Die Verteidigung des Heiligen

Feiertag

Gemeinfrei via pixabay.com (Christine Sponchia)

Die Verteidigung des Heiligen
Auf der Suche nach Sinnbildern in einer pluralen Gesellschaft
25.02.2018 - 07:05
10.01.2018
Diederich Lüken
Über die Sendung:

Nach wie vor sagen viele Menschen den Satz: Das ist mir heilig. Doch oft ist nicht mehr die große Erzählung gemeint oder der Gegenstand, der einstmals einen ideellen Wert repräsentierte. Anderes ist an diese Stelle getreten, ist mit Emotion und mit Bedeutsamkeit aufgeladen. Heiligkeit für den zweiten, etwas längeren Blick.

Der "Feiertag" im DLF zum Nachhören und Nachlesen.

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Eine der beliebtesten Fernsehsendungen am Nachmittag trägt den Titel „Bares für Rares“. Dargestellt wird, wie die Teilnehmer einen antiken oder kuriosen Gegenstand aus ihrem Besitz verkaufen wollen. Vor den Verkaufsverhandlungen wird der Besitzer gefragt, was er mit dem erlösten Betrag anfangen will. Am Häufigsten kommen zwei Antworten vor: Das Geld kommt in die Urlaubskasse oder es dient zu einem gemeinsamen Essen in einem teuren Restaurant. Die vorgestellten Gegenstände sind manchmal sehr alt, und oft sind sie mit einer Geschichte verbunden. Zum Beispiel hat jemand eine Medaille mitgebracht und erzählt, wie der Urgroßvater sie 1907 als Dank für eine außerordentliche Leistung von der russischen Regierung erhalten hat. Die Medaille wird von Generation zu Generation weitervererbt, von einem Erstgeborenen auf den nächsten. Doch nun gibt es niemanden mehr, der sie zu schätzen weiß. Der letzte Erbe will dieses wertvolle Erbstück veräußern, vielleicht um ein paar Tage länger im Urlaub zu verweilen oder mit seiner Lebensgefährtin ein paar schöne Stunden im Restaurant zu verbringen. Für den Urgroßvater, den Großvater und den Vater war die Medaille ein Heiligtum – nicht nur das Erinnerungsstück als solches, sondern auch die damit verbundene Geschichte. Nun wird das Heilige an diesem Gegenstand nicht mehr empfunden. Anderes ist an seine Stelle getreten.

 

 

Ein Gegenstand wird veräußert, der dem Besitzer einstmals heilig war – man kann diesen Vorgang als Entheiligung ansehen, als mangelnden Respekt vor dem, was früheren Generationen als heilig galt. Diese Respektlosigkeit gegenüber dem Heiligen wäre dann ein Symptom unseres gesellschaftlichen Zustandes. Was sich nicht verwerten lässt, ist wertlos. Solange das Heilige keinen Gewinn abwirft, kann man es vernachlässigen, verkaufen und sogar verhöhnen. Ein weiteres Symptom für diese Respektlosigkeit gegenüber dem Heiligen wäre die Abschaffung des Gesetzes gegen die Blasphemie, also gegen die Herabwürdigung Gottes. Was früher einmal strafbewehrt war, geht heute straflos aus und gilt oft als schick. Karikaturen, in denen Jesus Christus verhöhnt wird? Aber bitte, das Gelächter ist den Zeichnern sicher. Spott ausgießen über Gott, über Jesus, über den Glauben, über die Kirche, mithin über alles, was im Christentum heilig ist, findet sich in fast jedem Kabarett- und Comedyprogramm. Nicht einmal der Mitmensch ist noch heilig, er wird degradiert zu einem Wirtschaftsfaktor. Seine Würde, die doch unantastbar, also heilig sein soll, wird im Getriebe des späten Kapitalismus aufgerieben zugunsten höherer Gewinne und der Steigerung des shareholder value.

 

 

Die Respektlosigkeit gegenüber dem Heiligen legt die Vermutung nahe, dass es in unserer Gesellschaft überhaupt nichts mehr gibt, was den Menschen heilig ist. Das würde dem Leben eine wesentliche Dimension nehmen und es auf das rein Biologische zurückwerfen – was einige Wissenschaftlicher ja auch fleißig versuchen. Richard Dawkins zum Beispiel, der englische Biologe und Evolutionsforscher, will das gesamte Leben, sei es individueller oder gesellschaftlicher Art, auf biologische Mechanismen reduzieren. In der Logik dieser Auffassung wird dann die Frage nach dem Heiligen negativ beantwortet. Es gibt nichts Heiliges außerhalb des menschlichen Denkens und Empfindens, so müsste man Dawkins interpretieren. Das Leben wird dadurch eindimensional und verliert seine Sinnhaftigkeit. Der Mensch wird zu einem nackten Affen, wie es der Biologe Desmond Morris bereits 1967 formulierte. Das ist für viele eine höchst unbefriedigende Vorstellung. Die Suche nach dem Heiligen gehört zu der Grundausstattung des Menschen. Sie zu verneinen hieße, einen wesentlichen Aspekt des Menschlichen auszublenden.

 

Es ist darum nicht denkbar, dass der Mensch in der westlichen Gesellschaft tatsächlich auf das Heilige verzichtet. Man muss es nur dort suchen, wo es ist; da, wo die Menschen Zeit, Arbeit, Geld und Lebenskraft investieren. Dort kann man Phänomene ausmachen, die zu Sinnbildern des Heiligen werden. Sie ermöglichen den Kontakt mit dem, was den Menschen zum Menschen macht; sie sind Symbole für das, was dem menschlichen Leben einen Sinn über das biologisch Gegebene hinaus verleiht. Das Heilige ist keineswegs verschwunden, es hat sich nur verlagert. Nach wie vor ist den Menschen vieles heilig. Doch es sind für viele nicht mehr die großen religiösen Bezüge, die ihnen heilig sind; es ist nicht mehr der alles umfassende Weltentwurf, nicht mehr die große, alles erklärende Erzählung zum Beispiel der Bibel. Es sind auch nicht mehr die Gegenstände, die einstmals einen ideellen Wert repräsentierten und Generation um Generation das vermittelten, was einem Menschenleben den Aspekt des Heiligen verlieh. Anderes ist an diese Stelle getreten, oftmals schwer zu bemerken, aber für den unvoreingenommenen Betrachter deutlich sichtbar.

 

 

Um das Heilige in unserer scheinbar so entheiligten Gesellschaft zu erkennen, muss zunächst geklärt werden, was wir meinen, wenn wir das Wort heilig benutzen. Heilig ist das, was mich heil sein lässt. Dieses Heilsein betrifft die Gesamtheit meiner Existenz. Meine Gefühle werden geheilt durch die Begegnung mit dem Heiligen, meine Gedanken werden heil, sogar körperlich kann sich die Begegnung mit dem Heiligen heilend auswirken. Heil wird das Leben immer dann, wenn es seine Sinnhaftigkeit erfährt. Wenn man glauben kann, das Leben hat einen Sinn, kann man ungeheuer viel ertragen, auch das, was das Leben zur Last werden lässt. Diese Sinngebung kann das Leben jedoch nicht aus sich selbst heraus stiften; niemand kann sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Sinnlosigkeit ziehen. Das sinnstiftende Heilige muss von einer Quelle kommen, die größer ist als das Leben selbst. Deshalb gilt in so gut wie allen Religionen, dass der Sinn des Lebens vom Göttlichen ausgeht. Heilig, Heil stiftend, Sinn verleihend ist in den monotheistischen Religionen Gott. Darin sind sich Judentum, Islam und Christentum einig. „Heilig bin ich, der Herr – euer Gott!“ heißt es im Alten Testament. Er ist es, der in der Bibel das Heil der Menschen erschafft. So konstituiert er das Heilige. Dieses Heilige kann man nicht be-greifen im doppelten Sinn des Wortes: man kann es nicht behandeln, nicht manipulieren und man kann es nicht in letzter Konsequenz verstehen. Wie aber das Heilige auch immer definiert wird: Es ist das, was der Mensch unbedingt für sein Glück, für ein gelingendes Leben und getrostes Sterben braucht. Es begegnet ihm ohne sein Zutun, fasziniert ihn, erschreckt ihn vielleicht und bringt ihn dazu, sein Leben zu ändern.

Im Neuen Testament gibt es zwei Erzählungen, die dafür besonders erhellend sind. Paulus, ein Verfolger des jungen Christentums, erfährt auf einer Reise zu den Verstecken der verhassten Christen eine Vision, in der ihm Jesus Christus selbst erscheint. Damit überwältigt ihn der Gottessohn, der als der Heilige schlechthin anzusehen ist. Zutiefst erschüttert und erschrocken, erblindet an Leib und Seele, sucht die Nähe der Christen und wandelt sich von einem Verfolger zu einem Verkündiger des Christentums (Apostelgeschichte 9). Das zweite Beispiel hat wieder mit Paulus zu tun. Mit seinem Mitstreiter Silas wird er ins Gefängnis geworfen, wird gefesselt und gefoltert. Anstatt aber zu klagen und wütend herumzuschreien erzählen die beiden den Mitgefangenen von Jesus Christus und singen Psalmen. Ein kleines nächtliches Erdbeben lässt schließlich die Türen des Gefängnisses aufspringen und die Fesseln der Gefangenen lösen sich. Der Gefängnisaufseher erwacht und wähnt die Gefangenen auf der Flucht. Weil er den Zorn seines Vorgesetzten fürchtet, ist er im Begriff, Selbstmord zu begehen, als Paulus ihm zuruft: „Tu das nicht, wir sind alle hier!“ Damit begegnet dem Gefängnisaufseher das Heilige. Es erschüttert ihn so sehr, dass er augenblicklich beschließt, selbst ein Christ zu werden, und er lässt sich und seine Angehörigen taufen. Solche Erschütterungen sind nicht auf den christlichen Glauben beschränkt. Von anderen Religionsstiftern wird Ähnliches berichtet. Auch ganz normale Menschen, von denen die Weltgeschichte keine Notiz nimmt, erleben das Heilige als lebensverändernde Zuwendung einer Kraft, die das Menschliche übersteigt.

 

Wenn man sich auf die Suche nach den Heiligtümern unserer Zeit und unserer Gesellschaft macht, muss man fragen: Wer oder was entscheidet darüber, ob mein Leben sinnvoll ist? Wer so fragt, stößt recht bald auf Heiliges. Das aber ist selten so einschneidend wie bei Paulus oder seinem Gefängnisaufseher. Man findet es im scheinbar Alltäglichen; und es kann etwas sehr Unterschiedliches sein. Eines davon bestimmt das Angebot im Supermarkt. Eines Morgens gehe ich dahin, um für das Mittagessen einzukaufen. Ich verirre mich in die Abteilung für Tiernahrung. Das Angebot ist überwältigend. Das Haustier ist den Besitzern offensichtlich viel Geld wert. Es braucht ausgewählte Nahrung; mehr noch, es beansprucht auch sonst viel Zeit und Mühe. Aber das lohnt sich: Das Haustier ist ein Kamerad in der Einsamkeit, ein Partner für zärtliche Gefühle. Es befriedigt die Sehnsucht, für jemanden zu sorgen. Ja, das Haustier ist den Besitzern heilig. Das ist durchaus nichts Ungewöhnliches. Heilige Tiere gibt es in den Religionen dieser Welt immer wieder. Wem fallen da nicht die geradezu sprichwörtlichen heiligen Kühe Indiens ein?!

Heilig kann auch die Liebe sein, wenn ein Mensch sich neu und anders erfährt in den Augen und im Gemüt eines Partners und wenn er in der Zweisamkeit neuen Lebenssinn empfängt.

Der Höhepunkt der Heiligkeiten ist für viele Menschen das eigene Ich. Die eigenen Möglichkeiten zu erkennen, sie auszuleben, sie zu erweitern, sei es durch Sport, sei es durch Kunst, sei es im Beruf, sei es in der Liebe, das ist das Wesentliche; und wenn es gelingt, dann jagt es Schauer der Ergriffenheit über den Rücken – Ergriffenheit über sich selbst und die eigenen Leistungen.

 

Es ist nun billig, sich darüber zu erheben und auf dem hohen Ross einer religiösen oder esoterischen Erhabenheit das Ergriffensein durch Haustiere, Urlaube, Restaurantbesuche und das eigene Ich zu diffamieren. Es gilt im Gegenteil, diese Heiligtümer genau anzusehen und zu würdigen. Dann kann man entdecken, dass sie Symbole des einzigen Heiligen sein können, das zu verehren sich lohnt. Das wird im Folgenden dargestellt an dem Beispiel des zentralen Heiligtums des heutigen Menschen, des eigenen Ich. Wenn nämlich das eigene Ich heilig ist, dann tut es jeder, der „Ich bin“ sagt, dem gleich, der seine Weisungen an die die Menschen mit seinem „Ich bin“ eröffnet: „Ich bin der Herr, dein Gott!“ So beginnen die Zehn Gebote. Ja, nur deshalb, weil das Ich Gottes die Welt erschafft und durchwaltet, kann ein Mensch Ich bin sagen; denn er ist in seinem Ich bin ein Ebenbild dessen, der als erster gesagt hat: „Ich bin“, ein Ebenbild Gottes. So wird die Heiligkeit des Ich durchlässig für die Heiligkeit Gottes, es wird zu einem Symbol, das das Göttliche repräsentiert. Dabei wird aber auch deutlich, dass dieses „Ich bin“ nicht zu einem platten Egoismus führen darf; dann nämlich wäre es kein Symbol mehr, sondern würde den Platz des Symbolisierten selbst einnehmen; das Ich würde sich selbst zum Gott machen. Damit würde das „Ich bin“ zum Götzendienst, zur Ichvergötzung. Das mag bei vielen Menschen so geschehen. Indem ich aber erkenne, dass das kleine menschliche Ich ein Symbol des einen großen heiligen Ichs ist, wird es transparent für die göttlichen Eigenschaften dieses einen großen Ichs, als da sind Liebe und Gerechtigkeit, Friede und universelle Teilhabe an allem Lebendigen. Führt es zu dieser universellen Teilhabe an allem Lebendigen, kommt das Ich zu seiner ursprünglichen Bestimmung und wird zu einem beredten Zeugnis des Heiligen, der dieses Ich konstituiert hat.

Das ist nur ein Beispiel, ein zentrales allerdings. Viele andere Dinge können als heilig erlebt werden. Der Soziologe und Theologe Hans Joas beschreibt in einem Interview, dass der Kassenbon eines Restaurantbesuches mit der Liebsten den Charakter des Heiligen bekommen kann, weil bei diesem Besuch die Liebe aufgelebt ist. Man hebt diesen Kassenbon auf und hütet ihn als einen Schatz.

 

Wesentlich ist die Erkenntnis, dass alles, was in dieser Welt als heilig erlebt wird, seine Heiligkeit nicht in sich selber trägt, sondern dass sie abgeleitet ist von dem einen Heiligen, von Gott. Das ist auch dann noch der Fall, wenn dieser Gott gleichsam anonym bleibt, das heißt, wenn es nicht offensichtlich ist, dass hinter dem Heiligen der Heilige steht. Die Dinge weisen dennoch im Augenblick ihrer Heiligkeit über sich selbst hinaus auf den hin, der sie zum Ausdruck seiner Existenz und seiner Liebe bestimmt hat, auf Gott; sie werden zu Symbolen des Göttlichen. Kein Ding, keine Erscheinung hat diesen Symbolcharakter aus sich selbst, sondern immer nur gnadenhalber aus der Zuwendung Gottes zu der Person, die die Heiligkeit dieses Dinges oder dieser Erscheinung erfährt. Indem sie über sich hinausweisen und zu Symbolen des Heiligen werden, reden sie zu dem Menschen, der sie als heilig erlebt, und wecken seine Aufmerksamkeit für das, was sein Leben sinnvoll macht. Es ist die Aufgabe dessen, der so angerührt wurde, dem nachzugehen und den zu suchen, der ihn durch dieses Symbol angesprochen hat. Dass diese Aufgabe offenbar nur von wenigen gesehen wird, gehört zur Tragik der modernen Gesellschaft.

 

 

In der Fernsehsendung „Bares für Rares“ bieten die Teilnehmer den Händlern an fünf Tagen in der Woche Gegenstände an, die einmal den Charakter des Heiligen hatten. Der Verdacht, das sei ein Symptom, dass ihnen nichts mehr heilig ist, hat sich als falsch erwiesen. Wenn hier ein einst heiliger Gegenstand verkauft wird, dann bedeutet dies nicht den Verzicht auf das Heilige schlechthin. Sondern die verkaufswilligen Besitzer tauschen nur das alte Heiligtum gegen ein neues um. Nicht mehr der ererbte Gegenstand ist heilig, der Urlaub ist es, oder das gemeinsame Essen in einem schicken Restaurant. Das allerdings ist so heilig, dass man sich von ererbten Gegenständen ohne weiteres trennen kann, um dieses neue Heilige zu erwerben und zu genießen. Aus einem toten Gegenstand wird eine lebendige Erfahrung. Der Urlaub, das besondere Essen, das alles kann so zu einer lebendigeren Beziehung zu dem Menschen führen, mit dem gemeinsam man in Urlaub fährt oder die teure Mahlzeit genießt. Es kann die Liebe stärken. Dann bekommt das Eingetauschte den Charakter eines Symbols und weist über sich selbst hinaus, zunächst auf den Partner, mit dem zusammen man es erlebt. Das aber könnte zu einer Begegnung mit einem andersartigen, aber höchst lebendigen und gegenwärtigen Heiligen werden, zu einem neuen Fingerzeig auf den hin, der mit Recht von sich sagt, dass er der Heilige ist, zu Gott. Und von dem viele Menschen sagen: Er ist die Liebe.

 

 

 

 

 

Musik dieser Sendung:

  1. Mario Castelnuovo-Tedesco, Complete Music for Two Guitars 1, Prelude No. 1
  2. Mario Castelnuovo-Tedesco, Complete Music for Two Guitars 1, Fugue No. 2
  3. Mario Castelnuovo-Tedesco, Complete Music for Two Guitars 1, Prelude No. 4
  4. Mario Castelnuovo-Tedesco, Complete Music for Two Guitars 1, Prelude No. 6
  5. Mario Castelnuovo-Tedesco, Complete Music for Two Guitars 1, Prelude No. 12
  6. Mario Castelnuovo-Tedesco, Complete Music for Two Guitars 1, Sonatina Canonica, Mosso, grazione e leggiero


 

10.01.2018
Diederich Lüken