Der Scheinriese

Bäume im Nebelwald aus der Froschperspektive

Gemeinfrei via unsplash/ Dave Hoefler

Der Scheinriese
Sein Schein und meine Angst
09.08.2020 - 07:05
06.08.2020
Jean Félix Belinga Belinga
Über die Sendung:

Der "Feiertag" im DLF zum Nachhören und Nachlesen.

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Viele würden die weltumspannende Corona-Pandemie gerne als Scheinriesen sehen. Und Erkenntnisse und Maßnahmen dann als ein Herangehen begrüßen, bei dem die neue Krankheit kleiner und weniger bedrohlich wird. Aber die Pandemie ist ein Riese und besteht als solcher erst einmal fort. Es kommt darauf an, dem Riesen ins Gesicht zu sehen und sich der eigenen Angst zu stellen.

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In Märchen, Mythen und Sagen entstehen oft angsteinflößende Schauplätze. Insbesondere, wenn Riesen auf der Bildfläche auftauchen, jene menschenähnliche Wesen, die groß und machtvoll sind. Sie handeln zudem ungehobelt und grob. In den meisten Fällen treten sie als Gegenspieler unserer Helden auf. Denn genau nach diesen Helden, den liebenswerten Zentralfiguren in den Geschichten, trachten die Riesen. Diese wollen sie bekämpfen, ihnen möchten sie schaden. Die Riesen versperren die Wege, damit die Helden ihre guten, ihre erhabenen Ziele nicht erreichen.

Schon in der griechischen Mythologie treffen wir auf solche Riesen. Im Alten Testament holt uns das Bild vom Kampf zwischen David und dem Riesen Goliath ein. Märchen der Brüder Grimm enthalten Riesen, sogar moderne Erzählungen sind gespickt mit ihnen. Zwar siegen meistens die anmutigen Helden, die mit herausragenden edlen Charaktermerkmalen ausgerüstet sind. Aber die Szene wird bei diesen Begegnungen normalerweise von der alles übersteigenden Erscheinung des jeweiligen Riesen dominiert. Er hinterlässt einen unangenehmen, aber imposanten Eindruck.

Ein Riese ist oft unansehnlich. Er besitzt Merkmale, die Abscheu und Ekel hervorrufen. Die Figur wird in die Geschichte eingebaut, um von Lesern und Zuhörern massiv abgelehnt zu werden.

Nun hat aber die Moderne eine flexible Form des Riesen geschaffen. Die Rede ist vom sogenannten „Scheinriesen.“ Die Besonderheit des Scheinriesen ist, dass er nur in der Ferne ein Riese ist. Je näher man ihm kommt, desto kleiner wird er. Er verliert seine bedrohliche Erscheinung allein dadurch, dass man sich ihm nähert.

 

Der Begriff „Scheinriese“ ist längst im alltäglichen Sprachgebrauch etabliert. In politischen Zusammenhängen beschreibt er gerne Personen oder Gruppen, Staaten oder auch Streitkräfte, um sie abzuwerten. Die Metapher des „Scheinriesen“ versteht sich als ironisches Medium, um das unberechtigte Erscheinungsbild von Größe, Stärke oder Macht zu verharmlosen, oder auch, wenn es darauf ankommt, es krachend zu vernichten. Aber viele wissen nicht, wo der Begriff selbst herkommt. Vor 60 Jahren schuf der Autor Michael Ende in seinem Buch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ mit „TurTur“ den ersten Scheinriesen. Und wenn jener erste „Scheinriese“ dort als nett, friedlich, empathisch, ja sogar hilfsbereit dargestellt wird, bleibt es doch an ihm haften, dass seine riesige Größe Menschen in Angst versetzt. Und gerade diese Angst ist eng mit der Erscheinung des Riesen gekoppelt. Je größer die Angst im Menschen ist, desto riesiger wird das Ungetüm. Eine Wechselabhängigkeit, denn der Mensch kann auf einen Riesen nur mit Angst reagieren. Damit jedoch schafft er den Riesen und das Ungeheuerliche an ihm. Aber er kann diesen Grund seiner Angst auch wieder beseitigen.

 

Genau darauf zielt die Metapher des Scheinriesen. Sie konfrontiert den Menschen letztendlich mit sich selbst. Er kann sich von seiner Angst befreien, indem er an den Scheinriesen herangeht und ihn dabei in ein harmloses, vielleicht sogar gütiges Wesen umgestaltet. Er kann einen neuen Entwicklungsschritt für sich initiieren - und für das, was ihn zunächst nur angewidert hat. Dabei muss er nur die Entscheidung treffen, sich aufzumachen, und die erlösenden Schritte zum Riesen hin zu tun. Dann ist er frei. Nicht nur frei von seiner Angst, sondern er ist frei, aus der Beziehung zu dem kolossalen Wesen heraus etwas Neues anzufangen.

 

 

Viele Gespräche der letzten Monate und Wochen haben mir offenbart, wie viele Menschen die weltumspannende Corona-Pandemie gerne als Scheinriesen sehen würden. Sie würden gerne die gewonnenen Erkenntnisse der Wissenschaft als ein Herannahen begrüßen, bei dem die neue Krankheit kleiner und weniger bedrohlich erscheinen könnte. Aber das, was sich immerfort bestätigt, ist nur, dass die Pandemie wirklich ein Riese ist und als solcher erst einmal fortbesteht. Und tatsächlich, wenn wir sie nach all den Ängsten beurteilen, die die Menschen auf dem ganzen Globus gegenwärtig quälen, so handelt es sich bei dieser Krankheit um ein gigantisches Monster.

 

Personen, für die das hohe Alter bislang als Segen empfunden wurde, fühlen sich plötzlich vom neuartigen Virus regelrecht verfolgt. Man fühle sich als alter Mensch plötzlich wie ein Todgeweihter, hieß es in einem Gespräch. Und schlagartig Vereinsamte finden keinen Zugang mehr zum Gefühl der Freude. Heimleitungen müssen mit der Verunsicherung und der Angst ihrer Bewohner kämpfen. Nicht wenige Menschen werden durch die Turbulenzen am Arbeitsmarkt depressiv. Verarmung macht vielen Familien schon jetzt zu schaffen. Die Übersterblichkeit durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Alkohol- und Drogenmissbrauch mit fatalen gesundheitlichen Folgen ist ein bedrohliches Phänomen geworden.

 

Corona trifft das Mark des alltäglichen Lebens. Nicht nur hierzulande, sondern Corona verwandelt den ganzen Globus in einen Angstraum. Diese Krankheit ist ein Gigant, der seinesgleichen sucht. Entsprechend groß ist aber auch die Sehnsucht, diesen Riesen kleiner und am Ende klein zu bekommen. Nur wie? Klar, die Wissenschaft ist dem Virus auf der Spur. Immer wieder neue Erkenntnisse werden geliefert. Wir kommen dem Riesen näher. Und jede Erkenntnis, die die Menschen bei der Bekämpfung der Pandemie weiterbringt, lässt den Riesen um einiges schrumpfen. Aber gleichzeitig tauchen neue Fragen auf, die erst einmal unbeantwortet bleiben. Und so kommen Einzelne und Gruppen dahin, den Riesen namens Corona zu ignorieren oder seine Größe schlicht zu verneinen.

 

So setzen sie alles daran, ihre eigene Freiheit auf keinen Fall aufzugeben. Ihre Strategie: die Bedrohung durch die Krankheit für nicht real erklären. Der Glaube, dass die Negierung dessen, was Angst macht, es faktisch inexistent machen könnte, scheint sich hartnäckig durchzuhalten.

Ich muss hier oft an meine Enkelin denken, die die Augen schloss, um eine als Nikolaus verkleidete Person nicht sehen zu müssen. Die Verkleidung machte ihr Angst. Und diese Strategie „Augen zu“ setzte sie erfolgreich dagegen ein. Die Quelle meiner Angst zu negieren, kann äußerlich betrachtet, helfen, die Angst nicht mehr zu haben. Und dass ich gerne meine Ängstlichkeit verneine, hat einen Grund: Die Angst besitzt eine verunsichernde und lähmende Macht, letztlich eine erniedrigende Macht. Mit solchen Attributen wird sie als Feind des Lebens empfunden. Sie konfrontiert uns mit unserem Versagen, mit unserer Schwäche, unserer Unfähigkeit, die Sicherheit zurückzugewinnen, mit der wir möglichst gelassen ins Leben gehen wollen.

 

 

Die Angst gehört zu den elementaren unverzichtbaren Gefühlen im Wesen des Menschen. Deswegen sollte man sie nicht als Feind ansehen und bekämpfen. Sie ist auch kein Fremdkörper, den wir loswerden müssen. Als Menschen können wir nicht ohne Angst leben und überleben.

Die Angst begegnet uns auch in der Bibel als eine der ursprünglichen Erfahrungen. Im 1. Buch Mose wird Adam im Zusammenhang mit dem sogenannten Sündenfall mit den Worten zitiert „Ich hörte dich im Garten und ich fürchtete mich.“ So antwortet er Gott, als dieser nach ihm fragt. Auch Jesus erleben wir angsterfüllt, kurz vor seiner Verhaftung. Der Angsterfahrung kann er bei seinem Gebet im Garten Gethsemane angesichts des bevorstehenden sicheren Todes nicht entkommen. Und der Apostel Paulus beschreibt im zweiten Korintherbrief die Umstände, unter denen er den Brief verfasst mit den Worten: „… aus großer Bedrängnis und Angst des Herzens unter vielen Tränen.“ Das sind nur drei von unzählig vielen Situationen in der Bibel, in denen menschliche Angst unmittelbar mitzuerleben ist.

Die Angst äußert sich im Menschen durch Gefühle von Unsicherheit, Verlorenheit, Sinnlosigkeit, Hilflosigkeit, Anspannung, Lähmung, Schwäche. Dass man es schwer hat, die Angst als selbstverständlichen Teil seines Daseins zu akzeptieren, hängt eng mit diesen negativen Empfindungen zusammen. Es nicht zugeben, wenn man Angst hat, wird dadurch nachvollziehbar. Niemand wird sich gerne zu solchen erniedrigenden Gefühlen bekennen.

Angst trifft jeden und jede, unabhängig vom sozialen Stand, vom Gesundheitsstand, unabhängig vom Geschlecht oder vom Alter. Dass der Mensch bei Gefahren mit Schutzmechanismen reagiert, ist in der Natur angelegt. Fliehen, davonlaufen, schreien, protestieren, sich schützen, das sind natürliche Reaktionen in Angstsituationen. Sie gehören zum Menschen, weil Angst die natürliche Antwort auf alles Bedrohliche ist. Doch was bedroht oder im Stande ist, unsere Freiheit zu rauben, kann überwunden werden. Aber die Voraussetzung ist die Angst, eine Angst, die ich in mir zulasse. Der Reifungsprozess des Menschen hängt mit seinem Wesen als in Angst befangen eng zusammen. Denn jede neue Erfahrung, die er aus der Angst heraus macht, wird als Teil seiner Entwicklung gewertet.

Die Stimme der Angst erkennen und ihr nachgehen. Das ist es, was der Mensch in seinem Leben erreichen muss, weswegen es wichtig wird, dass er dieses bedrohliche, und doch elementare Gefühl zulässt. Es ist nützlicher, als es zunächst erscheint. Wer sich mit seiner Angst versöhnt, kann aus ihr Stärke gewinnen und Hoffnung schöpfen. Und die sind es, die den Menschen weiterführen.

 

 

Ich möchte lernen, die Angst aus biblischer Perspektive neu zu buchstabieren. Damit sie nicht der Feind bleibt, sondern zu einer ständigen Begleiterin wird, die ich mitnehme auf meinen Wegen. In der Bibel erscheint die Angst manchmal als Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Menschen und Gott. Gerade dadurch kann im Glauben das Vertrauen zu Gott gestärkt und ein Gegenmittel gegen Angst werden. So betet einer im Psalm 56: „Auf Gott vertraue ich, ich werde mich nicht fürchten ...“ Wenige Worte, die das Gottvertrauen als Schlüsselbegriff nennen, nicht nur im Blick auf die Beziehung zu Gott, sondern auch im Blick auf die eigene Angst. Gegen Angst hilft nur Vertrauen und Tun. Davon gilt es zu erzählen. Die Bibel tut das.

Der Apostel Paulus und sein Gefährte Silas sind zu Unrecht im Gefängnis eingesperrt. Um Mitternacht beten sie und loben Gott, als Antwort auf ihre Angst. Darin zeigt sich Vertrauen als die Gewissheit, dass Gott in diesem Moment der Angst bei ihnen ist.

 

Es ist ein starkes Vertrauen, als Petrus aus dem Boot steigt, um Jesus auf dem Wasser entgegenzulaufen. Aber als er auf die Wellen blickt, bekommt er Angst. Er fängt an zu sinken und schreit: „Herr, rette mich!“ Sofort streckt Jesus die Hand aus, packt ihn und fragt: „Hast du so wenig Glauben? Warum hast du gezweifelt?“ Womit Petrus an das Vertrauen erinnert wird, das ihm einen Augenblick lang abhandengekommen war.

 

Im Mittelpunkt dieser und vieler weiterer Angstsituationen, die in der Bibel geschildert werden, stehen zwei Begriffe – meist zwischen den Zeilen, ohne ausdrücklich benannt zu werden: Vertrauen und Hoffnung. Es scheint, dass die Angst zugelassen, aber nicht stehen gelassen wird. Sie wird nicht negiert, aber sie soll nicht der ständige Begleiter des Menschen werden. Deswegen werden ihm diese zwei Begriffe mitgegeben. Vertrauen und Hoffnung. Begriffe, die unmittelbar mit dem Glauben verbunden sind. Darin steckt ihr großes Potential.

 

 

Unsere Zeit ist in extremer Weise durch Ereignisse und Verhältnisse geprägt, die Angst erzeugen. Doch nicht gegen die Angst sollte sich unser Kampf im Alltag richten. Sondern gegen die tatsächlichen Bedrohungen, die in uns Angst auslösen. Es ist nicht nur die Pandemie, die im Augenblick die Welt aufwühlt. Dass ganze Generationen in zahlreichen Ländern zeit ihres Lebens keine anderen Umstände als Kriege und bewaffnete Auseinandersetzungen erleben, gehört zu den bitteren Realitäten, die in unserer Zeit Angst machen. Umweltkatastrophen werden oft für unabwendbar erklärt. Autoritäre Charaktere entstehen mitten in unserer Gesellschaft und wachsen zu stigmatisierenden Riesen. Auch bedrohen sie ernsthaft die Stabilität einer offenen demokratischen Gesellschaft. All das macht Angst. Hat unsere Welt eine Zukunft, fragt sich der eine; was kommt auf unsere Kinder und Enkelkinder zu, fragt sich die andere.

 

Wer darin auch nach Gott fragt, kann zum Beispiel auf eine Erfahrung stoßen, die Jesus den Jüngern schenkt, als sie in Not geraten. Ein anstrengender Tag geht zu Ende. Als sie ein Boot nehmen, um den See zu überqueren, kommt ein heftiger Sturmwirbel auf. Sie sind ernsthaft bedroht. Jesus aber schläft. Als sie ihn wecken, stillt er sofort den Sturm. Der sicher geglaubte Tod durch Ertrinken ist abgewendet. Vor allem durch sein Verhalten sagt Jesus hier: Gott hat seine Zeit; und für sein Eingreifen sucht er eigene Wege; und findet sie.

 

Wir Menschen können uns mit Vertrauen und Hoffnung zu Gott wenden. Gut, wenn wir dabei Jesus vor Augen haben. Bei seinem angsterfüllten Gebet im Garten Gethsemane offenbart er, dass es für ihn eine Zeit vor dem Augenblick der Angst und eine Zeit nach diesem Augenblick gibt. Unmittelbar bevor steht nun das sichere Todesurteil für ihn. Doch im Hier und Jetzt, im Augenblick seines Gebets wird er von dem Vertrauen getragen, dass die Gegenwart des Vaters keine Frage ist, sondern eine Realität. Es ist dasselbe Vertrauen, das eindrucksvoll aus dem 23. Psalm spricht: Sogar im finsteren Tal der Angst und des Todes bist du da, Gott, bist du bei mir.

Dann geht es nicht mehr um die Frage, was Gott mir ersparen könnte.

 

Und auch im Großen geht es nicht mehr um die Frage, was Gott der Menschheit besser ersparen könnte oder sollte. Nein, es geht vielmehr um die Gewissheit, dass Gott, trotz der Kriege, trotz Pandemien, die unsere Welt immer wieder erschüttern, immer mitten unter uns ist. Und dass er, in den Worten Dietrich Bonhoeffers, auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet.

Im Menschen ist das Gute als Potential angelegt, das er nutzen kann, um seine Welt zu verändern. Darin lagert die Gestaltungsmacht, die die Riesen und die Scheinriesen in der Gegenwart und in der Zukunft bezwingen kann. Der Mensch besitzt die Macht der Entscheidung, das, was das Leben zu zerstören droht und Angst verbreitet riesig bleiben zu lassen, oder es kleiner werden zu lassen. Das Vertrauen zu Gott ist auch ein Vertrauen darauf, dass der Mensch in der Lage ist, die Welt nach dem Willen Gottes verändernd zu gestalten.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:
 

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  2. Chaconne, Yiruma, Yiruma: Best of
  3. River Flows in You, Yiruma, Yiruma: Best of
  4. Fotografia, Yiruma, Yiruma: Best of
  5. Remniscent, Yiruma, Yiruma: Best of
06.08.2020
Jean Félix Belinga Belinga