld. Nicht immer stimmt die Chemie zwischen Lehrer und Schulbegleiter, nicht immer bewilligt der Kostenträger eine ausreichende Zahl an begleiteten Stunden.

 

Elke Imberi:

„Wir sind dankbar, wann diese Kinder mit Schulbegleitung kommen. Aber trotzdem, es ist auch für die Lehrkraft eine neue Situation, wenn plötzlich ein Erwachsener auch immer anwesend ist im Unterricht. Damit muss man auch klar kommen…“

 

Lisa:

„Es hat geholfen, wenn es keine Krankheiten gab. Sobald es an der Schule Krankheiten gab, und das war ja sehr, sehr häufig, mussten die Schulbegleiter irgendwo anders einspringen…“

 

Gesina:

„Es gab da auch wieder Schulhelfer, die dann natürlich als 33. Person in dem Raum saßen, und leider hat halt also der Schulhelfer relativ oft gewechselt.“

 

Dabei brauchen gerade Asperger Regelmäßigkeit und möglichst wenig Wechsel der Bezugspersonen, kritisieren die beiden Mütter Gesina und Lisa die fehlende Konstanz der Schulbegleiter in der Regelschule. Besonders kompliziert wird es für Lehrer von Klassen mit Aspergerkindern bei außerschulischen Aktivitäten. Elke Imberi:

 

Elke Imberi:

„Das sind wirklich auch die Punkte, die dann unheimlich viel Zusatzarbeit erfordern. Also, ein Schüler hatte besondere Essgewohnheiten. Was muss er dann da akzeptieren, wo ist ein Entgegenkommen, ja? Weil wir wollen ja auch nicht, dass sie immer eine Sondersituation innerhalb der Klasse haben, weil andere Kinder sich schon auch immer an ihnen messen. Ich erinnere mich noch an ein Landschulheim, wo ganz lange nicht klar war, wie wir das lösen können. Es war ein Junge, es war klar, er kann eigentlich nur am Landschulheim teilnehmen, wenn auch der Schulbegleiter in dem Zimmer nächtigt. Auch um den Schulbegleiter zu schützen, musste ich als Schulleitung sagen, so können wir das nicht machen.“

 

Außer dem Schulbegleiter sieht das Gesetz eine weitere Hilfe für Menschen mit Asperger vor: den Nachteilsausgleich. Durch dieses Zugeständnis erhält der Asperger beispielsweise mehr Zeit bei Klassenarbeiten, er kann eine mündliche statt einer schriftlichen Prüfung ablegen oder er darf besondere Hilfsmittel wie Computer oder spezielle Arbeitsblätter verwenden. Und doch gingen Pavel und Marc in der Regelschule unter.

 

Gesina:

„Die Schule war jetzt eine ganz normale Schule, wo auch das Klassenzimmer voll war und nicht den Bedürfnissen von Autisten gerecht geworden ist. Also, das Zimmer war viel zu laut. Pavel konnte diese Geräuschkulisse nicht ertragen, konnte auch die vielen anderen Menschen nicht ertragen und hatte weder im Unterricht noch in den Pausen die Ruhe, die er gebraucht hat…“

 

Lisa:

„Er kam oft mit leeren Arbeitsblättern nach Hause und hatte überhaupt gar kein Material, was er lernen konnte. Und dann habe ich mal nachgehakt und hab dann festgestellt, dass er im Unterricht einfach immer abdriftet und nicht mitschreibt, und schon gar nicht mitbekommt, dass er jetzt mitschreiben soll. Also er hat nie wahr genommen, was um ihn herum stattfindet.“

 

 

 

Ganz anders sind die Rahmenbedingungen an der Comeniusschule in Berlin-Wilmersdorf. Hier gibt es eine inklusive Grundschule, jahrgangsübergreifende Kleinklassen, Förderklassen, sowie mehrere Aspergerklassen. Der Klassenteiler bei den Aspergern liegt bei sechs Schülern, die von zwei Lehrern sowie einer weiteren pädagogischen Kraft unterrichtet und betreut werden. Ein Wechsel zwischen den Modulen ist möglich, sagt die Schulleiterin Ulrike Walther.

 

Ulrike Walther:

„In den meisten Klassen sind Teppiche, weil die Kinder auf Geräusche empfindlicher reagieren, aber das ist was, wovon alle Kinder profitieren. Gut strukturierte Unterrichtssituationen, zwischendurch Arbeit in Kleingruppen, mal Arbeit im Teilungsraum. Davon profitieren genauso die Regelkinder. Dass wir hier so viele Abteilungen haben, verstehe ich als Chance, dass wir durchlässig sein können. Wenn wir merken, das ist nicht der richtige Beschulungsort, dann haben wir schon auch die Möglichkeit, zwischen den Abteilungen zu wechseln und nach einem anderen Ort zu suchen. Das muss auch keine Sackgasse sein, auch das kann dann wieder zu einer Reintegration führen.“

 

600 Kilometer südwestlich von Berlin in Bonn Bad Godesberg liegt die Hebo-Privatschule. Auch sie ist spezialisiert auf Kinder mit besonderen Bedürfnissen wie eben Aspergern. In einem sehr persönlichen Umfeld erfahren die Schüler hier, was es heißt, in der eigenen Besonderheit gesehen zu werden. Wie auf der öffentlichen Comeniusschule in Berlin arbeitet auch die private Hebo-Schule nach einem verhaltenstherapeutischen Ansatz. Alle Lehrer haben eine sonderpädagogische oder therapeutische Zusatzausbildung und schauen genau hin, was die Kinder brauchen. Die pädagogische Leiterin Heide Schmitz weiß, wie frustriert Schüler im ersten Moment sind, wenn sie an ihre Schule kommen.

 

Heide Schmitz:

„Diese Kinder haben eine negative Einstellung zur Schule, weil sie schon viele Misserfolge schon erlebt haben, und auch das auf der sozialen Ebene oft nicht geklappt hat. Wir versuchen, die Kinder erst mal auch auf einer Beziehungsebene abzuholen, aber auch das gestaltet sich mit autistischen Kindern natürlich etwas schwerer. Deswegen müssen wir da eher in die Verlässlichkeitsstufe gehen – auf allen Ebenen. Ich sage denen dann auch immer, du erwartest ja auch, dass wir im Winter geheizt haben, wir erwarten, dass du pünktlich in den Unterricht kommst. Das ist nicht nur eine Einbahnstraße, sondern wir haben unsere Verpflichtungen und du hast deine Verpflichtungen.“

 

Auch an der Heboschule sind die Klassenzimmer reizarm eingerichtet, um Ablenkungen möglichst gering zu halten. Bilder hängen so hoch, dass die Schüler ganz bewusst den Blick dorthin wenden müssen. Mit Auszeitkarten können sich Aspergerschüler eine Ruhepause gönnen. Während und auch außerhalb des Unterrichts steht viel Personal zur Verfügung, das Aspergern die Welt von Nicht-Autisten verstehen hilft.

 

Heide Schmitz:

„Das ist echt schwierig, weil die Kinder sich oft subjektiv ungerecht behandelt fühlen, dann führt das meistens zum Konflikt, der Lehrer sagt, du hast dich unmöglich benommen. Das Kind sagt, nein hab ich nicht, die anderen sind doch auch laut. Und dann sagt der Lehrer, jetzt gehst du einfach mal bitte raus. Und dann landen die Kinder bei mir. Und die können mir dann aus ihrer Sicht erzählen, wie ihre momentane Empfindung ist, wie sie das da oben im Unterricht jetzt empfunden haben, und ich kann es nicht korrigieren, weil ich war nicht in der Situation dabei. Das gibt den Kindern erst mal das Gefühl, sie werden ernst genommen in ihren Empfindungen.“

 

 

 

Geschultes Lehrpersonal weiß, worauf es im Umgang mit Aspergerkindern ankommt. Man kann ihnen nicht einfach ein System überstülpen, für das sie nicht geschaffen sind. Das gilt nicht nur in der Schule. Auch das Gelingen einer Kommunions- oder Konfirmationszeremonie beispielsweise hängt ganz wesentlich davon ab, wie weit sich der Pfarrer auf die Besonderheiten des Aspergerkindes einlässt. Fachwissen zu vermitteln ist das eine, eine Situation zu verstehen – für Asperger etwas anderes. Was hat der andere gesagt? Wie hat er es gemeint? Asperger können nicht in Gesichtern lesen, Blickkontakt zu halten fällt ihnen schwer. Das Gesagte nehmen sie wortwörtlich, Ironie bleibt ihnen fremd. Neben Ruhepausen, einer klaren, einfachen Wortwahl, ist Kommunikationstraining und Selbstreflexion die Grundlage bei der Arbeit mit Aspergern. Konstanze Möbius ist Ambulanzlehrerin in Berlin. In Kindergärten und Grundschulen begutachtet sie auffällige Kinder, empfiehlt bei Bedarf besondere Fördermaßnahmen oder eine Förderschule.

 

Konstanze Möbius:

„Je nach Klassenstufe üben wir mit diesen Kindern und Jugendlichen in Gesprächen zum Beispiel auf den Gesprächspartner einzugehen und nicht nur eigene Interessen zu verfolgen, sondern auch wirklich Bezug zu nehmen da drauf, was der andere sagt.“

 

Ganz gezielt üben die Psychotherapeutin Manuela Kampe und Ulla Mosthaf vom Autismus-Beratungszentrum in Karlsruhe mit Aspergern. Es ist fast wie das Erlernen einer Fremdsprache, nur auf einer anderen Ebene. Es geht nicht um einzelne Wörter, sondern darum, sie in Beziehung zu setzen zu dem, was der andere gemeint und gefühlt hat.

 

Manuela Kampe:

Zum Beispiel ist es bei dem Hören so, dass Hören schmerzhaft sein kann für Menschen mit Autismus. Oder auch beim Sehen, dass Lichtreize sehr reflektieren können und sie gar nicht erkennen können, was ist eigentlich die wichtige Information jetzt für mein Gehirn. Und das macht es schwer, die ganze Umwelt in ein sinnvolles Bild zu fassen und somit auch zu erkennen…“

 

Ulla Mosthaf:

„Es ist halt oft ein anderer Humor als den, den wir haben. Das ist dann eben wieder der Boden für Missverständnisse und für Schwierigkeiten. Sie lachen einfach an anderer Stelle, wo wir sagen, hier müsste man jetzt eher still sein oder ein bisschen betreten schauen. Umgekehrt verstehen sie unser Lachen oftmals nicht. Sie versuchen sich dann anzupassen und lachen einfach mit.“

 

Gerade diese Anpassungsleistung ist es, die das Leben als autistischer Mensch so anstrengend macht, sagt der Psychologe Rolf Seemann. Der Wunsch nach Normalität und Zugehörigkeit ist bei Aspergern groß. Lisa kennt diese Not ihres 13-jährigen Sohnes Marc seit der ersten Klasse.

 

Lisa:

„Er hatte im Prinzip eine Schulzeit ohne je einen Freund oder eine Freundin zu haben, ohne je mal in einer Gruppe aufgenommen zu sein. Das heißt, er war jahrelang einfach alleine und beobachtete aber, wie andere Kinder Freundschaften bildeten und fragte zu Hause, was kann ich denn bloß machen, dass ich das auch schaffe? Und ich konnte ihm da auch nicht helfen.“

 

Mit Hilfe von Therapie, geduldigem und geschultem Lehrpersonal, aufgeklärten Mitschülern und einem unterstützenden Elternhaus können Asperger durchaus Freunde finden, einen Schulabschluss machen. Viele schneiden sogar ausgesprochen gut ab, sagen Konstanze Möbius und Heide Schmitz.

 

Heide Schmitz:

„Wir bieten vom Neunerabschluss bis hin zum Abitur alle Prüfungen an, viele dieser Kinder durchlaufen auch mehrere Prüfungen, weil gerade Kinder mit diesen Bausteinen haben oft auch eine Entwicklungsverzögerung und können nicht direkt den Abschluss anstreben, der ihnen eigentlich adäquat gegeben wäre. Dennoch haben wir seit Jahren eine nahezu hundert Prozent Bestehensquote…“

 

Konstanze Möbius:

„Die Schüler und Schülerinnen an unserer Schule bestehen ihre Prüfungen im Schnitt recht gut. Man muss sich natürlich jetzt auch vorstellen, dass sie eine sehr gute Betreuung haben, eine sehr individuelle Betreuung und oft auch mal ein Schuljahr wiederholt haben, nicht aus Leistungsgründen, sondern aus Gründen der psychosozialen Entwicklung und der Reifung, das heißt sie bekommen auch einfach mehr Zeit um sich zu entwickeln.“

 

 

 

Pavel und seine Mutter Gesina, Marc und seine Mutter Lisa haben eine passende Schule gefunden, sind wichtige Schritte gegangen. Die eigentliche Klippe für Asperger aber kommt erst noch: Der Übergang von der Schule in den Beruf. Auch Sabine hofft für ihre erwachsene Tochter Deborah das Beste.

 

Gesina:

„Das, was ihm am meisten geholfen hat, war, dass ich mit ihm zusammen das Thema Autismus und die andersartige Wahrnehmung von Autisten mir erarbeitet habe, so dass Pavel selber jetzt sehr gut über sich Bescheid weiß…“

 

Lisa:

„Ich habe mehr Bedenken, was passiert, wenn er diese Schule verlässt. Weil Autisten sehr viel Unterstützung bekommen, und dann plötzlich, wenn sie erwachsen sind, war‘s das. Sie sind ja dann immer noch Autisten…“

 

Sabine:

„Sie braucht eine Arbeit, die auf sie zugeschnitten ist. Deborah bringt ihre ganze Leistung und nach drei, vier, fünf Stunden ist sie tot.“

 

Der Autismus bleibt, auch im Leben als Erwachsener. Das macht es schwer, einen Platz im Leben zu finden. Allen Mythen von Inselbegabungen zum Trotz haben Asperger nämlich keineswegs automatisch eine Spezialbegabung. Und ein normales Arbeitsleben, wo Sozialkompetenz immer größer geschrieben wird, in so einer Arbeitswelt ist wenig Platz für Asperger. Glück hat, wer gut mit dem Computer umgehen kann. Der Softwarehersteller SAP in Walldorf beispielsweise hat inzwischen eine eigene Abteilung für Autisten eingerichtet oder die Firma Auticon in Berlin wendet sich ganz gezielt an Menschen mit Autismus. Johannes und Deborah haben ihre Schulzeit hinter sich. Paul steht zurzeit im Abitur einer Regelschule und kommt mit dem Stress mittlerweile ganz gut zurecht.

 

Paul:

„Ich würde gerne BWL studieren, weil Wirtschaft war immer mein Lieblingsinteresse. Allerdings ich hab‘ schon ein bisschen Angst, was danach kommt. Weil es ist natürlich was Neues…“

 

Johannes:

„Ich war vorher schon in der Informatik, der Arbeitgeber kommt uns entgegen, ob das ein Sichtschutz zu anderen Kollegen hin oder auch ein Hörschutz, ein ruhigeres Arbeitsumfeld. Jemand, der diesen Nachteilsausgleich nicht bekommt, der kann in diesem Umfeld, glaube ich, auf Dauer nicht bestehen…“

 

Deborah:

„Ich bin einfach dankbar, ein Teil von dieser Welt zu sein, einfach ein Teil vom Leben. Ich denke vielleicht etwas anders und nehme die Sachen etwas anders wahr, mein Gehirn funktioniert vielleicht etwas anders, aber ich bin immer noch ein Mensch.“

 

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

 

Musik dieser Sendung:     
Underwood, Ludovico Einaudi, In A Time Lapse

25.01.2018
Susanne Lohse