"Die Welt hochwerfen"

"Die Welt hochwerfen"

Gemeinfrei via unsplash.com (Zoltan Tasi)

"Die Welt hochwerfen"
Hilde Domin zum 110. Geburtstag
28.07.2019 - 07:05
13.06.2019
Günter Ruddat
Über die Sendung:

Zum 110. Geburtstag der Dichterin Hilde Domin (27.7.1909 – 22.2.2006) erinnert Günter Ruddat unter dem Vorzeichen eines ihrer zum Denken und Handeln anstiftenden Gedichte "Die Welt hochwerfen" an die Odyssee ihres bewegten Lebens als Jüdin zwischen Exil und Heimat: Flucht aus Nazi-Deutschland nach Italien und dann England, in die Dominikanische Republik und zuletzt die „entscheidende Rückkehr“ nach Deutschland, ins Wort der Muttersprache.

Sendung nachhören

 

Sendung nachlesen:

Auf meinem Schreibtisch habe ich auf einer „Literarischen Ansichts-Karte“ (1)

das folgende kurze Gedicht (2) immer vor Augen:

 

Wer es könnte

Wer es könnte

die Welt

hochwerfen

dass der Wind

hindurchfährt

 

Die Zeilen stammen von der Dichterin Hilde Domin.

Gestern vor 110 Jahren ist sie geboren, am 27. Juli 1909.

„Wer es könnte“ – dieses Gedicht erinnert mich Tag für Tag an den Wunsch,

die Welt mit schöpferischer Phantasie neu ins Spiel zu bringen,

erinnert mich an die unverbrüchliche Sehnsucht,

dass sich etwas ändert, etwas in Bewegung kommt –

auf diesem Erdball und mit allem, was auf ihm lebt,

„damit es anders anfängt mit uns allen“.

So die letzte hoffnungsvolle Zeile des Gedichts „Abel, steh auf“,

mit dem Hilde Domin in der Regel ihre Lesungen beendete.

 

Zugleich erinnere ich mich an eine missa poetica (3),

an einen literarischen Gottesdienst im Sommer 2007:

Auf dem Evangelischen Kirchentag in Köln, ihrer Geburtsstadt,

da wird im Jahr nach ihrem Tod im Februar 2006

ein besonderes „Jahrgedächtnis“, gefeiert.

Der Kristallsaal im Congress-Centrum der Kölner Messe

kommt den Erwartungen an die Inszenierung einer Lesung sehr entgegen.

Einfach ist die Bühne gestaltet, im Hintergrund ein riesiges Faksimile,

das handgeschriebene Gedicht von Hilde Domin,

dem die Zeile „die Welt hochwerfen“ entstammt.

Dazu ein Bistrotisch; ein alter Schreibtisch mit Stuhl,

Leselampe und gelber Rose…

Instrumentalmusik lädt ein.

 

Ihre Worte, ihre Gedichte und Gedanken, wollen beflügeln,

Ja! Die Welt hochwerfen…

Solche Worte können helfen, das eigene Leben wahrzunehmen,

den Blick auf die Wirklichkeit nicht nur zu klären,

sondern ihn mit Weisheit und Witz aufzuhellen und zu beleben.

So ist auch ihre Dichtung wie ein Mosaik,

in dem sich facettenreich und vielfach gebrochen ihr Leben spiegelt.

Ihr Weg durch ein „Leben als Sprachodyssee“, wie sie es ausdrückt,

beginnt in Köln. Da wird sie als Hilde Löwenstein

in einer wohlhabenden Familie jüdischer Herkunft geboren,

in der Religion aber keine besondere Bedeutung hat.

Ihr Vater ist der Rechtsanwalt Eugen Siegfried Löwenstein aus Düsseldorf,

ihre Mutter Paula, geborene Trier,

eine ausgebildete Sängerin aus Frankfurt am Main.

Die Eltern werden als untrennbare Einheit erlebt,

sie werden ihr in Gerechtigkeitssinn, Selbstlosigkeit und Temperament zum Vorbild.

 

Irgendwann war ich zu hause, auch gut zu hause.

Das war in Köln, in der Riehler Straße.

Dort haben mich meine Eltern mit dem Vertrauen versorgt,

dem Urvertrauen,

das unzerstörbar scheint und aus dem ich die Kraft des >Dennoch< nehme. (4)

 

Hilde Domin verlebt Kindheit und Jugend in Köln,

1912 wird ihr Bruder Johnny geboren.

Während der Grundschulzeit erhält sie Privatunterricht

und macht schließlich 1929 Abitur an einem humanistischen Mädchengymnasium.

Sie studiert zunächst in Heidelberg, Köln, Bonn und Berlin Jura

und dann Nationalökonomie, später Soziologie und Philosophie.

1932 legt sie in Heidelberg ihr Examen ab.

Erst da löst sie sich von ihrer Heimatstadt Köln,

von der sie Jahre später –

nach Nazi-Herrschaft und Zweitem Weltkrieg - sagen wird (5):

 

Köln

 

Die versunkene Stadt

für mich

allein

versunken.

 

Ich schwimme

in diesen Straßen.

Andere gehn.

 

Die alten Häuser

haben neue große Türen

aus Glas.

 

Die Toten und ich

wir schwimmen

durch die neuen Türen

unserer alten Häuser.

 

Kurz vor Abschluss ihres Studiums in Heidelberg

lernt Hilde Löwenstein am ersten Tag des Sommersemesters 1931

ihren späteren Mann, Erwin Walter Palm, kennen,

einen jüdischen Studenten der klassischen Archäologie aus Frankfurt.

Das „Lebensgespräch“ beider beginnt.

Ein Jahr später, 1932,

das Paar rechnet bereits mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten,

verlassen sie vorausschauend Deutschland, „ehe wir gestoßen werden“, sagen sie.

Die Sehnsucht Palms nach dem klassischen Italien führt das Paar ins Exil,

zum Auslandsstudium nach Florenz und Rom.

Zugleich drängt sie auch ihre Eltern zur Flucht,

die noch 1933 über Belgien und Holland nach England gelingt.

Aber auch in Italien nehmen ab 1934 die Repressalien gegen Juden ständig zu.

Hilde Löwenstein schließt in Florenz ihre staatswissenschaftliche Promotion ab,

die angebotene Dozentur nimmt sie nicht an.

Am 30. Oktober 1936 heiratet das Paar in Rom.

Aus Hilde Löwenstein wird Hilde Palm.

Für den gemeinsamen Lebensunterhalt erteilt sie Deutschunterricht

und übersetzt die Forschungsarbeiten ihres Mannes.

Zeitlebens lesen sie gerne Gedichte,

immer in der Sprache des Landes, in dem sie gerade leben.

Als auch die italienische Regierung unter Mussolini Juden zu Staatsfeinden erklärt

und ihre Ausreise bis zum März 1939 verlangt,

fliehen sie „in letzter Minute“ über Paris nach England.

Hildes Eltern hatten ein Visum erwirkt und die Ausreise finanziell unterstützt.

Als das Misstrauen und die Repressionen der englischen Behörden gegenüber deutschen Flüchtlingen steigen, entschließen sie sich im Juni 1940 zur erneuten Ausreise und fliehen über Kanada, Jamaika und Kuba in die diktatorisch regierte Dominikanische Republik, wo sie nach einer gefährlichen, fast scheiternden Überfahrt im August 1940 ankommen.

 

Das Paar erlebt die Ambivalenz dieses Exils, diese dritte Station des „Weggehens“, zwischen „Nicht Dankbarsein“ und „Nicht nicht Dankbarsein“.

Zugleich wird dieses Leben am „Rand“,

in einer kleinen Hütte inmitten einer Zuckerrohrplantage,

„eine zweite Heimat“, wie sie es später ausdrückt,

und: „trotz allem, die Menschen, die uns aufnahmen, eine Art zweite Familie“.

Die Eltern fliehen wenig später in die USA, wo der Bruder lebt.

Der Vater verstirbt noch im gleichen Jahr.

Während der Zeit des Exils in der Dominikanischen Republik unterstützt Hilde Palm ihren Mann, der an der Universität in Santo Domingo unterrichtet, mit aufwendigen Übersetzungsarbeiten und einer Ausbildung in Architekturphotographie.

Gemeinsam übersetzen sie spanische Lyrik,

die später unter dem Titel „Rose aus Asche“ erscheint.

Ab 1948 unterrichtet sie Deutsch an dieser Universität.

 

Als nach dem Vater dann 1951 auch die in den USA lebende Mutter stirbt,

ihre letzte Verbindung zu ihrem „ersten Paradies“, will auch sie selbst sterben.

Doch die Heimatlose fängt an zu schreiben, ihre poetische Begabung bricht durch, und wird zur „seelischen Befreiung“.

Sie, „die Sterbende, die gegen das Sterben anschreibt“,

erlebt das als „zweite Geburt“.

 

Ich (…) bin erstaunlich jung. Ich kam erst 1951 auf die Welt.

Weinend, wie jeder in diese Welt kommt.

Es war nicht in Deutschland, obwohl Deutsch meine Muttersprache ist.

Es wurde spanisch gesprochen,

und der Garten vor dem Haus stand voller Kokospalmen. (...)

Meine Eltern waren tot, als ich auf die Welt kam.

Meine Mutter war wenige Wochen zuvor gestorben.

Wie ich, Hilde Domin, die Augen öffnete, die verweinten,

in jenem Hause am Rande der Welt, wo der Pfeffer wächst und der Zucker und die Mangobäume, aber die Rose nur schwer, und Apfel, Weizen, Birken gar nicht,

ich verwaist und vertrieben, da stand ich auf und ging heim, in das Wort. (…)

Von wo ich unvertreibbar bin. Das Wort aber war das deutsche Wort.

Deswegen fuhr ich wieder zurück über das Meer, dahin, wo das Wort lebt.

Seither ist Schreiben für mich wie Atmen: Man stirbt, wenn man es läßt. (6)

 

In kürzester Zeit entsteht eine Fülle von Gedichten.

Im Schreiben verarbeitet die Dichterin ihre Erfahrungen im Exil,

aber auch eine schon länger anhaltende Lebens- und Beziehungskrise.

Im Februar 1954 kehrt das Paar über die USA zurück nach Europa,

zurück nach Deutschland.

Sieben Jahre leben die Palms aus Koffern, in möblierten Wohnungen

in München und Frankfurt, zwischendurch in Spanien und im Tessin.

Mit den ersten veröffentlichten Gedichten wählt Hilde Palm jetzt

– im Anklang an die Dominikanische Republik - den Künstlernamen Domin (7).

Die „neugeborene“ Dichterin ist jetzt 55 Jahre alt

und fasst ihre Erfahrungen unterwegs durch die Welt in anrührende Worte:

 

Ziehende Landschaft

 

Man muß weggehen können

und doch sein wie ein Baum:

als bliebe die Wurzel im Boden,

als zöge die Landschaft und wir ständen fest.

Man muß den Atem anhalten,

bis der Wind nachläßt

und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,

bis das Spiel von Licht und Schatten,

von Grün und Blau,

die alten Muster zeigt

und wir zuhause sind,

wo es auch sei,

und niedersitzen können und uns anlehnen,

als sei es an das Grab

unserer Mutter. (8)

 

Die literarischen Kontakte in Spanien und Deutschland weiten sich aus.

1959 erscheint ihr erster Gedichtband „Nur eine Rose als Stütze“.

Da der S. Fischer Verlag vermeiden wollte,

Texte einer über 50 Jahre alten Autorin zu veröffentlichen,

leiht sich Hilde Domin das Geburtsjahr 1912 von ihrem jüngeren Bruder Johnny aus, der ebenfalls den Krieg überlebt hat –

und der ihr diese „Mogelei“ allerdings übelgenommen hat.

 

Das unstete Leben hat für das Paar ein Ende,

als es 1961 in eine Wohnung in Heidelberg ziehen kann,

wo Erich Walter Palm 1960 an der Universität

eine Professur für ibero-amerikanische Kunstgeschichte angenommen hat.

Für Hilde Domin beginnt nun eine intensive Vortrags- und Lesetätigkeit –

auch in Gefängnissen, Schulen und Kirchen -,

die sie bis unmittelbar vor ihrem Tod beibehält.

Aus meiner Zeit als Gemeindepfarrer in Leverkusen ist mir besonders in Erinnerung:

ihr unvermindert aktueller „Ratschlag (nicht nur) für Abiturienten“ (9)

an Schülerinnen und Schüler eines benachbarten Gymnasiums.

 

Vermehrt den Haß nicht. Vermehrt die Angst nicht.

Geht auf Distanz zu Euch selbst, zu Eurer Angst. (…)

In dieser Distanz ist die Möglichkeit zur Freiheit. (…)

Gebt dem andern die Chance: er hat soviel Angst vor Euch wie Ihr vor ihm. (…) Vertrauen ist das Schlüsselwort. >Vertrauen, dieses schwerste ABC<.

Buchstabiert es täglich neu. (…)

Verzicht ist das Gebot dieser historischen Stunde. Verzicht auf den eigenen Vorteil. Verzicht darauf, immer und überall >in< sein zu müssen. Verzicht macht frei. –

Verzicht auch auf die Benutzung der Sprachklischees, die die Wirklichkeit verdecken (…). Bereit sein für die Augenblicke, wo die Zeit still steht. In denen der Mensch er selbst ist. Ganz er selbst, nur dann ist er auch fähig, eins zu werden mit dem andern. (…). Ich plädiere hier für eine bescheidene, ungeschützte Art von Emanzipation: ohne Rückzugslinien. Als einziges Credo die menschliche Solidarität. Niemand im Stich lassen, der Euch vertraut (…) ohne Öffentlichkeit und ohne Lohn.

Das Wunder, das konkrete, kleine Wunder, wartet immer um die nächste Ecke für den, der es wahrnehmen mag.

 

Von jungen Leuten gefragt nach möglichen eigenen Kindern,

antwortet sie in unterschiedlichen Variationen.

So zum Beispiel:

Wenn man mit einer Giftkapsel in der Tasche

durch die halbe Welt auf der Flucht ist vor den Nazis,

dann kriegt man keine Kinder, auch wenn man seine große Liebe gefunden hat.

Aber sie habe ja viele Kinder. Jedes Gedicht sei ein Kind von ihr.

 

Hilde Domin, zunächst Mitglied des PEN (1964), dann unter anderem

Rainer-Maria-Rilke-(1976) und später Nelly-Sachs-(1983) -Preisträgerin,

wird 1978 in die deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen.

1987/1988 erhält sie die prominente Stiftungsgastdozentur für Poetik

an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main,

als vierte Frau nach Ingeborg Bachmann, Marie-Luise Kaschnitz und Christa Wolf.

 

Das Gedicht als Augenblick von Freiheit nenne ich die geplante Reihe meiner

Vorlesungen. (…) Das Gedicht als Augenblick von Freiheit. Sollte ich sagen

»Augenblick der Befreiung«? Da war ich zunächst im Zweifel. Doch schon schien

mir, im Zusammenhang mit Augenblick, der Zustand besser als die Bewegung auf

ihn hin. Denn es geht mir ja um das Erreichen dieses Zustands, und wenn er da ist,

dann hört alles andere auf. Vor allem die Zeit. (10)

 

Nach dem Tod der Mutter 1951 und der damit verbundenen „zweiten Geburt“

prägt ihren Lebensabend ein zweiter Abschied, am 7. Juli 1988 stirbt nach zwei Herzinfarkten ihr Mann, Erwin Walter Palm, den sie lange gepflegt hat.

Hilde Domin sucht für sie beide ein Grab auf dem Heidelberger Bergfriedhof aus. Einen Tag nach dem Setzen des Grabsteins

wird das Grab von Neonazis beschmiert.

Trotz alledem mag sie sich an eines ihrer „Lieder zur Ermutigung“ (11) erinnert haben, das „dennoch“ auf Vertrauen setzt, und sein „Dennoch“ festmacht

an den biblischen Bildern der Taube und des neuen Jerusalem:

 

 

Lieder zur Ermutigung

 

(I)

Unsere Kissen sind naß

von den Tränen

verstörter Träume.

 

Aber wieder steigt

aus unseren leeren

hilflosen Händen

die Taube auf.

 

(II)

Lange wurdest du um die türelosen

Mauern der Stadt gejagt.

 

Du fliehst und streust

die verwirrten Namen der Dinge

hinter dich.

 

Vertrauen, dieses schwerste

A B C.

 

Ich mache ein kleines Zeichen

in die Luft,

unsichtbar,

wo die neue Stadt beginnt,

Jerusalem,

die goldene,

aus Nichts.

 

Im Spiegel ihrer Lyrik zeigt sich:

Hilde Domin will sich ihren Lebensmut nicht nehmen lassen,

der sich eng mit ihrem Leben als Schriftstellerin verbindet.

So antwortet sie in einem Interview 1986:

 

„Ein Schriftsteller braucht drei Arten von Mut.

Den, er selber zu sein.

Den Mut, nichts umzulügen, die Dinge beim Namen zu nennen.

Und drittens den, an die Anrufbarkeit der anderen zu glauben.“

 

Das hatte die Dichterin schon viele Jahr zuvor

wieder mit einem biblischen Bild ausgestaltet,

„salva nos ex ore leonis“, „rette uns aus dem Rachen des Löwen“.

 

 

Salva nos 2

 

Dies ist unsere Freiheit

die richtigen Namen nennend

furchtlos

mit der kleinen Stimme

 

einander rufend

mit der kleinen Stimme

das Verschlingende beim Namen nennen

mit nichts als unserm Atem

 

salva nos ex ore leonis

den Rachen offen halten

in dem zu wohnen

nicht unsere Wahl ist.

 

Die letzten Lebensjahre sind von vielen Auszeichnungen und Ehrungen geprägt:

1992 wird Hilde Domin – nach ihrem veröffentlichten Geburtsjahr – 80 Jahre alt

und erhält u.a. den Friedrich-Hölderlin-Preis

und den von der Stadt Heidelberg neu ausgelobten Preis für „Literatur im Exil“,

der nach ihrem Tod in „Hilde-Domin-Preis“ umbenannt wird.

 

Erst 1999 zu ihrem 90. Geburtstag gibt sie ihr wirkliches Geburtsjahr bekannt,

zum 95. Geburtstag 2004 wird sie Ehrenbürgerin der Stadt Heidelberg

und erhält die höchste Auszeichnung der Dominikanischen Republik.

 

Noch bis ins hohe Alter ist sie auf Lesereisen unterwegs,

so erlebe ich sie zuletzt noch in meiner Heimatstadt Bochum bei einer Lesung,

wo sie – wie üblich – alle Gedichte zweimal vorträgt,

damit der Text zum Text der Zuhörerinnen werden kann…

und natürlich liest sie zum Abschluss - wie immer –

das bekannte Gedicht „Abel, steh auf“ (13) –

als ihr „letztes Wort, nicht nur heute“.

Es steht für den „immer möglichen Neuanfang, die zweite Chance“.

Von der Dichterin selbst gelesen klingt es so:

 

Abel, steh auf

 

Abel steh auf

es muß neu gespielt werden

täglich muß es neu gespielt werden

täglich muß die Antwort noch vor uns sein

die Antwort muß ja sein können

Wenn du nicht aufstehst Abel

wie soll die Antwort

diese einzig wichtige Antwort

sich je verändern

wir können alle Kirchen schließen

und alle Gesetzbücher abschaffen

in allen Sprachen der Erde

wenn du nur aufstehst

und es rückgängig machst

die erste falsche Antwort

auf die einzige Frage

auf die es ankommt

steh auf

damit Kain sagt

damit er es sagen kann

Ich bin dein Hüter

Bruder

wie sollte ich nicht dein Hüter sein

Täglich steh auf

damit wir es vor uns haben

dies Ja ich bin hier

ich

dein Bruder

 

Damit die Kinder Abels

sich nicht mehr fürchten

weil Kain nicht Kain wird

Ich schreibe dies

ich ein Kind Abels

und fürchte mich täglich

vor der Antwort

die Luft in meiner Lunge wird weniger

wie ich auf die Antwort warte

 

Abel steh auf

damit es anders anfängt

zwischen uns allen.

 

Am 22. Februar 2006 stirbt Hilde Domin

nach einem Sturz bei Glatteis in der Heidelberger Innenstadt.

Die Trauerfeier findet am 4. März in der Universitätskirche statt,

denn die Dichterin war der Peterskirche, der ältesten Kirche Heidelbergs,

sehr verbunden, konnte sie doch von ihrer Wohnung aus

auf den Kirchturm schauen und bis ins hohe Alter

an vielen Konzerten und Universitätsgottesdiensten teilnehmen. -

Als der Sarg aus der Kirche getragen wird …

da erinnern die „Chants d‘Oiseaux“ von Olivier Messiaen

nicht nur an den wundervollen Gesang der Vögel,

sondern zugleich auch an eines der bekanntesten Gedichte von Hilde Domin (14):

 

Nicht müde werden

 

Nicht müde werden

sondern dem Wunder

leise

wie einem Vogel

die Hand hinhalten.

 

Hilde Domin wird auf dem Heidelberger Bergfriedhof neben ihrem Mann beigesetzt. Unermüdliches Vertrauen, das leise ist und stark, spricht aus den Zeilen,

die die Dichterin für ihren Grabstein ausgesucht hat:

„Wir setzten den Fuß in die Luft/ und sie trug“.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Du hast uns Herr gerufen, Steffen-Peschel-Trio
  2. Such wer da will ein ander Ziel, Steffen-Peschel-Trio
  3. Ich bin getauft auf deinen Namen, Steffen-Peschel-Trio
  4. Lass mich dein sein und bleiben, Steffen-Peschel-Trio
  5. Ich weiß, woran ich glaube, Steffen-Peschel-Trio
  6. Geh aus, mein Herz, Steffen-Peschel-Trio


 

Anmerkungen:

(1)     Literarische Ansichts-Karte 55, Gerhard C. Krischker, Kleebaum-Verlag, Bamberg.

 

(2)     Domin: Wer es könnte (1963) (Aus: Hier, 32/ Ausgewählte Gedichte. Frankfurt am Main 2000, 264)

 

(3)     Hintergrund und Konzept der missa poetica für Köln 2007 sind dokumentiert (Gesamtdauer ca. 120 min) in: Günter Ruddat: Die Welt hochwerfen. Missa poetica – ein literarischer Gottesdienst. In memoriam Hilde Domin (1909-2006). In: Marion Keuchen/ Helga Kuhlmann/ Martin Leutzsch (Hg): Musik in Religion – Religion in Musik. POPKULT Bd. 10 (Festschrift für Harald Schroeter-Wittke zum 50. Geburtstag), Garamond Verlag, Edition Treskeia, Jena 2013, 373-406. Der erste Teil dieses Beitrags führt die Vorstellung dieser neuen Gottesdienstform weiter, vgl. G. Ruddat: Wohin denn wir - Missa poetica. Dokumentation einer neuen Gottesdienstform. In: Johannes Block/ Irene Mildenberger (Hg.): Herausforderung missionarischer Gottesdienst. Liturgie kommt zur Welt. Wolfgang Ratzmann zum 60. Geburtstag. (Beiträge zu Liturgie und Spiritualität, Band 19), Leipzig 2007, 57-75. Im Wesentlichen gemeinsam mit Vera-Sabine Winkler projektiert und von Katharina von Bremen und Maike Neumann entfaltet. Das Steffen-Peschel-Trio übernahm die musikalische Gestaltung mit Jazz-Improvisationen zu Kirchenliedern aus dem EG. Als Zeitzeugin und Sprecherin hatten wir Marion Tauschwitz, ihre Vertraute und Begleiterin in den letzten Lebensjahren und spätere Biographin, gewinnen können. Vgl. Marion Tauschwitz: Hilde Domin - Dass ich sein kann, wie ich bin. Die Biografie. Überarbeitete Neuauflage Springe 2015 (zuerst: Heidelberg 2009).

 

(4)     Domin: In Köln in der Riehler Straße (Aus: Leben als Sprachodyssee, 32-40, in: Gesammelte autobiographische Schriften. Fast ein Lebenslauf, Frankfurt am Main 1998, 32). Das Essay geht zurück auf einen Vortrag, den sie 1979 bei der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gehalten hat.

 

(5)     Domin: Köln (2.1.1963) (Aus: Hier, 20/ Ausgewählte Gedichte. Frankfurt am Main 2000, 243).

 

(6)     Domin: Ich, Hilde Domin (Aus: Unter Akrobaten und Vögeln. Fast ein Lebenslauf, 21-31, 1962, in: Gesammelte autobiographische Schriften. Fast ein Lebenslauf, Frankfurt am Main 1998, 21 ff., gekürzt).

 

(7)     Den Namenswechsel thematisiert das Gedicht Landen dürfen. Vgl. Vera-Sabine Winkler: Leise Bekenntnisse. Die Bedeutung der Poesie für die Sprache der Liturgie am Beispiel von Hilde Domin (Theologie und Literatur 22), Grünewald/ Schwaben, Ostfildern 2009, 2. Aufl. 2011, dort 437-438).

 

(8)     Domin: Ziehende Landschaft (Aus: Nur eine Rose, 9/ Ausgewählte Gedichte. Frankfurt am Main 2000, 13).

 

(9)     Domin: Ratschlag (nicht nur) für Abiturienten. (Antwort auf eine Rundfrage der Freiherr-von-Stein-Schule, Leverkusen, Januar 1982, in: Gesammelte Essays. Heimat in der Sprache, Frankfurt am Main 1993, 254-255).

 

(10)    Domin: Das Gedicht als Augenblick von Freiheit. Frankfurter Poetik-Vorlesungen 1987/88, Frankfurt am Main 1993, 7f. und 51f.

 

(11)    Domin: Lieder zur Ermutigung (1960) (Aus: Rückkehr der Schiffe, 59-61/ Ausgewählte Gedichte. Frankfurt am Main 2000, 221-223).

 

(12)    Domin: Salva nos II (1959) (Aus: Hier, 17/ Ausgewählte Gedichte. Frankfurt am Main 2000, 240).

 

(13)    O-Ton: CD Hilde Domin: Dieser weite Flügel. Gedichte. Gelesen von Hilde Domin. Frankfurt am Main 1999, Track 23: Abel, steh auf (Aus: Ausgewählte Gedichte; Frankfurt am Main 2000, 364-365). Vgl. zu diesem Text auch meine Sendung: Das Recht, ein anderer zu werden. Zum Tag des Friedens... im Gespräch mit Kain und Abel. „Am Sonntagmorgen“. Deutschlandfunk DLF, 31. August 2014.

 

Dieses berühmte Gedicht erscheint in dem Band „Ich will dich“ (1970, 28) und nimmt in seinem „Nachgedicht“ Bezug auf die erste bemannte Mondlandung 1969, kurz vor Hilde Domins 60. Geburtstag.

 

(Nachgedicht)

 

Die Feuer die brennen

das Feuer das brennt auf der Erde

soll das Feuer von Abel sein

und am Schwanz der Raketen

sollen die Feuer von Abel sein

 

(14)    Domin: Nicht müde werden (Aus: Hier, 60/ Ausgewählte Gedichte. Frankfurt am Main 2000, 294). Hilde Domin war bekannt, dass ihr Gedicht „‚von der katholischen Kirche als Viaticum‛“ - also als Weggeleit für die Sterbenden – verwendet wird. Vgl. den Hinweis bei Ilka Scheidgen: Hilde Domin. Dichterin des Dennoch. Biografie. Lahr 2006, 216. Das Gedicht ist in dieser bekannten Version 1964 in Heidelberg entstanden. Es war Teil der letzten Strophe des 1958 verfassten Gedichts „Wahl“, das erstmals 1990 in einem Gedichtband Hilde Domins veröffentlicht wurde (Der Baum blüht trotzdem, 12-13.) Auch als Faksimile mit der Handschrift Domins: „Literarische Ansichts-Karte 105“, Gerhard C. Krischker, Kleebaum-Verlag, Bamberg.

13.06.2019
Günter Ruddat