Der Spucker und das Kreuz

Der Spucker und das Kreuz

Gemeinfrei via unsplash.com (IV Horton)

Der Spucker und das Kreuz
Gedanken im Pflegebett
14.04.2019 - 07:05
07.02.2019
Susanne Krahe
Über die Sendung:

Im Krankenzimmer hängt ein Kruzifix and der Wand. Wenn das in sein Blickfeld rückt, glaubt der Tetraplegiker manchmal, einen Blick des Gekreuzigten zu spüren. Und sein innerer Monolog wird für einen Moment zum Gespräch. Ob der Mann am Kreuz weiß, wie das ist, wenn man sich seine Zukunft ganz anders vorgestellt hat?

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Ich muss immer die Tür ansehen, die unerreichbare Tür, und ein Holzkreuz darüber, an dem ein ausgemergelter Jesus hängt. Beim Anblick des angenagelten Körpers kommt mir der Gedanke, dass der da oben, die auseinandergerissenen Arme und Beine durchbohrt, sich keinen Deut mehr bewegen konnte als ich in meinem Bett. Auch er hatte nur noch seinen Kopf unter Kontrolle. Bis ihm auch der auf die Brust sank, bleiern, kraftlos.

 

Morgens stürmen sie das Zimmer. Sie wecken uns mit Stimmen, die so energisch und so hoch klingen, dass es in den Ohren wehtut. Mit den Vorhängen reißen sie bedenkenlos die Dunkelheit vom Fenster weg. Dann machen sie sich sofort an die Arbeit. Eine von ihnen seufzt kurz vor dem Zupacken laut auf, reibt sich die Hände. Auf, auf! rutscht es einer anderen heraus, und niemand außer uns bemerkt den Hohn in dieser Aufforderung. Keiner von uns kann ihr Folge leisten. Schweißgebadet bleiben wir auf unseren gebrochenen Rücken liegen und erwarten ihren Arbeitseifer, ihre professionelle Menschenliebe, ihren mühevoll in den Mundwinkeln eingeklemmten Ekel. Sie waschen, sie wickeln, sie windeln uns, dass es nur so klatscht. Wäsche und Bettzeug stapeln sich neben den Betten auf dem Boden. Der Horizont wird immer weißer, auch das Fleischfarbene darin erbleicht. Pflegezeit. Und das Waschen ist noch das wenigste. Es gilt, gelähmte Eingeweide zu entleeren und die Ausflüsse derjenigen fortzuschaffen, die sich unkontrolliert entlastet haben. Pflegezeit. Eine Drecksarbeit ist das, die da unter einer Glocke übler Gerüche verrichtet werden muss. Anfangs habe ich die Schwestern mindestens so bedauert wie mich selbst, den Beschmutzten, den Untätigen, den auf immer Flachgelegten und Angewiesenen. Dann stellte sich eine boshafte Häme ein, wenn ich einen Praktikanten schlucken und die Luft anhalten sah. Meine armselige, ungerechte Rache an denen, die schuldlos sind an allem, was mir angetan wurde.

 

 

Ich darf mich nicht beschweren. Die Hände von Schwestern und Pflegern verrichten alle Griffe wie selbstverständlich. Sie arbeiten fehlerfrei. Sie huschen gewandt über meine Haut, um dort letzte Schmutzspuren zu entfernen. Über ihre Temperatur und den Grad der Feuchtigkeit in ihren Poren weiß ich nichts. Aber manchmal verliert sich der gleichmäßige Rhythmus ihrer Bewegungen plötzlich in einer unkoordinierten Hast. Dann möchte ich sie packen und festhalten. Hab ich ihre Hände, denke ich, habe ich auch ihr Gesicht. Ihre Augen. Die Pflegerin vermeidet nämlich jeden Blick von Gesicht zu Gesicht. Sie schaut, wenn sie mich etwas fragt, links neben mein Ohr auf das Kopfkissen, als gebe es dort eine Falte oder einen Fleck zu beanstanden. Dabei liege ich immer frisch, weich und weiß, dank ihrer und ihrer Kolleginnen eingespielten Handgriffe. Nein, ich darf mich nicht beschweren.

 

 

Nach der Morgentoilette wird es wieder still im Zimmer. Der tagtägliche Blickwinkel rückt sich vor meinen Augen zurecht: Ich muss immer die Tür ansehen, die unerreichbare Tür und das Holzkreuz darüber, an dem der ausgemergelte Jesus hängt. Aus der Schwesternküche schlängelt sich Kaffeeduft durch Türspalt und Schlüsselloch, ja, und auch der Geruch von Zigaretten. Das macht Appetit. Aber wir bekommen hier weder Kaffee noch Zigaretten. Weil das nicht gesund ist, erwiderte eine Schwester, als ich sie nach dem Grund für die Restriktionen fragte. „Nicht gesund”! hat sie gesagt, und sah sofort erschrocken aus. Ihr Ton kam wie eine Ladung Häme bei mir an. Da hab ich ihr, obwohl das ungehörig war, den offenbar weniger ungesunden Kakao in ihr hübsches, glattes Gesicht gespuckt, ja, gespuckt! In breiten Fäden lief die braune Suppe ihre Wangen herunter, und tropfte auf das frisch bezogene Oberbett. Zuerst sah sie so aus, als wolle sie mich weiterfüttern. Der Löffel mit dem Brei, den sie Müsli nennen, traf unvorbereitet meine Schneidezähne und prallte davon ab. Müsli auf dem Bauch, Müsli auf dem weißen, gestärkten Patientenhemd. Da fing die Schwester an zu weinen, stellte den Teller weg und verschwand aus dem Zimmer. Ihre Kolleginnen marschierten zu dritt auf, um mein Oberbett frisch zu beziehen, mich in ein frisches Hemd zu wursten und den Dreck wegzuwischen, den ich verursacht hatte.

 

Seitdem spucke ich öfter. Nicht dauernd und nicht bei jeder Fütterung, nicht zu voraussagbaren Momenten und nicht aus bestimmten Stimmungen heraus, nicht einmal täglich. Meine Attacken sind unplanbar, völlig unberechenbar, sagen sie. „Er ist einfach nicht zu durchschauen, beschweren sie sich. „Wir sind vor seinen Anschlägen nie sicher”, klagen sie, „wir wissen nicht, wie wir uns schützen und wehren sollen gegen ihn. Wir haben ihn nicht unter Kontrolle.” Nicht unter Kontrolle! Ich muss lachen, wenn ich das höre. Als ob wir nicht alle wüssten, wer den letzten, den entscheidenden Hebel in seiner intakten Hand hat! Doch es tut gut, sich für ein paar Sekunden in eine Hand zu versetzen, die auf dem Steuer liegt. Selten, ganz selten sehe ich, dass die Hand zittert und schwitzt.

 

 

Natürlich muss ich die Häufigkeit meiner Speichelzusammenballungen und mündlich-nonverbalen Attacken sorgfältig limitieren und die Ausbrüche der mir verbliebenen, feuchten Energien meiner Kehle geschickt dosieren. Sonst werde ich zum Fall für die Psychiatrie erklärt und auf eine andere Station abgeschoben. Oder sie binden mir auch hier die Stirn fest, drücken mir den Hinterkopf aufs Kissen, was meine Treffsicherheit erheblich gefährden würde. Möglicherweise flögen die herausgeschossenen Brocken nur senkrecht in die Luft und landeten wieder in meinem Gesicht. Denn soviel ist sicher: Der Schwerkraft entkomme ich nicht. Der Schwerkraft entkommt niemand, nicht mal der Angenagelte an seinem Kreuz.

 

Also halte ich mich zurück, beherrsche mich. Selbstbeherrschung, ja, die habe ich gelernt!

Manchmal habe ich selbst genug von meinen Attacken. Erstens treffen sie Unschuldige, zweitens ändern sie nichts an meiner ausgelieferten Lage, drittens darf ein Patient den guten Willen seiner Pfleger auf die Dauer nicht überstrapazieren, ohne Rachegelüste zu wecken. Deshalb bleibe ich wochenlang brav, lächle, lecke widerstandslos die Speisen vom Löffel, schließe die Lippen fest um seine Ränder, sauge, kaue, schlucke gehorsam und spüre angewidert, wie mir das Essen langsam in den Magen rutscht, wo es unwiderruflich seinen Weg durch den Verdauungsapparat antritt. Bis es dann irgendwann meinen dumpfen, gefühllosen Körper wieder verlässt, auf diese unwürdige und beschämende Weise, an die ich mich nie gewöhnen werde. Nie!

 

Aber irgendwann ziehen meine guten Vorsätze sich wieder zurück und liefern sich dem Zwang aus, mich gegen ein Gegenüber zu wehren, das mir nur helfen will.

Da die Pflegerinnen mir nicht ins Gesicht sehen, fallen ihnen die Signale meiner Vorfreude nicht auf; ein wohliges Glühen meiner Wangen, ein heller Punkt in meiner Pupille. Es gelingt mir immer wieder, mein Vorhaben vor den Fütterschwestern zu verbergen. Sie werfen mir die Beute zwischen die Zähne und ich schnappe sie auf, aber ich behalte sie in der Mundhöhle, ich schiebe sie mit meiner Zunge von einer Backentasche in die andere und forme ein mit Speichel durchtränktes, kleines Geschoss daraus. Dabei blicke ich so unschuldig aus meiner Patientenwäsche, dass auch die wachsamste Krankenschwester keinen Verdacht schöpft.

Bei einem Praktikanten, der seine Aufgabe nahezu zärtlich erfüllte, habe ich mich sogar mit einem Lächeln bedankt. Er lächelte zurück. Aber da überkam es mich wieder. Gerade als der Junge mir mit einem neuen Löffel Verpflegung kommen will, hole ich tief Luft und staue sie hinter meinem Speisekloß auf, um beide auf einmal mit einem kurzen, intensiven, schneidenden Blasen bei gleichzeitigem Auseinanderreissen von Ober- und Unterkiefer aus meinem Gesicht zu entlassen. Zack, die Matsche wird in das Gesicht meines Gegenübers befördert. Der Praktikant schreit auf. Tränen in seinen Kinderaugen. In diesem Moment hat dieser Junge mir leid getan, und es kam mir vor, dass Jesus an seinem Galgen den Kopf hob, um uns zu beobachten. Aber als der Praktikant aus meinem Blickwinkel verschwunden war und die Sicht auf das Kreuz wieder frei gegeben hatte, blickte der Gefolterte wieder zu Boden.

 

 

Alle paar Stunden muss ich gedreht werden. Damit keine Druckstellen auf der Haut entstehen. Damit ich nicht allmählich verfaule. Dann wechselt mein Horizont wie ein Diapositiv. Der Projektor wirft das nächste Bild an die Leinwand. Die Tür mit dem Holzkreuz verschwindet vorübergehend im Kasten und ins Licht rückt, wenn ich auf die linke Seite gelegt werde, ein alter Mann und verhungert langsam vor meinen Augen. Er hat keine Stimme mehr. Er atmet ein Klagen. Niemand dreht ihn mehr, und manchmal meine ich schon, sein Verwesen riechen zu können, den Tod, wie er als Schwaden aus Fäulnis unter der Decke hervorströmt. Etwa zwei Stunden lang muss ich sein endloses Sterben beobachten. An diesem Leidensgenossen, meinte einmal ein Besucher, könnte ich lernen, dass es immer noch schwerere Schicksale gibt als das eigene. Aber erstens interessieren mich fremde Schicksale nicht, und zweitens habe ich keine Lust mehr, zu lernen. Tausend Mal hat mein Gedächtnis mich zu dem Unfall zurückgezerrt, der mich aus meinem Leben herausgeschleudert hat. Das Einzige, was daraus zu lernen war: Es braucht nichts Spektakuläres, um den Rücken gebrochen zu kriegen. Ein Stoß, ein Flug durch die Luft, aber kein Aufprall im Himmel. Ob der Mann am Kreuz weiß, wie das ist, wenn man sich seine Zukunft ganz anders vorgestellt hat? Er müsste es wissen, denke ich. Wenn überhaupt jemand es weiß, dann er.

 

Rechts neben mir liegt ein Querschnitt, besser: Wann immer ich zu ihm umgedreht werde, sitzt er im Bett. Er kräftigt die Muskeln seines Oberkörpers, während alles, was unterhalb seines Bauchnabels angebracht ist, immer dünner und schlaffer wird. Es wird ihm mit jedem Millimeter, den seine Armmuskulatur anschwillt, fremder. Er erzählt mir von seinen ehrgeizigen Plänen, während mir nur das Herunterklappen der Augenlider bleibt, um seiner Ruhelosigkeit zu entfliehen. Sportler will er werden: Speerwerfer im Rollstuhl, oder beinamputierter Basketballer. Früher habe er nicht viel auf körperliche Ertüchtigung gegeben, aber jetzt, jetzt! Sein Unfall habe ihm die Augen geöffnet für den Wert des menschlichen Bewegungsapparats, prahlt er, und ich antworte müde, dann könne er sich ja glücklich schätzen, und der Idiot sagt allen Ernstes: So ist es. Ich bemitleide ihn nicht, ich beneide ihn nicht. Was mir bleibt, ist mein Spucken. Gern würde ich ihm von Zeit zu Zeit meine Haferflocken an die wohlgeformte Brust feuern, aber das ist unmöglich. Zum Füttern legen sie mich wieder auf den Rücken, und dann ist der Querschnitt von meiner Leinwand verschwunden und fällt als Zielscheibe aus.

 

 

Der Querschnitt sagt, er sehe keinen Sinn in meinem Verhalten, er findet es kindisch. Die Schwestern nennen es undankbar. Der Arzt schüttelt den Kopf und sagt gar nichts. Der Psychologe meint, ich müsste über meine Aggressionen reden, die er zum Grund für meine Spucklust erklärt hat, und die Sozialarbeiterin verlangt von mir, dass ich mich, gefälligst, in die Lage der Pflegekräfte versetzen soll, in den Schichtdienst, die Überstunden und die Unterbezahlung. Aber wie soll ich, der sich nicht mal aus eigener Kraft auf den Allerwertesten setzen kann, mich auch noch „versetzen”? Statt diese Frage zu beantworten, rufen sie eine Pfarrerin. Die schlecht frisierte Frau erläutert, ich müsse Erbarmen finden mit den Stärkeren. Sie reckt und streckt ihren Körper in die Höhe, als müsse sie das Gefälle zwischen ihrem und meinen Kopf, zwischen ihren und meinen Gedanken noch etwas zuspitzen. „Auch der Behinderte braucht Erbarmen!” beharrt sie und senkt ihren Blick auf meinen gefühllosen Bauch. Erbarmen mit den Nichtbehinderten. Erbarmen mit den Heilen, die nicht wissen, was sie tun sollen. Beim Anblick des ausgemergelten, angenagelten Jesus an seinem Holzkreuz kommt mir der Gedanke, dass der da oben, die auseinandergerissenen Arme und die Beine durchbohrt, sich keinen Deut mehr bewegen konnte als ich in meinem Bett. Auch er hatte nur noch seinen Kopf unter Kontrolle. Bis ihm auch der auf die Brust sank, bleiern, kraftlos. Darüber geht jeden Tag die Sonne im Zimmer unter.

 

 

Irgendwie kommen meine schlaflosen Augen immer wieder auf dem Kreuz zum Stillstand. Es liegt daran, dass ich, addiert man die Zeit, weit länger auf dem Rücken als auf den Seiten zubringen muss. Alles in allem sind es bestimmt acht Stunden, die Nacht nicht eingerechnet. Dann heftet ein Lichtrest sich ausgerechnet an den gehenkten Christus; den einzigen Orientierungspunkt im pechschwarzen Raum. Immer diese Perspektive. Ein Gekreuzigter im Horizont. Manchmal denke ich: Vielleicht ist es ein Trick des Personals, das mir das Spucken ab-, oder der Pfarrerin, die mir die Demut angewöhnen möchte. Wenn die wüssten! Wenn die ahnten, welche Gedanken ich mir in meinem intakten, fort und fort denkenden Kopf mache! Gestern Abend habe ich erwogen, ob der Angenagelte nicht auch gern auf die gespuckt hätte, die ihn von der steinigen Erde aus begafften. Er hätte es leichter gehabt als ich, weil in seiner Position die Schwerkraft nicht gegen ihn gearbeitet hätte. Aber dann fiel mir ein, dass ihm die Schleimhäute längst ausgetrocknet waren, weil Wasser und Blut in die Beine gesackt sein und sich dort gestaut haben mussten. Vielleicht hat er es sogar versucht, aber einfach nicht genug Spucke zusammengekriegt. Oder das mühsam gesammelte Wasser lief ihm vorzeitig aus den Mundwinkeln, weil seinem Gaumen die Kraft ausgegangen war. Ich musste lachen, als mir einfiel, dass er womöglich noch hilfloser war als ich, und den Querschnitt, der gerade seine depressiven fünf Minuten hatte, hörte ich hasserfüllt fragen, was lachst du denn, was lachst du so dämlich, was gibt es denn zu lachen.

 

Jetzt kommen sie wieder. Es rollt und stampft über den Flur. Bedrohlich. Eine der Schwestern klatscht draußen in die Hände, bevor sie die Türklinke herunterschlägt. Es ist die, die immer einen flotten Spruch unter ihrer Uniform hervorzieht. Einmal, beim Abziehen eines über und über beschmutzten Bettes, rief sie aus: Blood, sweat and tears. Ja, Blut, Schweiß, Tränen.

Sie zieht die Vorhänge zurück, um einen trostlosen Morgen durch das Fenster einsteigen zu lassen. „Guten Morgen!” brüllt sie, dass der letzte Traum seine Sachen packt. Und wieder dies Klatschen. Wieder diese Munterkeit, die einen umbringt. Ein gedankenloses „Aufauf!” kriecht uns unter die Haut, alle reagieren betreten, auch Jesus an seinem Foltergerät ist es sichtlich unangenehm, der taktlosen Aufforderung nicht Folge leisten zu können. Ich höre, wie etwas von der Wand tropft und zu einer kleinen Pfütze vor der Tür zusammenfließt. Sie werden es wegwischen wie allen Dreck der Erde. Aber der Mann am Kreuz und ich, der Mann im Pflegebett, geben nicht so leicht auf. Wir werden weiter weinen.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

 

Musik dieser Sendung:

  1. Hélène Grimaud & Sol Gabetta, Claude Debussy, Sonata for Violoncello an Piano in D minor, duo
  2. Hélène Grimaud & Sol Gabetta, Dmitri Shostakovich, Sonata for Violoncello and Piano in D minor op. 40, duo
     
07.02.2019
Susanne Krahe